Soweit der Film. Er hatte kein Happy End. Die Schneekönigin war so schnell verschwunden wie sie erschienen war, hatte nur „Tschüss, Kleena, war schön mit dir“, gesagt, mich im Davonschweben geküsst – und mit einem Traum zurückgelassen, dem ich mich nun mit Whisky und Pfeife neben dem Telefon nach über dreißig Jahren wieder hingebe. Es ist längst nach elf. Sollte ich nicht froh sein, wenn es keinen Anruf mehr gäbe? Was erwarte ich? Dass die Schöne von damals dem, was neudeutsch „one-night-stand“ heißt, doch mehr abgewinnen kann in ihrer Erinnerung? Das Telefon ertönt.
„Ja?“
„Entschuldige, es ist spät, hast du noch Zeit für mich?“
„Ja.“
„Du fragst dich bestimmt, was das soll – oder?“
„Vermutlich war es wichtig genug, mich nach über dreißig Jahren ausfindig zu machen. Auf Langeweile würde ich nicht tippen.“ Da ist es wieder, dieses rauchige Lachen.
„Eine alte Freundin hat mich auf deine Spur gebracht. Sie ist in Stuttgart am Staatstheater.“ Ich weiß, wen sie meint, aber ich halte mich bedeckt.
„Aha.“
„Ich habe einiges von dir im Internet gefunden und mir gedacht, dass du mir, eigentlich uns, also meiner Familie, vielleicht helfen könntest. Natürlich nur, wenn du willst.“
„Worum geht es?“
„Weißt du noch, damals…“
„Ich hab‘s nicht vergessen.“ Schon wieder eine viel zu schnelle Antwort. Wie kann einer nur so behext sein nach über dreißig Jahren? Natürlich nur, weil es über dreißig Jahre sind und weil nicht mehr als ein Traum davon übrig blieb. Hätte sie mich anstelle des Zahnarztes geheiratet, wären alle Zauberkräfte vom Alltag aufgelöst wie Eis im Whisky. „Prost“, sage ich.
„Oh, was trinkst du?“
„Whisky.“
„Ich hole mir auch einen, nein, lieber ein Glas Sekt – wegen der Erinnerung.“ Was ist das für ein Spiel? Ich sollte langsam etwas Distanz zeigen, statt mich in Gefühle verwickeln zu lassen, die völlig einseitig waren.
„Prost Meteorologe. Das bist du doch – wie Kachelmann, oder? Sagt zumindest das Internet.“
„Ich bin Rentner, weder so berühmt noch so vermögend wie Kachelmann. Prost.“ Endlich etwas Abstand!
„Ja? Aber bestimmt auch nicht mehr so‘n armer Schlucker wie damals. Ein Single Malt muss schon sein. Ich trinke übrigens einen Taittinger. Nix mehr mit Rotkäppchen.“ Das folgende Kichern deutet darauf hin, dass es nicht ihr erstes Glas ist. „Uns geht‘s gut. Auf deine Gesundheit!“
„Auf deine. Was kann ich für dich tun?“ Endlich lösen sich die Zauberschnüre ein wenig. Mit Alkohol kann ich umgehen.

Alters Freuden
„Meine Güte, du bist aber nüchtern drauf. So kenne ich dich gar nicht. Vielleicht wollte ich einfach nur ein bisschen plaudern. Über alte Zeiten, das WC… Damals warst du sehr romantisch, gar nicht wie‘n Wissenschaftler. Eher wie Kachelmann.“ Auf das rauchige Lachen hin ertüchtige ich meine Phantasie, mir eine überschminkte Sechzigerin mit vielen Falten vorzustellen, sie dreht ein Sektglas zwischen manikürten, lackierten Krallen, mindestens einem Brillantring daran, auf dem Handrücken sind Altersflecken, die Haut ledrig. Hat sie Tränensäcke vom Trinken, schlimmer: vom Chirurgen zur Reglosigkeit gestraffte Züge? Das Alter kennt unbarmherzige Fingerzeige, Männer merken sowas beim Rasieren: all die Schrunden, Flecken, Male. Ein alter Freund hat wegen eines Hautkrebses die Nase eingebüßt, lebt mit einer Silikonprothese. Schon erscheint vorm geistigen Auge eine Greisin mit gepuderter Kunstnase. Claire Zachanassian fällt mir ein, Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, die Rache der reichen, nur noch von Prothesen zusammengehaltenen Witwe an dem treulosen Geliebten ihrer Jugend. Möchte ich dieser Heike gern heimzahlen, dass sie mir vor dreißig Jahren leichthin den Laufpass gab?
„Romantik ist schön. Leider nicht alltagstauglich. Aber wem sage ich das.“ Es bleibt still in der Leitung. Habe ich es zu weit getrieben? Plötzlich merke ich, wie sehr ich fürchte, sie könnte das Gespräch beenden. Erleichtert höre ich sie sich räuspern.
„Verstehe. Du bist immer noch beleidigt. Mag sein, dass du dir einfach falsche Hoffnungen gemacht hast. Du bist nicht der Einzige. Soll ich deshalb Schuldgefühle haben? Denk einfach mal nach. Falls du wissen willst, wie ich darüber denke, könnten wir uns irgendwo treffen. Am Telefon mag ich das nicht erörtern. Meine Nummer hast du?“
„Sie ist im Speicher.“
„Gut. Ruf am besten abends nach zehn an. Oder schicke eine sms mit einem Vorschlag – nicht an Wochenenden. Du müsstest nach Pforzheim kommen. Ciao, schlaf gut.“
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