Gut geregelt ist halb tot (Schluss)

Zurück zum Anfang

Das SED-Emblem und die zur KPD-SPD-Fusion inszenierte Demonstration vom April 1946 auf einer Briefmarke 1966

Unterm Banner des „Antifaschismus“ dirigierte die „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ – nach weitestgehend erzwungenem Zusammenschluss von Kommunisten und Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone – die 1949 gegründete DDR, die sich als „das bessere Deutschland“ sah, Richtung Sozialismus. SED-Chef Walter Ulbricht gab die Devise aus „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Durchgeregelt. Alternativlos.

Mittels Planwirtschaft war der kapitalistische Klassenfeind im Westen zu überholen, und zwar ohne ihn einzuholen. Auf der Überholspur kam oft etwas dazwischen – vor allem Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Die Fahrtrichtung West wurde rigide eingeschränkt; nur wer den Propheten MarxEngelsLenin, zeitweise auch Stalin oder Mao, treu ergeben war, oder als Rentenempfänger entbehrlich, durfte das Herrschaftsgebiet der Arbeiter und Bauern verlassen. An den für Flüchtlinge tödlichen „Antifaschistischen Schutzwall“ erinnern sich manche noch, auch an die Cherubim mit Betonmaske, die ihn überwachten.

Das Überholen klappte nicht, es herrschte Mangelwirtschaft, dafür gab es einen Überfluss politischer Witze. Der Regelbruch wurde überhaupt zur Regel, anders kam man zu nichts. Nicht mal zu Klopapier. Es gab meistens keins, wenn doch, dann in der Qualität „Mittelfeines Schleifpapier“. Zeitungen mussten die Not auf dem stillen Örtchen lindern, etwa das „Neue Deutschland“, Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei, kurz „ND“. Sowas wäre heute undenkbar: Zeitungen sind a) teuer und werden b) von keiner Wasserspülung akzeptiert. Von Lesern auch immer weniger.

Trotzdem gilt immer noch die Regel „raue Zeiten – raues Klopapier“. Nicht nur, dass Zellstoff weltweit immer knapper geworden ist: Seit März haben die Russen Lieferungen von Birkenholz eingestellt, das für besonders weiches, flauschiges Tissue benötigt wird. Aber das ist nicht das eigentliche Problem, sondern wir alle sind es. Ist der Verbrauch von Holz im allgemeinen schon zu groß, der Bedarf kaum mehr zu decken, was sich überall auf Baustellen und wo es sonst gebraucht wird, in Engpässen und hohen Preisen niederschlägt, so ist die unmäßige Hygiene der Menschen ein mächtiger Waldfrevel. Sie können das beim WWF und zahllosen Publikationen nachlesen, die Menschen dazu erziehen wollen, weniger Zellulose für die Körperhygiene zu missbrauchen.

Der in jüngeren Jahren als Anhänger Mao Zedongs hervorgetretene Ministerpräsident Kretschmann empfiehlt den Einsatz von Waschlappen. Mein Vorschlag: Stellen Sie sich künftig bei jedem Wisch und Weg das ruckhaft anschwellende Geräusch einer Kettensäge vor! Dann folgen Sie vielleicht dem Rat einer Fränkischen Zeitung, stattdessen lieber kurz die Dusche zu benutzen. Es gab ja auch in einem öffentlich-rechtlichen Medium („Funk“) kürzlich den Hinweis, beim Duschen zu pinkeln – das spare Wasser und Energie.

Hier ein kurzer Blick auf die Praxis der 50er und 60er Jahre im Arbeiter- und Bauernstaat DDR und das Leben in einem Fachwerkbau, der wegen mangelnder Materialien und Handwerker nicht instand zu halten war. Gustav Horbel ist Hauptperson im Roman „Blick vom Turm“ und 1968 gerade 18 Jahre alt.

Fachwerk kurz vorm Abriss. Im Hintergrund die beiden Plumpsklos

„In dem Haus, wo Gustav wohnte, herrschte schon klassenübergreifende soziale Gleichheit. Es war vermutlich zur Zeit der französischen Revolution gebaut worden. Die Wohnungen hatten weder Zentralheizungen noch Bäder, nicht einmal eine Wasserspülung für die Toiletten. Mieter wie Hausbesitzer steckten ihre Hinterteile in eine runde Öffnung über den Miasmen der Jauchegruben — im Sommer bei Hitze im Winter bei Frost — und vernahmen jenes Geräusch, das dem Klo seinen Namen gab. Dass was plumpsen sollte, stecken blieb, gefror und den Bedürftigen Ungemach bereitete, kam nur bei außergewöhnlich strengem Frost vor. Gustavs Mutter griff dann unter groben Flüchen zu einem Eimer heißen Wassers und einem stabilen, mannshohen Knittel aus Buchenholz und setzte die Fallgesetze wieder in Kraft.

Vielleicht war ja die Knappheit an Toilettenpapier sogar von Partei- und Staatsführung gewünscht, weil viele Leute die Zeitungen noch einmal in die Hand nahmen und lasen, ehe die Organe des Zentralkomitees oder der Bezirksleitungen den Weg nach ganz unten antraten. Schließlich wusste jeder bis hinauf ins Politbüro mit dem Ersten Sekretär und Staatsratsvorsitzenden an der Spitze von diesem Alltagsritual. Nur öffentlich darüber zu reden, war tabu. ‚Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.‘ Aber so leuchtete immerhin ein, warum die Herren der Planwirtschaft nicht alles daran setzten, dem Frevel durch vermehrte Produktion von Toilettenpapier zu begegnen.“

Das Leben war nicht sehr komfortabel damals, aber es wurde jedenfalls sehr viel weniger an Wasser, Strom, Holz, Kohle, Eisen und andere Metallen, Gas und sonstigen Grund- und Rohstoffen verbraucht als heute. Soweit ich verstehe, gilt das einer großen Zahl Menschen in bestimmten Parteien oder sonstwie mit Steuergeld und Spenden finanzierten Organisationen als erstrebenswertes Ziel einer künftigen Welt ohne Kapitalismus. Es sind Leute, die in Jahrzehnten wachsenden Wohlstandes und Komforts heranwuchsen, fortwährend in allen möglichen Medien Laut geben und genau wissen, wie andere gefälligst ihren Konsum und ihre Körperhygiene zu reduzieren haben.

Dass ich mir die Verhältnisse von 1968 nicht zurückwünsche – obwohl der Mangel an Wohlstand in wildbewegter, abenteuerlicher Jugend nur eine lästige Begleiterscheinung war – begreifen solche Leute natürlich nicht. Ihre Lebenspraxis beschränkt sich auf den „Diskurs“, den wollen sie dominieren. Die Arbeit dürfen – und das war in der DDR mit ihren Ideologen und Politbürokraten genauso – andere machen. Arbeiter und Bauern zum Beispiel, gern auch unbotmäßiges Gesindel in Gefängnissen und Lagern.

„Herrschende Klasse“ – wie von den kommunistischen Säulenheiligen als Ziel vorgegeben – waren jedenfalls nie die Arbeiter, sondern immer Apparatschiks der Partei, nebst zahllos, ziemlich regellos, dafür sehr korrupt wachsenden „Staatsorganen“, „Massenorganisationen“ – kurz: ein System, das von der unüberbrückbaren Kluft aus – hoch moralischem – Anspruch einer-, wirtschaftlicher und geistiger Insuffizienz andererseits zugrunde ging. Der Mythos von der „Gleichheit aller Menschen“, der praktisch Gleichmacherei, Gleichgültigkeit, Gleichförmigkeit, Gleichschaltung in aller Öde, Hässlichkeit und Armut totaler Regulierung hervorbrachte: er überdauert – wie viele Verblendungen. Das geschieht gerade mit den entsprechend verheerenden Folgen.

Aber da auf allen Wegen dieser Welt die allerwidersprüchlichsten und keiner Gleichverteilung unterliegenden Gefühle immer mitfahren – und sie sich sich auf keine Weise regulieren lassen – bleibt der Teufel im Spiel und der Ausgang offen.

ENDE

Ein Gespräch mit Zukunftsperspektive

Ein nobles Café in Berlin Anfang der 2010er Jahre. Silvia, Künstlerin Anfang 60, trifft sich mit ihrem älteren Halbbruder Hermann. Sie haben sich jahrelang nicht gesehen, er hat ihr gerade geholfen, eine Malware-Attacke mit pornographischen Inhalten auf ihre Website abzuwehren. Von ihrer Mutter vermittelt, verabredet sich Silvia daraufhin mit dem Verwandten, den sie in übler Erinnerung hat. Sie will ihm keinen Dank schuldig bleiben.

Der Schnauzbart irritiert sie, die runde Brille erinnert an historische Vorbilder aus den Jahren der Oktoberrevolution, der Anzug am fülligen, dennoch fest und sportlich trainiert wirkenden Leib stammt von einer Nobelmarke, unterm Doppelkinn ist der Kragen offen, keine Krawatte, ein Dreitagebart, kahle Stellen im grauschwarzen Stoppelhaar: Als sich Hermann Hofrichter zu Silvia an den Tisch setzt, mit „Freundschaft“ grüßt, grinst, wirkt er entspannt und locker. Er muss bald 65 sein.

„Du siehst nicht aus wie ein Rentner“, sagt seine Halbschwester.

„Ich bin bestens in Form, ficke jede Braut dreimal hintereinander, sie muss nur gut genug aussehen, Danke fürs Kompliment. Kann ich was für dich tun?“

„Hast du schon, dafür wollte ich mich bedanken.“ Hermann lacht: „War mir ein Vergnügen. Hätte nie gedacht, dass ich mal ’ne Mösengalerie gegen Kinderficker verteidigen müsste. Gläschen Prosecco?“

Silvia versucht, dagegenzuhalten: „Klar. Du bist potent, ich bin trinkfest.“ Der Bruder steckt das unkommentiert weg, winkt der Bedienung. Das noble Café in Charlottenburg ist leer um diese Tageszeit, sie sind ungestört.

„Einen Prosecco bitte, für mich ein stilles Wasser und einen Pfefferminztee, ich bin Alkoholiker. Hemmungen hattest du nie, Geschmack leider auch nicht. Wovon lebst du eigentlich?“ Die Serviererin verzieht keine Miene, stöckelt davon.

„Keine Ahnung. Irgendwie geht ’s.“

Gegenwart und Zukunft entspringen den Plänen, Verstrickungen, Entscheidungen vieler zurückliegender Jahre. Nichts ist vergangen, nicht einmal die Gedanken.

Hermann nickt versonnen: „Das Tolle an diesem Land: es lässt seine Spinner nicht verhungern. Mal sehen, wie lange ’s noch funktioniert.“ Silvia ahnt, dass jetzt der Katechismus folgt. Hermann fasst nach einer schmalen Mappe, holt ein Notepad heraus, macht ein paar Fingergesten. „Die Spinner haben sogar genug Geld, es in die Revolution zu investieren. Schau mal: das ist in den letzten drei Tagen hereingekommen.“ Er hält ihr den glänzenden Bildschirm hin. Sie überfliegt Tabellen, eine Grafik. „Möchtest du nicht auch spenden? ,Heal the World, Make It A Better Place … For You and For Me … And the Entire Human Race’ …“, summt er.

„Wusste nicht, dass du singen kannst. Was macht ihr mit diesem riesigen Haufen Geld? Möchtest du nicht etwas davon in eine Kulturstiftung für – sagen wir: meine Mösengalerie – stecken?“

„Prosecco, Pfefferminztee, Wasser – korrekt?“ Die Serviererin lächelt den Graubart mit der Revoluzzerbrille an, als sei er Steve Jobs.

„Klar.“ Hermann beobachtet Silvias Reaktion. „Nur nicht sofort. Schau – es ist so: Wir haben dir geholfen, jetzt könntest du für uns etwas tun. Dein Ziel, den Mädchen und Frauen dieser Welt Beschneidungen, Zwangsehen, Sklavenhandel und so weiter zu ersparen, ist auch eines der Ziele unserer NGO, eines nur, aber die anderen werden dir auch gefallen.“

„Du redest jetzt nicht vom ‚Leninistischen Aufbruch‘?“ Silvia ist platt.

„Ach was. Solche kindischen Etiketten kleben sich nur Schwachköpfe und verkalkte Veteranen des Kalten Krieges an. Im Zeitalter des Internets verlaufen Revolutionen vollkommen anders – oder hast du den ‚Arabischen Frühling‘ verschlafen?“

„Natürlich nicht, und ich bin besonders gespannt darauf, wie er sich auf die Lage der Frauen auswirken wird.“

„Siehst du. Frauensolidarität bleibt wichtig. Wir haben sehr renommierte Aktivistinnen, die einschlägige Foren betreuen, neue Kräfte gewinnen, starke Argumente – vor allem Bilder – beisteuern. Die Welt muss sich ändern, Nachhaltigkeit, Klimawandel, soziale Gerechtigkeit … du weißt schon.“ Hermann nippt an seinem Tee, gießt ein halbes Glas Wasser nach, als handle es sich um das Wodka-Wasser-Ritual. Silvia ist es unheimlich wie je in seiner Gesellschaft. Sie erinnert sich noch, wie er Stalin zitierte, von unversöhnlicher revolutionärer Einstellung sprach.

„Partei und Proletariat sind also passé?“

„Weder Marx noch Lenin konnte wissen, wie der Kapitalismus sich im Detail entwickeln würde, im Großen haben sie mit ihren Lehren Recht behalten. Aber die Globalisierung und die neuen Medien stellen andere Aufgaben. Man kann Ziele heute nicht mit den Mitteln des 19. oder 20. Jahrhunderts erreichen. Die Organisationsformen sind völlig verändert. Ein Konzern, eine Bank – sie mögen global noch so mächtig, noch so gut aufgestellt sein – sind durch entsprechende Informationsströme erschütterbar, genau wie irgendeine Diktatur. Wikileaks hat das bewiesen, Anonymous, … na, du weißt schon. Es muss niemand mehr auf die Straße gehen, sich als fahnenschwenkender Märtyrer niederschießen lassen, wenn er eine Chemiefabrik kaputtmachen, einen Banker zum Kniefall bringen will. Informationen über eine verseuchte Landschaft, einige Dutzend betrogene Anleger reichen: Sie müssen nur groß genug sein für Nachrichten in den Leitmedien, eine große Zahl von Menschen dazu bringen, sich uns anzuschließen: Dominanz in den Medien ist das neue Kapital, und das Internet ist die Methode der Akkumulation. Wir sind die Guten, wer zu uns gehört, gehört an die Macht.“

„Was zu beweisen wäre.“ Silvia lacht. Hermann zuckt die Schultern, trinkt, bestellt neuen Tee, neues Wasser. „Noch einen Prosecco?“

„Klar.“ Sie schüttelt den Kopf. „Du willst also das Proletariat per Internet mobilisieren.“

„Ich will dir helfen, mit deiner Mösengalerie berühmt zu werden und nicht von Almosen zu leben. Kapierst du nicht: Wir schaffen es, dass jeder, der wie du und deine Mutter eine bessere Welt will, sich engagieren kann. Wir bündeln die Energien – und wir haben die Technik dafür.“

„Und wie nennt sich das Ganze? Nicht mehr Kommunistische Partei?“

„Tu nie alle Eier in einen Korb. Auch Utopisten, Grüne, Tierschützer, jede Sorte sozialistischer Bewegungen konkurrieren in dieser Welt. Sogar Religionen.“ Hermann bläst einen verächtlichen Lacher durch die Nase. „Die Kunst besteht darin, ständig neue Netze zu knüpfen, den Leuten die Überzeugung zu vermitteln, dass sie auf der richtigen Seite stehen, zur ‚Heal-the-World‘-Bewegung gehören, die Kunst ist, dabei als Bewegung so groß wie irgend möglich zu werden. Und natürlich das Geld dafür einzusammeln.“

„Bei den Spinnern.“

„Und bei denen mit schlechtem Gewissen, bei denen im Hintergrund, im Dunkeln wenn ’s sein muss …“

„Erpressung.“

„Quatsch. Wiedergutmachung. Wenn du die Moralinsäure weglässt, kriegst du vielleicht endlich eine Mahlzeit hin, die überall auf der Welt gegessen wird. Oder möchtest du auf eine große Kosmetikfirma als Sponsor für deine Muschibildchen verzichten?“

„Der Kommunist rettet die Frauen der Welt mit L’Orèal – oder isses Beiersdorf?“

„Der Kapitalismus hat sich mit dem Kommunismus seinen Totengräber erschaffen. Die Form der Bestattung konnte Marx nicht vorhersehen. Du und Deine Mutter – ihr passt besser an die Spitze als zum Fußvolk. Das wollte ich dir gesagt haben, deshalb habe ich nicht gezögert, für dich etwas digitalen Dreck wegzuputzen. Niemand zwingt dich zu einer Entscheidung. Achte einfach mal im Internet genauer darauf, wohin der Wind weht und in welche Richtung die Massen sich bewegen. Wo vorn ist, sind wir.“

Silvia lacht ein wenig gezwungen: „Sagst du deshalb nicht mehr ‚bljatj‘?“

„Ich trinke auch keinen Wodka mehr.“

„Aber wenn du mich und Meinesgleichen einlädst – womöglich schubsen wir Frauen dich weg von der Spitze.“

„Nur zu. Ich konnte schon früher – anders als du und dein schneidiger Genosse Leutnant Lampert – mein Ego zügeln, habe gelernt, in den hinteren Reihen treu zu dienen. Zahlen!“ Hermann legt einen großen Schein auf den Tisch und wendet sich zum Gehen, ohne auf Wechselgeld zu warten.

Auszug aus dem Roman „Raketenschirm“, erschienen 2013 im Salier Verlag

Impulse und Macht

Teil 4 des Vorworts zu „Der menschliche Kosmos. Zurück zu Teil 3

Komplexe Impulssteuerung beim Schwimmen: nicht untergehen, Atem holen, vorankommen

Die Irritation beim Wechsel von der Frage „WARUM?“ zur Frage „WOZU?“ ist von derselben Art, wie sie ein Rechtshänder empfindet, der wegen einer Verletzung lernen muss, mit der linken Hand zu schreiben. Ebenso gut kann einer trainieren, bei der Einschätzung seines Umgangs mit Menschen und Umwelt eben nicht nur die – bewährte, aber begrenzte – Methode der Konstruktion von Ursachen und Vergangenheiten zu nutzen. Er wird Muster anders erkennen, wenn er fragt: „Was wollen die am Geschehen Beteiligten erlangen, was vermeiden?“, wenn er auf den Verlauf innerer und äußerer Energieflüsse, die Bewegungen dynamischer Systeme und Metasysteme blickt, und den Einfluss eigener Impulse zum Erlangen und Vermeiden mit erfasst.
Dieser Wechsel der Perspektive ist nicht neu. Wieso ihn nicht nur für den Bau von Lasern, Quantencomputern oder einzelne klinische Anwendungen der Psychologie vollziehen, sondern allgemein nutzbar machen? Nicht nur das naturwissenschaftliche Denken, sondern auch Psychologie und Philosophie profitieren davon. Seit einiger Zeit ist der Begriff der „Propriozeption“ im Gebrauch. Er bezeichnet die Eigenwahrnehmung des sich bewegenden Körpers, also die Wahrnehmung fortwährend und meist unbewusst ablaufender Impulse. Sie umfasst nicht nur motorische Bewegungen wie Laufen, Schwimmen, Springen, sondern auch die Lage unserer Organe im Raum, aber auch die Motorik der nonverbalen Kommunikation – also etwa das Lächeln, Hochziehen der Brauen, Redegesten, den Tränenfluss, Schreien und Lachen. Darauf werde ich später ausgiebig zurückkommen. Impulse haben stets ein Ziel. Folgerichtig wäre, dieses Geschehen für den ausschlaggebenden Komplex menschlicher Existenz anzuwenden: Impulsverläufe in Konflikten.

Gemetzel auf einer Grafik von Francesco Goya
Goyas „Desastros de la Guera“ illustrieren die Sprache der Gewalt

Damit sind wir wieder beim Phänomen der Gewalt. Das Ziel von Gewalt ist Destruktion. Sie erstrebt einen chaotischen – regellosen – Zustand, von dem aus eigene Interessen durchgesetzt, fremde Interessen ausgeschaltet oder stark abgeschwächt werden können. Sie nimmt schwere Störungen, ja sogar die Vernichtung des eigenen Systems in Kauf. Gewalt ist nur eine von vielen elementaren Strategien gegen innere oder äußere Störungen des dynamischen inneren bzw. äußeren Gleichgewichts. Auf menschliche Konflikte bezogen: ein Ziel wird erreicht oder ein Schaden vermieden durch destruktives Verhalten; das Risiko, dabei schwerere Verluste zu erleiden, gar zu sterben, wird ignoriert. Das kann spontan geschehen oder bewusst, und es wird umso wahrscheinlicher geschehen, je öfter sich die gewaltsame Strategie mit der Erfahrung eines Erfolges verbindet – egal ob es sich um einen vermeintlichen oder wirklichen Erfolg handelt. Was Sieg, was Niederlage ist – darüber entscheidet die subjektive Wahrnehmung. Strategiewechsel infolge von Niederlagen sind selten. Ich wage zu behaupten: sie sind niemals durchgreifend. Nachzuweisen, dass jemals irgendeine Strategie zwischen den Anfängen der Evolution und dem Anthropozän, zwischen Steinzeit und „Postmoderne“ ausgestorben wäre, bedürfte einer aufwendigen, höchst wahrscheinlich erfolglosen Suche. Sicher ist nur eines: Im „Ernst-“Fall, wenn der „Tunnelblick“ die Selbstwahrnehmung einschränkt, werden alle anderen möglichen Strategien ausgeblendet bis zum Amoklauf: der „Totale Krieg“ zerstört andere und sich selbst.

Brennender Reichstag 27./28. Februar 1933
Setzte am 27./28. Februar 1933 ein Einzelner den Reichstag in Brand? Warum? – oder besser: Wozu?

“Aufarbeitung” ist ein ebenso häufig wie fahrlässig gebrauchtes, bis zum Überdruss verschlissenes Wort. Sie folgt Katastrophen so sicher wie das Amen in der Kirche: sie ist auch meist nichts als Ritual. Jeder, der seine Haltung, Ziele, Handlungsmotive vorteilhaft darstellen will, distanziert sich rituell von den an Katastrophen “Schuldigen”. Die Deutungshoheit über die Frage “Warum” wird zur Monstranz, wird unangreifbar, die eigene Position geheiligt. So geschah es mit der “antifaschistischen Aufarbeitung” des Nationalsozialismus durch marxistisch-leninistische Staatsideologie.

Tatsächlich verirrt sich die Frage nach dem „Warum“ zwischen Ratlosigkeit, unbrauchbaren Spekulationen, Schuldzuweisungen im Nebel der Unverantwortlichkeit, wenn es um Gewaltherrschaft zum Beispiel von Nationalsozialisten oder Kommunisten, um Amokläufe in Schulen oder Familien, um Terrorakte und katastrophale Schlampereien in Kernkraftwerken oder Chemiefabriken geht. Das ist kein Zufall. „Ursachen“ sind Konstrukte menschlicher Denk- und Kommunikationsprozesse. Die Frage nach den Zielen derjenigen, die da „aufarbeiten”, muss vorab gestellt werden. Dann kann über die Ziele derjenigen nachgedacht werden, die „in der Vergangenheit” handelten, darüber wie sie ihre Ziele, wie sie Umstände ihres Handelns wahrnahmen, wie sie zu Entscheidungen kamen. Dieses Nachdenken offenbart eine Dynamik sich häufig wiederholender Muster. Wer rechtzeitig und vorbehaltlos nach den eigenen, dann nach den Zielen anderer fragt und beides in ein Verhältnis bringt, wer das fragt, solange Schlamperei, Feindseligkeit, Gewalt noch „latent“ sind, kann dank erkannter Muster künftige Konfliktverläufe abschätzen, sogar manche Katastrophe abwenden. Auf unabwendbare wird er sich einrichten müssen. Konflikte sind letztlich so wenig vorhersehbar wie Menschen einheitlichen Handlungsmustern folgen, so wenig sich „Tugenden” und „Laster” säuberlich scheiden lassen.

Titel zu "Masse und Macht" von Elias Canetti
Längst nicht ausgeschöpft: Der Gedankenreichtum von Elias Canetti

Hierzu sei beispielsweise auf Nietzsches interessante aphoristische Gedanken in „Menschliches Allzumenschliches“ und auf Elias Canettis „Masse und Macht“ verwiesen. Beide bereichern die Diskussion um den „Freien Willen“ in hohem Maß.
Sind die Ketten der Kausalität, des Denkens in Abfolgen von Ursachen und Wirkungen, gesprengt, können die Konflikte des Individuums und der Metasysteme von Familien, Nationen, Völkern und ihren Kulturen besser verstanden werden. Quantenphysik, Relativitätstheorie und Informatik haben längst offenbart, wie brüchig diese Ketten sind. Wer sich nicht befreit, wird die Krisen und Katastrophen der sich global organisierenden Menschheit nicht verstehen, geschweige abwenden. „Wer die Ursachen beherrscht, gebietet über die Folgen” – auf dieser Einstellung fußen Strategien der mechanischen Dominanz. Wir erleben aber am Beispiel des weltweiten Terrorismus gerade, dass auch das gewaltigste Übergewicht mechanischer (militärischer) Instrumentarien systemische Prozesse nicht nachhaltig steuern kann. Der Perspektivenwechsel wird sich durchsetzen, weil er keiner ideologischen Rechtfertigung bedarf. Das Zeitalter universeller Gesellschaftsentwürfe ist allerdings genau deshalb vorbei. Sie waren immer die gedanklichen Rechtfertigungen für mechanische Dominanz, ihr systematischer Fehler ist, dass sie eine „Objektivität“ oder göttliche Herkunft von Modellvorstellungen, von „Vergangenheit“ und „Gegenwart“ erforderten, mit der „Zukunft“ zu prognostizieren ist – bis hin zur sogenannten „Weltformel“ oder zum „Weltgericht“. Aber eine solche Formel kann und wird es niemals geben. Die Revolution unserer Zeit ist der revolutionierte Zeitbegriff: Der Mensch erschafft Raum und Zeit unseres Universums mit, während er denkt, Denken ist schon Handeln, und die Dynamik dieser unauflösbaren Wechselwirkung kann nicht formelhaft „fixiert“ werden, weil eine Fixierung das Ende der Dynamik selbst bedeuten würde. Die neue Perspektive widerlegt indessen keineswegs den Sinn der Forschung, sie zeigt nur deutlicher die eigenen Grenzen; mechanische Vorstellungen versagen darin.

Reden wir vom Ziel dieses Buches: Es will keine neuen Weisheiten verkünden, sondern ein Training anbieten: Leser können versuchen, öfter statt nach dem „Warum“ nach Zielen und Strategien zu fragen, sie können versuchen, ihren eigenen Alltag anders zu erleben und zu gestalten – egal ob sie es in der internationalen Politik, im Management oder in den eigenen vier Wänden tun. In diesem Sinne ist es ganz und gar unvollkommen, weil es darauf vertraut, dass es nur Anregungen für alle diejenigen gibt, die – mit neuer Sicht auf die Welt und sich selbst – handelnd Erfahrungen machen und neue, wichtigere Kapitel schreiben werden. Es lebt von der Subjektivität der Wahrnehmung, und gibt die Subjektivität des Autors immer wieder preis. Es soll Lust darauf machen, einige der vielen alltäglichen „Algorithmen“, Rituale und Strategien kennenzulernen, mit denen unser Gehirn, unser Körper und die umgebende Welt – der „menschliche Kosmos“ – aufeinander wirken. Das wenigste davon ist uns bewusst, eben weil unser Bewusstsein um Größenordnungen von der Dimension des Kosmos entfernt ist. Aber Entdeckungsreisen sind möglich. Im Himmel und auf Erden.

Ende des Vorworts

Unsterblicher Kitsch?

Grau_KitschDen Begriff “Kitsch” gibt es wahrscheinlich erst seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, unsicher ist, ob er Lehnwort aus der Sprache der Roma, sicher, dass er als Lehnwort aus dem Deutschen ins Englische, Französische, Türkische, Griechische übernommen wurde. Der Artikel in der “Wikipedia” bietet Beispiele und Indizien, aber Kitsch präzise zu definieren gelang ebenso wenig, wie Dinge aus der Welt zu schaffen, die ihm zugerechnet werden. Alexander Grau, promovierter Philosoph und freier Publizist, widmet dem Phänomen – insbesondere seiner politischen und speziell der deutschen Spielart – einen Essay, den ich mit Vergnügen gelesen habe und weiterempfehle.

Ohne den kenntnisreichen und klug argumentierenden Text verkürzen zu können, drängten sich zwei Gedanken vor: Kitsch ist keineswegs harmlos, und es wird ihn geben, solange Menschen Dominanz- und Herdenimpulsen folgen, also auch noch dann, wenn Außerirdische auf die Überreste unserer Zivilisation stoßen. Vielleicht können sie klären, ob und inwieweit politischer Kitsch für deren Untergang ursächlich war.

Alexander Graus geistesgeschichtlichen Überlegungen zufolge gab es Kitsch schon in sehr frühen Kulturen, er hängt eng mit Religionen zusammen. Das ist nicht verwunderlich, denn in Auseinandersetzungen um die Macht gab und gibt es immer eine materielle und eine informelle Dimension; Kitsch hat einige Qualitäten, die ihn zum kommunikativen Kitt in Kollektiven prädestinieren. Wem es gelingt, einen Kultgegenstand, ein Ritual, eine Person, ein Ereignis im allgemeinen Bewusstsein zu überhöhen, als mehr erscheinen zu lassen, als es wirklich ist, also sich und anderen eine sinngebende, kollektive Bedeutsamkeit vorzutäuschen, wem das gelingt, der erlangt damit informelle Macht. Hat er Erfolg, kann er genügend Anhänger emotional an den (Kitsch-)Kult binden, wird er seine Deutungshoheit befestigen. Auch wenn die harte Realität ihn einmal widerlegt, muss das nicht Konsens und Konformität zerstören; es bedarf dazu katastrophalen Scheiterns, selbst das überlebt der Kitsch meist.

Das liegt zweifellos am Bedürfnis des Einzelnen, sich im Kollektiv geborgen zu fühlen: Die Familie, die Herde, die Organisation versprechen Schutz, Zusammenhalt, Teilhabe auch an materieller Macht – um den Preis konformen Verhaltens und Denkens. Alexander Grau sieht im Kitsch ein hochinfektiöses Pathogen, „insbesondere in Zeiten starker Veränderungen und Verunsicherung, wenn die Menschen anfällig sind für alles, was Geborgenheit verspricht, Nestwärme und Sicherheit.“

Von der säkularen Ausprägung des Politkitschs nach der Französischen Revolution, von seinen ebenso pompösen wie lächerlichen Wandlungen im 19. Jahrhundert, kommt der Autor zu den totalitären Systemen des Faschismus und Kommunismus; in beiden wird der Kitsch allgegenwärtig, sakrosankt – und wer kritische Fragen stellt, wird zum Feind, den es zu isolieren, zu bestrafen, zu vernichten gilt. Er zitiert Milan Kundera: „Unter diesem Gesichtspunkt kann man den sogenanten Gulag als Klärgrube betrachten, in die der totalitäre Kitsch seinen Abfall wirft.“

Sowohl der faschistische wie der antifaschistische und kommunistische Kitsch haben die Zusammenbrüche der jeweiligen Systeme trotz Millionen Menschenopfern gut überstanden, sie leben mit ihren Phrasen, Parolen, Symbolen, Ritualen in Erlösungsgeschichten für die jeweilige Gefolgschaft fort. Alexander Grau nennt ihn an der Realität gescheitert, nicht ohne im „absoluten Kitsch“, im „Traum von der totalen Versöhnung der Welt“, wiedergeboren zu werden – als der „Leitideologie spätbürgerlicher Gesellschaften“.

Das letzte Kapitel widmet er der „deutschen Spezialität“, und es ist amüsant, wie der auf Rationalität bedachte und der Gefühligkeit abholde Autor seinem Abscheu darüber Luft macht. Ich verstehe ihn gut. Insbesondere der „absolute Kitsch“ ist in seinen politischen, medialen, ästhetischen Auftritten schwer erträglich – aber noch gefährdet es nicht das Leben des Einzelnen, sich ihm mit Mut zu selbständigem Denken, scharfen Argumenten, beißendem Witz zu widersetzen. Nicht wenige wagen es. Das ist in China, in Russland, im Herrschaftsbereich von Gottesstaaten und sonstigen Diktaturen anders. Dort blüht der Kitsch, Gegenwehr kann tödlich sein. Er blüht auch in supranationalen Politbürokratien wie UN und EU. Ein verfasster politischer Wille, ihm den Garaus zu machen, ist schlechterdings nicht vorstellbar, zumal in den Subkulturen des Internets der Nachwuchs üppig gedeiht.

„Il faut cultiver notre jardin“, lässt Voltaire, der Aufklärer, am Schluss des Romans „Candide“ den gescheiterten Philosophen Pangloss sagen. Kitschfreie Bündnisse der Vernunft zwischen Naturwissenschaftlern, Künstlern, sogar manchen Politikern und Leuten, die „Was mit Medien“ machen, sind dabei immerhin noch möglich. In der „Blogosphäre“ zum Beispiel.

Alexander Grau „Politischer Kitsch“, Claudius Verlag, gebundene Ausgabe 128 Seiten, 14 €

Brehms Tierleben

Titelbild von Brehms TierlebenEin Lieblingsbuch meiner Kindheit darf ich wieder in der Hand halten: Meine Großmutter las uns daraus vor, es begleitete uns auf Wanderungen durch Wald und Flur, wo wir manchen seiner Protagonisten begegneten, einige schlüpften als Findelkinder zeitweise bei uns unter – Eichhörnchen und Igel zum Beispiel – den Kindern zur Freude, den Familienhunden zum Ärger. Meine Mutter zeichnete und malte, was wir dabei und im heimatlichen Thüringer Wald erlebten.
Unsere Originalbände von „Brehms Tierleben“ haben die Wechselfälle des Lebens nicht überstanden, unser Vergnügen an der Naturbeobachtung und am Umgang mit Tieren, das sie vor über 60 Jahren prägten, blieb. Texte und Illustrationen lesen und betrachten – das ist wie ein Wiedersehen mit sehr vertrauten Freunden nach langer Zeit. Zugleich erfreut es, weil Bildungsgänge ihren Wert beweisen, die seit 200 Jahren enzyklopädisches Wissen allen Schichten der Bevölkerung zugänglich machten.

Ein Blick auf die Editionsgeschichte zeigt, welchen Rang Brehms Arbeit beanspruchen darf, inzwischen gibt es sie auch in digitalisierter Form. Dem Dudenverlag ist die vorliegende Neuausgabe von Teilen des Gesamtwerkes zu verdanken; sie enthält Tiere, die wir heute noch in freier Wildbahn oder Naturparks antreffen. Einband und Druck insbesondere der Graphiken machen das Buch zum willkommenen Geschenk.

Das 19. Jahrhundert war eines der Forschungsreisenden, der Lexika und Enzyklopädien. Mit Alfred Brehm und Hermann Julius Meyer, dem Sohn des berühmten „Lexicon-Meyer“, fanden sich zwei Große dieser Blütezeit. 1863 erschienen in dessen „Bibliographischem Institut“ die ersten sechs Bände des „Illustrierten Thierlebens“ mit Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Robert Kretschmer, in der zweiten Auflage ab 1876 unter dem heute geläufigen Namen „Brems Tierleben“ kamen farbige Illustrationen von Gustav Mützel und Eduard Oscar Schmidt hinzu, deren Qualität Charles Darwin mit dem Lob bedachte, sie seien die besten, die er je in einem Werk gesehen habe.

Karsten Brensing hat eine kluge, gut lesbare Einführung geschrieben, die Brehms Leben und Walten – etwa als Zoodirektor in Hamburg und Berlin – mit der Entwicklung seiner Wissenschaft bis in die moderne Verhaltenspsychologie verknüpft. „…tatsächlich sind wir kaum weitergekommen“, schreibt er, „Brehm hat durch seine Herangehensweise, sich in Tiere hineinzuversetzen und sie zu vermenschlichen, viele Dinge bereits erkannt und aufgeschrieben, die die moderne Naturwissenschaft erst nach viel Zögern als bewiesen akzeptiert hat.“

Sowohl die Entwicklung der Arten wie die des Individuums lassen erkennen, dass tierisches und menschliches Verhalten eng verbunden sind. Wir leben und lernen voneinander und miteinander. Kaum ein anderes Forschungsfeld ist reicher, als die Untersuchung der dabei wirkenden genetischen, sozialen und psychischen Faktoren. Zum Vergnügen an Brehms Sprache und Erzählkunst gesellt sich also die Neugier, der Wissenschaft von heute bei der Arbeit zuzusehen. Wer ein Übriges tun will, besuche die Gedenkstätte in Renthendorf. Sie wurde 2012 bis 2018 generalsaniert. Jochen Süß beschreibt in einem kurzen Nachwort, wie dort auch das kostbare Erbe von Brehms Vater Christian Ludwig, eines emsigen Vogelkundlers, bewahrt wird.

Alfred Brehm, Karsten Brensing „Brehms Tierleben“, Dudenverlag, 240 Seiten

ISBN: 978-3-411-71782-8, 20 €

Frühling im Januar

IMG_20180112_143026.jpg

Ich kann mich nicht erinnern, je zuvor an einem 12. Januar Hunderte blühender Krokusse in Baden-Badens Lichtentaler Allee, dieser kilometerlangen Parklandschaft ohnegleichen, gesehen zu haben. Mitte Februar, ja, da reichten bisweilen die Krokusprozessionen von Einheimischen und Gästen von der Innenstadt bis hinaus zum Kloster, dann erfreuten Hunderttausende bunter Kelche die Herzen, die Stimmung von Menschen vieler Nationalitäten erhob sich über Alltagsgrau und politische Zwistigkeiten hinweg hinauf ins Blau, Sonne und Frühling lächelten, noch der letzte Miesepeter lächelte zurück.

IMG_20180112_144508

In der Gönneranlage, wo in wärmeren Jahreszeiten zahllose Rosensorten,  Lavendel, Blauraute, Zitronenbäume, blühende Rabatten bezeugen, was die hiesige Stadtgärtnerei an Können, Geschmack und Fleiß alljährlich zu investieren bereit und im Stande ist, sammelt der Graureiher Regenwürmer. Er ist immer gern bereit, sich fotografieren zu lassen, vermutlich hat er mitbekommen, dass Menschen in Baden-Baden gern vor Kameras posieren, er testet seit Jahren, wie nahe sie sich an ihn heran trauen.

IMG_20180112_143436Der letzte Sturm hat ein paar große alte Bäume umgeweht. Unterm Wurzelwerk der 130jährigen Ulme hat Herr Amsel ein Versteck mit Nahrungsreserven gefunden, aus dem er mich skeptisch beäugt. Den Winterlingen ist egal, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggekippt ist: So kriegen sie noch mehr Sonne und blühen einfach: Nächste Woche, sagen die Meteorologen, gibt’s Frost und Schnee, aber vermutlich wissen Frühjahrsblüher dank ihres eigenartigen vegetativen Gedächtnisses, dass solche Intermezzi in Baden-Baden kurz sind. Sie haben sie noch immer überstanden.

Und für diese Art Botschaften bin ich überaus dankbar.

Fragen nach Sinn und Ziel

Hinrichtung eines Delinquenten

Recht oder Gewalt – Macht – Lust?

Krisenherde, Gewalttätigkeiten, Kriege und Massaker in „Failed States“ treiben Bilderwogen hoch, der politische Einfluss von Nationalstaaten aufs wirtschaftliche Geschehen schwindet, die #EU ist eher ein Sanierungsfall als gestaltende Kraft im globalen Geschehen. Vor der Bundestagswahl werfen sich Parteien in Pose, ihre Programme bestehen hauptsächlich aus Worthülsen. Um ihre Handlungsunfähigkeit auf den wesentlichen Feldern wie Energie-, Migrations-, Finanz-, Abrüstungspolitik zu kaschieren, füttern sie mit Steuergeldern Korporationen – darunter zahllose sogenannte NGO -, die sie folgerichtig als willige Helfer für den Machterhalt und Schutzschild gegen unerwünschte Kritik dienstbar machen.

Statt Konflikte zu benennen und nach Lösungen zu suchen, gebrauchen fast alle Protagonisten der Wahlkämpfe den dicken Zeigefinger, der immer auf die anderen weist, und gegenüber den Wählern die bevormundende Moralkeule in der Art von Aufklebern auf Tabakverpackungen (Tödlich! Gefährlich! Klimaschädlich! Arm- und krankmachend…!). Sie mobilisieren den Versicherungs- und Vermeidungsimpuls der Wähler. Selbständigen Handlungs- und Entscheidungswillen, Meinungsfreiheit und Verantwortungsbereitschaft bremsen solche Organisationen gern aus, denn sie dienen nicht ihrem wichtigsten Ziel: Selbsterhaltung – koste es das Gemeinwesen, was es wolle.

Schauen Sie sich daraufhin die vertrauten „Gestelle“ (die Bezeichnung weist aus, dass vor allem ihre An-Gestellten nutznießen) einmal an.

Titel zu "Der menschliche Kosmos"

Gefühle, Konflikte, Strategien

Wenn Sie sich für Zusammenhänge, Strukturen und Handlungsmuster interessieren, ihre eigene Position daraufhin befragen wollen, ob und wieviel sinnvolles und erfülltes Erleben sich damit verbindet, dann lesen Sie “Der menschliche Kosmos” einfach online – so viel Sie mögen – und stellen Sie Ihre Fragen.

„Der menschliche Kosmos“ ist nämlich Ihrer. Das aktualisierte Vorwort bringt Sie vielleicht auf die Spur.

Einsame Größe, Netzwerk fürs Leben: Die Pilze

Titelbild zu "Das geheimnisvolle Leben der Pilze"

Kein Lexikon oder Bestimmungsbuch: Eine Expedition

Wer das Staunen nicht verlernt hat, für den ist dieses Buch ein Fest. Robert Hofrichter hat das Verwundern seiner Kinderzeit über Artenreichtum, Formenvielfalt und delikaten Geschmack der Pilze zum Beruf gemacht: Er ist ein leidenschaftlicher Pilzforscher geworden. Er hat dabei, obwohl er über wahrhaft erschöpfende Kenntnisse verfügt, die Neugier ebenso bewahrt wie seine Entdeckerfreude – über die eigenen Arbeiten hinaus. Damit hat er mich derart angesteckt, dass ich unmöglich sagen könnte, welches der 16 Kapitel mich am meisten gefesselt hat.

Hofrichter führt seine Leser durchs unterirdische Reich der Mykorrhiza, wo die Wurzeln der Pflanzen von Pilzen umwoben werden, manche sogar Pilzfäden in ihr Inneres aufnehmen: Beider Stoffwechsel ergänzen einander – „bis dass der Tod sie scheidet“. Tatsächlich ist dieses Sachbuch voller Poesie, und zwar völlig kitschfrei und ohne anthropomorphe Sperenzchen. Sein sympathischer Grundton ist die Liebe des Autors zu seinem Gegenstand: Pilze sind ihm exemplarisch für das große, kostbare Geschenk des Lebens. Er erzählt, wie er seine Frau auf einer Pilzwanderung kennenlernte, wie beide alljährlich das Wachsen und den Wandel dieser eigenartigen Wesen verfolgen, er reist mit uns über Kontinente, durch Wüsten und Meere, er reist Jahrmillionen zurück in die Entwicklungsgeschichte oder in die Steinzeit, als „Ötzi“ den Zunderschwamm, einen Baumpilz, zum Feuer machen und als Heilmittel nutzte. Die alltägliche Begegnung mit dem Speisepilz verbindet er mit kulturhistorischen Anekdoten über Giftmörder, er kennt sich mit Pilzen im Schamanismus, in Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) so gut aus wie in der Mikrobiologie, er zeigt, wie Blattschneiderameisen und Termiten lange vorm Menschen Pilze züchteten. Wir erfahren beim Lesen etwas über die Systematik der Biologie, und wie sie durch immer neue Erkenntnisse von Pilzen – etwa über Flechten – umgewälzt wird. Hofrichter erzählt das alles unangestrengt und unterhaltsam. Das kann nur einer, der gleichermaßen für seine Wissenschaft, fürs Schreiben und die Pädagogik begabt ist. Er verbindet Detailschärfe mit souveränem Überblick.

Zu dieser Befähigung gehört auch, wie er seine Quellen nutzt: Hofrichter bindet Zitate geschickt ein, merkt sorgsam an, bekundet historischen und zeitgenössischen Forschern seinen Respekt. Register und Fotos werden viele Pilzsucher anregen. Zum Schluss, nachdem er Arten- und Formenreichtum der Pilze,  ihr Miteinander mit anderen Lebensformen und den unschätzbaren Wert für die Natur und uns Menschen noch einmal gewürdigt hat, schaut Hofrichter in die Zukunft: Da bleibt unendlich viel zu erforschen, nicht nur was die Eigenarten der Pilze, sondern auch was ihre Rolle in der Biotechnologie und Ökologie anlangt.

Ich gestehe, kein unvoreingenommener Leser zu sein, denn ich bin von Kindesbeinen an „Pilzfan“. Das heißt: Publikationen zum Thema lese ich womöglich besonders kritisch. Wer Kindern Natur und Naturforscher nahebringen möchte – egal ob als Eltern, Lehrer oder in einer Organisation – darf sich getrost diesem Buch anvertrauen, denn es beweist, dass Unverstandenes, Unbeachtetes, Seltsames, auch Irrtümer die Arbeit des Forschers leiten – nicht das quotenverstärkt Banale und das vermeintlich am besten Verkäufliche. In diesem Sinn wäre ihm ein weniger werbeschwülstiger und einfallsloser Titel zu wünschen gewesen.

Robert Hofrichter „Das geheimnisvolle Leben der Pilze – Die faszinierenden Wunder einer verborgenen Welt“, Gütersloher Verlagshaus, 240 Seiten, 19,99 €

Ein tragischer Held – links, grün, vergessen

Bahro

Vierzig Jahre werden es, dass Rudolf Bahro seine radikale Abrechnung mit dem “real existierenden Sozialismus” in Buchform fasste. Die DDR-Oberen hatten 1976 gerade Wolf Biermann ausgewiesen, die kulturelle Landschaft riss auseinander, nicht nur wegen Biermann, sondern auch wegen der vielen anderen, die sich an seine Seite stellten und nun erpresst, bedroht, bedrängt oder bestochen wurden, auf dass sie widerriefen. “Die Alternative” durfte natürlich nicht in der DDR erscheinen, ihr Autor wurde von der Stasi inhaftiert, als er das Buch 1977 im Westen veröffentlichte.

Zehn Jahre später las Bahro dem Westen die Leviten und prognostizierte ökologische und soziale Katastrophen. Ist seine Analyse überholt? Es lohnt sich, angesichts der Konflikte unserer Tage das Scheitern dieses “linksgrünen Propheten” noch einmal genauer anzuschauen. Was haben heutige Weltenretter und Verkäufer linksgrüner Rezepte mit Bahro gemein? Wie sähe er es, wenn unter schadenfrohen Kommentaren autoritärer Regimes und ihrer Mitläufer lechtsrinke (oder rinkslechte) Heilsbringer demokratische Grundwerte zersetzen, wenn Tendenzen zum fürsorglich-bevormundenden Staat den Wert individueller Freiheit in Frage stellen wie einst in der DDR, wenn dem Bürger ein Korsett politisch korrekter Gesinnung aufgeschwatzt , Sicherheit vor Freiheit wieder zur Raison d’être wird?

Vor zehn Jahren habe ich ehemalige Weggefährten Bahros befragt. Das Radiofeature auf SWR 2 enthält frappierend aktuelle Einsichten in den Unsinn und die Gefahren utopischer Konstrukte mit Massenwirkung. “Den Fürsten der ökologischen Wende”, von dem sich Bahro die Weltenrettung versprach, hat es nie gegeben. Heerscharen von gewaltbereiten Mitläufern für alle möglichen Heilsversprechen gibt es. Viel mehr als er gern auf seiner Seite gehabt hätte.

Lektionen von Liebe, Vertrauen und Glück

„Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Friedhof in Gernsbach

Friedhof in Gernsbach

Dietrich ‪Bonhoeffer‬ beschloss so sein Gedicht im letzen Brief aus der Haft 1945 an seine Mutter und seine Verlobte. Maria von Wedemeyer wurde nach ihrem Tod 1977 in ‪Gernsbach‬ bestattet; eine Gedenktafel mit dem Gedicht erinnert neben dem Eingang zum Friedhof an ein mutiges Leben und eine unerfüllte Liebe. An einem Tag wie heute findet einer dort Hoffnung, Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens, Ermutigung gegen die Banalität des Bösen.

Was macht diese Banalität aus? Zur – erfolgreichen – Grundausstattung menschlicher Wahrnehmung und menschlicher Verhaltensimpulse gehört, auf Angst einflößende Eindrücke sehr schnell aggressiv reagieren zu können: Mit Draufschlagen – aktiv – oder Verweigern – passiv. Das Repertoire einschlägiger Handlungen ist viel größer als das Repertoire menschlicher Zuwendung. Die Mienen des Hasses, des Ekels, drohende Gesten und andere aggressive Signale  nonverbaler Kommunikation sind – das lässt sich schon bei kleinen Kindern beobachten – viel leichter abrufbar als Signale der Sympathie. Ausnahme: Das wohlfeile und unspezifische Lächeln. „Seien wir nett zueinander und tun wir uns nichts“: Das ist ein guter, in der Regel erfolgreicher Einstieg fürs Kommunizieren – oder eine lügnerische Falle. Bohoeffers Gedicht fehlt dieses gleisnerische Lächeln, es ist tiefernst:

1. Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

2. Noch will das Alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

3. Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.

4. Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.

5. Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.

6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

7. Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

So fasst einer im Angesicht des Todes seine Liebe zum Leben in Worte. Derlei passt freilich nicht in eine Spaßgesellschaft, die davon lebt, schnell und schillernd Feindbilder entstehen zu lassen und auszumalen. Das Böse, die Bösen – sei ’s in Effigie – zu verprügeln ist sexy, garantiert Applaus und gutes Ansehen bei den Guten. In der Euphorie von Quoten und Klickzahlen arbeiten all diese Guten, die bei genauem Hinsehen leider nur Gutmeinende sind, Hass und Gewaltherrschaft zu. Es kostet sie nichts. Sie verdienen gut damit, sich selbst und die Beifall blökende Herde gut aussehen zu lassen. Im Knast, in den Lagern saßen und sitzen andere, denen die Gutmeinenden aus der Entfernung und im Nachhinein nicht mehr schulden als billige Mitleidsrituale und eine gewisse Ehrfurcht: Lippenbekenntnisse.

Bonhoeffers Gedicht aus der Todeszelle dagegen gibt dem Einzelnen das Vertrauen zurück: Ob er an einen Schöpfer glaubt oder nicht – menschliche Größe bemisst sich an Qualität, nicht an Quantität.

War das jetzt zu kompliziert für Sie? Ich glaube nicht. Ich folge nicht jener Logik von Medienmachern in Öffentlich-Rechtlichen oder privaten Anstalten, nach der die Mehrzahl der Menschen zu einfältig ist, Konflikte anders zu verstehen, als wenn sie in öden journalistischen Ritualen aufs Niveau von Deppen „heruntergebrochen“ sind. Viele Politiker und Journalisten kehren Konflikte zum Zweck eigener Daseinsvorsorge unter den Teppich, oft und lange erfolgreich – Lösungen haben sie nicht anzubieten. Das wollen sie auch gar nicht. Sie wollen Klicks und Quote, massenhaft. Der Einzelne soll in ihrer Rechnung vernachlässigt werden können. Das ist das Grundprinzip des Sozialismus – auch des Nationalsozialismus. Bonhoeffer – leider zu wenige Einzelne mit ihm – sind dieser Rechnung nicht gefolgt.