Keine vierzehn Tage später drücke ich einen Klingelknopf aus Edelstahl, glotze in eine Kamera, eine Eisentür in Rost-Design öffnet sich in der mannshohen Hecke auf einen von Rosen gesäumten, glasüberdachten Parkweg. Auf der obersten von fünf Stufen zum Eingang eines Palastes, ganz aus Kristall, steht die Schneekönigin und winkt. Die späte Sonne beleuchtet ihr Haar, ein langes himmelblaues Kleid aus Chiffon umspielt die Traumfigur. Sie kommt auf mich zu. Ich umklammere das Bukett, die Papierhülle habe ich an der Bushaltestelle entsorgt. Ich bin ohne Auto gekommen, weil einerseits meine Augen ziemlich schlecht geworden sind, ich mich andererseits heute betrinken will. Wenn nicht bei der Gastgeberin, dann hinterher in irgendeiner Kneipe. Noch bin ich stocknüchtern wie selten, seit meine Frau gestorben ist.
„Guten Tag, Leo.“ Der Strauß landet in der ausgestreckten Hand. „Oh wie schön. Das wäre doch nicht…“ Wir lachen beide los. Die Distanz ist wieder weg. Sie umarmt mich und küsst mich auf beide Wangen. „Komm rein, Kachelmann, du kannst offenbar Wetter nach Wunsch machen.“ Hinter mir schließt sich lautlos die Glastür, innen ist Park wie außen, nur das Allerheiligste liegt hinter hohen Wänden aus kostbarem Holz.
„Nettes Anwesen.“ Ironie ist der Strohhalm des Romantikers. Sie strahlt mich an.
„Nicht wahr? Schön, dass es dir gefällt. Joshua ist Architekt – und er baut die tollsten Sachen. Sogar in China.“
„Donnerwetter. Das Rosttor ist wohl Tarnung?“
„Es hat eine Geschichte – in unserem Alter haben fast alle Sachen ihre Geschichte. Joshua würde nichts um sich, um uns herum dulden, was nicht mit unserer Geschichte zusammenhinge. Irgendwelche gekauften Antiquitäten zum Beispiel. Sowas ist für Parvenüs.“
„Guter Standpunkt. Nur nicht für Antiquitätenhändler.“ Ihr Lachen antwortet aus einem Korallenmund ohne eine Spur von Altersfältchen drumherum. Sie muss jetzt 55 sein, aber außer Krähenfüßen an den Augen und unvermeidlichen Furchen auf der Stirn, zwischen Mund und Nase, ist ihr Gesicht jugendlich geblieben. Kein plastischer Chirurg hat geschönt: Es ist umwerfend. Es wirft mich um. Unsere Augen treffen sich – der Moment ist zu kurz.
„Ich dachte mir, dass du es genauso siehst. Und deshalb habe ich dich angerufen. Aber davon später. Was darf ich dir anbieten?“
„Alkohol. Damit komme ich gut zurecht.“ Sie wirkt nicht irritiert. Stattdessen nimmt sie meine Hand, was einen Stromschlag von 100 000 Volt auslöst. Sie zieht mich um eine Ecke des Edelholzturms in eine Halle mit wenigen Ledersesseln, draußen blühen Rosen und ein Tulpenbaum, Solitär zwischen Eichen, Koniferen, darunter eine Libanonzeder und eine Sequoia, vermutlich wird sie die Villa aus Glas um einige Jahrhunderte überdauern, wenn man sie lässt. Bäume und Menschen. Liebe und Leben. ‚Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer‘. Erich Kästners melancholischer August ist in meinem Kopf. Eine Sternschnuppe zwischen Händen. ‚Dann wünsche deinen Wunsch: Doch gib gut Acht…‘ Ihre Hand löst sich.
„Whisky?“
„Fangen wir lieber mit Sekt an. Es ist erst Juni, noch nicht August. ‚Aus Gras wird Heu, aus Obst Kompott, aus Kälbern werden Rinder, und – weil ‘s zur Jahreszeit gehört – aus Küssen kleine Kinder.‘ Habt ihr welche?“ Das ist ein schönes Ablenkungsmanöver, sie geht nicht darauf ein.
„An deine Vorliebe für Kästner erinnere ich mich. An deinen Brief, Romantiker. Trotzdem willst du immer gleich zur Sache kommen. Hab ein bisschen Geduld mit mir. Ich hole uns Gläser. Ist ‚Taittinger‘ okay? Rotkäppchen gibt ‘s leider nicht.“
Der Brief. Das Gedicht. Eigentlich waren es zwei Gedichte: „Der August“ aus Erich Kästners Zyklus „Die dreizehn Monate“ und eines von mir. Ich hatte verstanden, dass die Schneekönigin nur für einen flüchtigen Moment bei mir verweilte, mitten im Sommer. Mich verblüfft, dass sie außer zwei Sektgläsern auch ein vergilbtes Blatt Papier in der Hand hält, jenes miserable, holzhaltige Papier aus DDR-Produktion, auf dem ich vor über dreißig Jahren verzweifelte und hoffnungsvolle Verse niedergeschrieben habe. Sie hat ihn aufbewahrt.
„Ich hab ihn noch, deinen Brief. Weder vorher noch nachher hat mir irgendwer ein Gedicht geschrieben. Lass uns darauf trinken: Auf die einzigartigen, unnachahmlichen, persönlichen Dinge in unserem Leben.“ Der Champagner perlt in den Gläsern. Woran nur erinnert mich der Name „Taittinger“? Sie schaut mich an, ich suche in den graublauen Augen den Lichtpunkt. Er ist nicht da. Die Sektkelche klirren aneinander, wir trinken. Auf Dinge. Was meint sie?
„Ist denn ein Gedicht ein Ding?“ Für einen Moment scheint sie irritiert. Dann deutet sie auf einen der Sessel – Bauhaus oder Vitra? – lacht, und es wirkt verlegen, setzt sich mir gegenüber, schlägt makellose Beine übereinander.
„Irgendwie schon, oder? Jemand malt ein Bild, singt einen Song, schreibt ein Buch – und das kann man kaufen.“
„Dieses Gedicht nicht. Ich habe nie mehr eins geschrieben. Ich bin Meteorologe. Gewesen.“ Sie seufzt.
„Du bist immer noch gekränkt, beleidigt, ich weiß. Das hast du in diesem Gedicht ja auch ausgedrückt, so ähnlich wie Heine, der sagt: ‚Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu, und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei.‘ Keine Ahnung, wie viele Herzen ich gebrochen habe, die meisten Kerle, mit denen ich damals ins Bett gegangen bin, haben sich ‘s jedenfalls nicht anmerken lassen, wenn ich verschwand oder sie eine neue Favoritin auflasen. Du warst der Einzige, der mir einen Brief geschrieben hat. Woher hattest du überhaupt meine Adresse?“
„Mein Schauspieler-Freund hat sie herausgefunden. Er hat mich für verrückt erklärt, aber er hat ‘s gemacht. Du bist mir noch eine Antwort schuldig.“
„Was meinst du?“
„Habt ihr Kinder?“
„Zwei. Das heißt ich drei, eine Tochter aus meiner ersten Ehe, wir haben kaum Kontakt, mein Exmann hatte das Sorgerecht. Zwei Söhne mit Joshua, längst aus dem Haus. Es geht ihnen gut. Weshalb interessiert dich das? Hast du welche?“
„Meine Frau hatte eine Tochter. Sie sind beide tot. Ein Unfall.“
„Um Gottes willen, wie furchtbar.“ Ihre Anteilnahme wirkt echt. „Wann war das?“
„Vor drei Jahren. Jenny war gerade achtzehn geworden, ihre Mutter bei mir ausgezogen. Sie wollte sich trennen. Sie hatte gute Gründe. Ich hatte meinen Job verloren, ich trank zu viel. Ironie des Schicksals: Ein besoffener Geisterfahrer raste in ihr Auto. Sie wollten gemeinsam nach Dänemark in den Urlaub fahren – ohne mich. Ich hatte also Glück.“ Heike, von Alter und Unglück anscheinend ziemlich verschont, ist für einen Moment sprachlos. Dann trinkt sie ihren Sekt auf einen Zug aus, schüttelt sich, mir fällt auf, dass ihre Brüste schwerer geworden sind, makellos verpackt, als trüge sie einen Push-BH, und starrt mich an:
„Wie kannst du so etwas sagen?“
„Ich saß nicht mit im Auto.“ Jetzt steht sie auf, läuft vor der Glaswand auf und ab, die Hände vorm Gesicht aneinandergelegt, schüttelt mehrmals den Kopf. Ich ziehe meine Zigarillos aus der Tasche. „Vermutlich darf ich hier nicht rauchen?“
„Was? Nein, doch. Besser, wir gehen auf die Terrasse. Nimmst du Flasche und Gläser mit?“ Lautlos öffnet sich eine der Glaswände. Wir stehen im Park. Die Sonne malt aus Zirruswolken rote Arabesken in den Abendhimmel. Im leichten Wind umspielt das Tüllkleid ihre Beine. Sie ist wunderschön. Was wäre passiert, wenn ich sie angelogen hätte, statt eines Witwers für sie ein alter Hagestolz geblieben wäre? Ich zünde mir einen Zigarillo an. Was sollte diese Frau, mit der mich nichts verbindet als ein heftiges erotisches Abenteuer vor Jahrzehnten, an meinem Leben interessieren? Wieso bin ich hier? Was will sie?
„Du bist“, sagt sie, „anscheinend sehr verbittert. Tut es dir denn gar nicht leid um die beiden?“
„Die Trennung warf mich um. Die Nachricht vom Tod war… gespenstisch. Aber davon blieb nicht mehr als: Schade um zwei besondere, liebenswerte Menschen. Ich habe sie geliebt, um sie geweint, ja. Aber Sie hatten mich verlassen, ich war aus ihrem Leben verbannt. Ich hätte ihnen Besseres gewünscht als den Tod auf der Autobahn, aber er stand ebenso wenig in meiner Macht wie ihre Entscheidung, mich allein zu lassen. Ich lebe halt noch. Sollte ich nicht?“ Sie schüttelt wieder den Kopf, dreht sich zu mir. Ihre Augen funkeln.
„Aber es hätte in deiner Macht gelegen, weniger zu trinken. Man muss doch um seine Liebe kämpfen…“
„Wer ist ‚man‘? Nur der Mann? Was heißt ‚kämpfen‘? Hätte ich mir ihre Liebe etwa ‚erkämpfen‘ können, wenn eine von beiden als Pflegefall zurückgekehrt wäre? Das ist doch Kitsch, Spekulation aus der Sicht einer Unbeteiligten – entschuldige. Ich hätte nicht davon anfangen sollen. Wir haben beide zu viel erlebt, als dass man ‘s an einem Nachmittag abhandeln könnte. Genießen wir lieber den Moment, einverstanden? Auf deine Gesundheit und auf deine Schönheit. Du bist immer noch unwiderstehlich.“ Ich fülle die Gläser. „Taittinger“. Wer war Taittinger? „Auf das Leben.“ Sie stößt nicht mit mir an, nickt mir nur zu. Ich entzünde einen neuen Zigarillo. „Schon seltsam, dass du den Brief so lange behalten hast.“ Jetzt lächelt sie wieder:
„Ich habe sogar das Kuvert aufbewahrt. Du weißt, warum?“
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