Ja. Das ist die Frage. Wieso hat die Omma nicht einfach Erwins Geschenk akzeptiert als – noch so vorübergehenden – Ausdruck seiner Güte? Als Beweis dafür, dass doch in jedem Menschen ein guter Kern steckt?
Sie wollte in puncto Güte das letzte Wort haben. Sie war ziemlich aristokratisch. Die Omma. Sie war ein leuchtendes Beispiel, wie sich aristokratische Haltung auch noch unter erbärmlichsten Umständen zu behaupten versucht. Wir waren fast mittellos, selbst auf die Gnade der Verwandtschaft im Westen angewiesen. Aber ein Geschenk von einem Proleten – ausgeschlossen!
Da ist natürlich was dran. Und natürlich hat Erwins Instinkt ihm genau diese Deutung eingegeben. Es war also nix mit Weihnachtsfriede, Weihnachtsfreude, Weihnachtswunder. Erwin grüßte bis Neujahr nicht einmal mehr. Die Art, wie die Omma auf den geschenkten Baum reagierte, empfand er als gnädige Herablassung, als arrogant. Er hatte eben auch seinen Stolz. Die Hüllers blieben uns, die wir der verabscheuungswürdigen Klasse der Hausbesitzer angehörten, also weiterhin, bis zu ihrem Auszug kurz vor dem Abriss des alten Hauses, spinnefeind, trotz der Westschokolade und der für damalige Verhältnisse exorbitanten Zahlung von zehn Mark für eine – höchst wahrscheinlich geklaute – Fichte.
Das leuchtet doch auch ein – oder?
Die Omma hatte ihre eigene Logik: „Wenn ich einen geklauten Baum bezahle, ohne zu fragen, bin ich vielleicht dämlich. Nehme ich ihn als Geschenk, mache ich mich dem Dieb zum Kumpan. Das möchte Erwin vielleicht, aber ich möchte das nicht. Basta.“ So durfte jeder seine Vorurteile behalten. Auf unsere Omma könnte man den alten Spruch münzen: „Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz“: Zehn Mark und zwei Tafeln echte Schokolade für eine Krücke von einem Christbaum.
Hm. Mir wäre auch die Schokolade lieber gewesen. Ein Weihnachtsfriede mit Erwin Hüller hätte sowieso kaum bis Neujahr gedauert.
Das wusste die Omma natürlich auch. Nicht, dass sie keinen Frieden gewollt hätte.
Im Gegenteil. Sie hasste Zank und Streit. Sie litt körperlich, wenn sie mit ihrer Tochter oder einem von uns aneinandergeriet. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn nicht Lilo die Tür geöffnet hätte sondern Erwin. Er hätte das Geld womöglich zurückgewiesen. Was dann?
Vielleicht hätte die Omma Hüllers die nächste Miete erlassen. Zwölf Mark. Die Schokolade hätte sie heimlich den Kindern zugesteckt.
Wenn wir was übrig gelassen hätten.
Es war nicht allein der reichere Gabentisch, der uns von den Hüllers trennte.
Wären da nicht die Pakete aus dem Westen gewesen… Ohne sie hätte das Christkind uns freilich nicht viel mehr und anderes bescheren können als Sigi und seinen Geschwistern.