Am Braunschweiger Bahnhof drängt mir ein junges Ding ein Gratisexemplar der „Zeit“ auf. 98% Altpapier, Werbung inklusive, die 2 %, die zu lesen lohnt, sind ein Interview mit Imre Kertesz, der Canetti liest und Camus, der sich mit 88 als Clown der Holocaustindustrie sieht und auf seinen Abschied wartet.
Was soll einem helfen, wenn nicht die wenigen Großen, die sich mit ihren Arbeiten selbst erlösten?
Der Journalismus ist das moderne Proletariat, allerdings genießt es die Ketten der Verblödung und will sie nicht eher verlieren, als das letzte Idiotenblättchen pleite ist.
Die Bahn möchte gern „lernende Organisation“ werden – den Begriff hörte ich erstmals vom Psychologen Lutz von Rosenstiel, es war 1990 oder so, und sein Seminar beschrieb den Untergang aller nicht lernenden Organisationen ziemlich präzise: Sie waren wie dä DäDäÄrr aufgestellt. Seltsam daran: die einstige, in meiner Erinnerung relativ funktionstüchtige Bundesbahn hat sich immer mehr den Verhältnissen der Reichsbahn unseligen Angedenkens angenähert. Besonders erinnerungsstark wirkt hier das in den ICE ausliegende Blättchen zur sozialverträglichen Einschläferung jeglichen kritischen Sachverstandes: die Schreiberlinge und Fotografen von „Mobil“ finden noch den letzten Scheißdreck großartig. Es ist der Osten: vor jeder Sorte „Prominenz“ auf dicker Schleimspur rutschen und Leuten den Mond als Schweizerkäse verkaufen.
Aber ich komme nach Hause, ohne auf die Autobahn starren zu müssen. Stattdessen kann ich aufschreiben, was keiner lesen will: Nichts bleibt, wie es ist, aber „Es geht seinen Gang“
Und deshalb ist Erich Loest mit 86 aus einem Krankenhausfenster in den Tod gesprungen.
Die „Zeit“ werden sie auch weiter wie sauer Bier anbieten, aber mir ist die Zeit für Wartezimmerlektüre zu knapp.
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