Altes Neues aus den Anstalten
Stellen Sie sich vor, dass Sie etwa zehnmal jährlich Ihre Stammkneipe besuchen, wo es eine schöne Auswahl an Essen gibt. Besonders auf Eisbein versteht sich der Koch, aber er bietet außer dem notorischen Schweineteil mit Sauerkraut und Püree noch andere delikate Gerichte, dazu knackiges Gemüse, frischen Salat und Desserts an. Es gibt guten Wein. Ihnen wird niemals langweilig; Sie probieren fast jedes Gericht, das Eisbein sogar zweimal im Jahr.
Nun etabliert sich nebenan ein Spezialist für billiges Eisbein. Dort gibt es schlaffen Salat, verkochtes Gemüse und zum Dessert überteuertes Eis aus der Kühltruhe. Das Eisbein ist zwar okay, aber Sie gehen da nicht hin.
Der Wirt Ihrer Stammkneipe hat nun ein kleines Problem: er muss von Zeit zu Zeit seine Preise erhöhen, denn sein Personal wird nach Tarifen bezahlt, die er nicht kündigen kann. Er kann auch niemanden hinauswerfen. Der Nachbar dagegen ist bei der Gestaltung seiner Betriebswirtschaft völlig frei, außerdem verschafft ihm eine mächtige Brauerei als Sponsor finanzielle Vorteile. Die billigen Preise ziehen eine Menge Kundschaft zu den Eisbeinen, er verkauft seinen ganzen billigen Ramsch, einschließlich 0815- Eis, weil die meisten Leute zu faul sind, nur für ein Dessert das Lokal zu wechseln. Der Laden beginnt zu brummen.
Einige Eisbein- Esser werden der Stammkneipe untreu. Der Wirt könnte nun sagen: lassen wir das Eisbein ganz, konzentrieren wir uns auf andere Attraktionen, um Gäste hinzuzugewinnen. Darüber gäbe es einerseits Streit mit dem Koch, andererseits wäre fraglich, ob der mögliche Zugewinn mit Neuerungen den Verlust der ziemlich großen Eisbein- Klientel ersetzen würde. Der Wirt fragt einen anerkannten Unternehmensberater.
Von nun an werden Daten erhoben. Es kommt heraus, dass das Eisbein unmöglich aufgegeben werden kann. Die Lösung des Beraters: wir machen das Eisbein billig und gleichen den Verlust durch Streichen der selten nachgefragten Gerichte aus. Das bringt Ersparnis, so geschieht es. Ein paar Eisbeinesser kommen zurück. Das Nachbargeschäft floriert inzwischen aber noch mehr; der Konkurrent kann es sich leisten, das Sauerkraut von einem Dutzend sehr leicht bekleideter Mädchen flambieren zu lassen. Ein Bombenerfolg.
Ihr Wirt muss reagieren. Die untrügliche, wissenschaftlich fundierte Statistik sagt, dass der Erfolg des Konkurrenten vor allem beim männlichen Publikum erzielt wurde. Man möge doch nun, meint der Berater, sich stärker der weiblichen Eisbein- Klientel zuwenden, etwa durch Auslegen eines großen Sortiments an Boulevard- Zeitschriften. Das sei gemäß mehrfach erhärteter Umfragen in Friseursalons ein absoluter Bringer. Die befragten Frauen hätten zu 90% mit Ja auf die Frage geantwortet, ob das Vorhandensein der Klatschblätter ihren Aufenthalt begünstige.
Die Zeitschriften werden gekauft, das Dessertangebot wird dafür eingeschränkt; schließlich muss auch der Berater samt seinem wissenschaftlichen Personal bezahlt werden. Nur flambiertes Eis in verschiedenen Variationen bleibt im Programm. Auch beim Gemüse gibt es Einschränkungen; es kommt dem Wirt zupass, dass die Köchin mit dem besonderen Händchen für frische Kräuter und Gemüse sowieso gerade in Rente geht. Die Stelle wird nicht wieder besetzt, eine Aushilfe kümmert sich fortan um die Beilagen…
Sie stellen eines Tages fest, dass Ihnen Ihre Stammkneipe zu teuer wird, zumal sich das Angebot kaum noch von dem bunten Schuppen nebenan unterscheidet. Sie mögen dort nicht mehr hingehen.
Die Geschichte können Sie selber weiter spinnen: von den sich epidemisch ausbreitenden bunten Schuppen für Billigeisbeine über die Porschesammlung des Unternehmensberaters, die Pleite Ihres einstigen Stammlokals, dessen Wirt leider nicht den Mut zu wirklich eigenem Profil hatte, bis zu dem Eingeständnis, dass Sie selbst, nun ja, ab und zu noch ein Eisbein essen gehen. Gottlob gestattet Ihnen Ihr Einkommen den Besuch eines teuren Restaurants, wo wirklich exzellent gekocht wird. Es gibt frisches Gemüse und sagenhafte Desserts, sogar den Intendanten des Fernsehsenders haben sie schon dort gesehen.
Und nun machen Sie sich ruhig einmal die Mühe, in Ihrer Programmzeitschrift (falls Sie so etwas haben) die sogenannte „Prime Time“- Leiste von ca. 19 bis 23 Uhr hinsichtlich der Inhalte auszuwerten. Wieviel Sport (Fußball!), Unterhaltungsmusik, Serien und Filme mit Kriminalfällen oder seichten Storys finden Sie dort bei den Hauptsendern? Wieviel Boulevard? Wie sehr unterscheiden sich die Nachrichtenformate nach den Inhalten? Was bleibt übrig, wovon sie mit Überzeugung sagen könnten: das ist eine wirklich frische Sendung mit originellen Gedanken und mutigem Standpunkt, die mich überrascht und mir zu denken gibt?
Dank der „Medienforschung“ ist die „kulturelle Grundversorgung“ des gebührenfinanzierten Rundfunks heute vom Angebot der billigen bunten Buden nebenan nicht mehr zu unterscheiden. Klar: manche Buden sind besser geworden. Aber die Selektion nach rein quantitativen Erfolgswerten – eben den Quoten – hinterlässt eine Monokultur mit all den von anderen Monokulturen hinreichend bekannten tödlichen Gefahren.
Sie können sagen: das ist mir wurst, denn ich sehe sowieso kaum fern und verschwende meine Zeit auch nicht an öde Dauerdudelprogramme im Radio. Das Zeug ist halt für Mehrheiten, die mit Ewiggleichem versorgt werden wollen, wie mit ihrer gewohnten Biermarke zum Eisbein, und ich schere mich höchstens um das, was mich besonders interessiert.
In diesem Fall sind Sie wirklich in einer Situation privilegierter Selbständigkeit, allerdings könnte es Ihnen manchmal schwer fallen, sich Gesprächen Ihrer Mitmenschen anzuschließen.
Sie können sagen: mir ist das Programm ganz recht, weil ich vorm Fernseher oder Radio entspannen und nicht meine Konzentration zusätzlich beanspruchen will. Mein Leben ist von der Arbeitswelt so strapaziert und ausgepowert, dass ich zusätzliche Anforderungen an Konzentration und Lernfähigkeit nicht ertrage.
Im letzteren Fall hoffen Sie vermutlich auf Ihre baldige Berentung oder sie fürchten, Ihre Anstellung zu verlieren. Oder beides. Oder Sie leben schon von staatlicher Fürsorge. Ihre Fernsehgewohnheiten dürfen sie dann ruhig beibehalten. Sie müssen nur mit der Einschätzung der fürsorglichen Programmverwalter und Medienforscher leben, dass es zu mehr bei Ihnen eben einfach nicht reicht und dass Sie eine höhere intellektuelle Qualität des Programms gar nicht wollen.
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