Die Lust des Erinnerns – 50 Jahre Playboy Deutschland

„Wir nehmen Sie mit auf eine opulente Zeitreise durch fünf Jahrzehnte Magazin- und Mediengeschichte“, verspricht PLAYBOY-Chefredakteur Florian Boitin im Editorial eines großformatigen Bildbandes, und damit hat er – zumindest mir – nicht zuviel versprochen.
Die 70er und 80er Jahre waren nicht nur im Westen Deutschlands wildbewegt für junge
Männer und Frauen zwischen 20 und 30. In der DDR waren sie zwar physisch, aber durchaus nicht informell völlig isoliert. Abgesehen von grenzüberschreitendem Fernsehen und Radio konnten sie in den Reichtümern der Weltliteratur, von Film, Musik, Theatern, Museen, Naturschönheiten schwelgen, zu denen ihnen nicht Mauer, Stacheldraht und Zensur den Zugang verwehrten. Manchmal rutschte auch ein „Playboy“ illegal durch die Grenzkontrollen, und in Bars, Diskotheken, an FKK-Stränden oder bei Reisen nach Prag, Budapest, in die Hohe Tatra oder ans Schwarze Meer erhaschten sie zumindest einen Zipfel
von jenem Leben in Freiheit, um dessentwillen ein geschmuggeltes Heft zum Objekt der
Begierde werden konnte.

„Boy meets girl“, treibt die Jugend immer und überall auf der Welt; außereheliche und gleichgeschlechtliche Liebesabenteuer waren im „Arbeiter- und Bauernstaat“ sogar früher geduldet bzw. legal als in der Bundesrepublik. Vor allem Westberliner jeglicher nationalenIdentität wussten den Komfort von Interhotels und die Neugier östlicher erotischer Avancen zu schätzen. Bevor ein Playmate aus diesen Provinzen in Hochglanzfotos erschien,dauerte es freilich bis zum Januar 1990. Danach wurde Deutschland einig Playboyland.

Vermutlich war der Widerstand gegen diese Form des „Anschlusses“ kaum spürbar, weil
all die Jahre zuvor das Begehren nach Lifestyle, Literatur – erotischer zumal – ebenso wie
nach schnellen Autos, Mode,Interviews mit Stars und Prominenten ununterdrückbar war,
so sehr auch marxistisch-leninistische Moralprediger den Kapitalismus und seine Dekadenz verteufelten. Im Gegenteil.

Es ist schade, dass der Jubiläumsband diese Unterströmungen, auf die er nicht geringen Einfluss hatte, weitgehend auslässt. Allein die Wirkung von „Der dressierte Mann“ – Esther Vilars Sensationserfolg im ersten Jahr des deutschen Playboy – wurde nicht nur im freien Teil des Landes diskutiert. Das Buch wurde herumgereicht, und das Interview mit der 86jährigen Autorin erfreut heute wieder den Leser: Sie passt nach wie vor mit ihrer unangestrengten Offenheit und ihrem Humor ins Konzept liberaler Emanzipation.

Mit Interesse habe ich auch anderen Interviews (wieder-)gelesen, und es ist wohl die größte Stärke des Jubiläumsbandes wie auch vieler Ausgaben im Laufe der 50 Jahre, sowohl Begabungen entdeckt als auch bedeutende Künstler – etwa Salvador Dali, Andy Warhol, Helmut Newton – mit ihren Arbeiten präsentiert zu haben. Ein eigenes Kapitel gehört der „Literaturgeschichte“, in der sich neben Stephen King, Ethan Coen, John Updike, auch Quentin Tarantino findet: Ein von Zach Meyer gezeichneter Comic illustriert den Anfang seines Filmes „The Hateful Eight“. In lakonischen Sprechblasen äußern sich Witz und gestische Präzision des Regisseurs.

Natürlich wird sich der Betrachter vor allem von den Aktphotographien, Covers und Centerfolds bestricken lassen, die schöne Frauen ästhetisch bestechend ins Bild setzen. Mancher von ihnen wird vielleicht begreifen, dass in jedem Mann ebensogut ein wenig Playboy steckt, wie in jeder Frau. Der Sog erotischer Träume hat das Magazin zu einem Welterfolg gemacht.

Das Buch offenbart die wesentlichen Züge darin, die Zeiten und Moden bis heute überdauerten. Es ist eine Schatztruhe, nicht nur wegen des Inhalts, sondern wegen der Anregungen, sich mit den Geschehnissen und Akteuren, mit Künsten, Literatur, Autos, Lebensweise eines halben Jahrhunderts noch einmal näher zu befassen. Was blieb? Was wird blei
ben?

Da wir gerade wieder erleben, wie sich Perspektiven wandeln, leider auch, wie Heuchelei und Prüderie den öffentlichen Raum zurückerobern, stellt sich unvermeidlich die Frage, wie es mit der stilbildenden Ikone Playboy weitergehen mag. Die Präsenz im Internet ist ästhetisch auf der Höhe der Printausgaben; inhaltliche Zugeständnisse an den Zeitgeist – etwa Rankings – gehörten seit je zum Programm. Im Buch spielen sie nur in Bezug aufs „Playmate“ des Jahres, gar des Jahrhunderts mit. Die Webseite ist erfreulich werbefrei, es gibt ein Premium-Abo mit einem Meer von Bildern und Videos – ich werde es niemals nutzen. Ich gestehe, dass ich auch das Heft nur sehr selten in die Hand nahm, selbst als die Mauer weg war. Denn was Politik, Medien und Gesellschaft anlangt, schwimmt der Playboy im Mainstream. Der Markt mag ihm Recht geben.

Wenn gleichwohl die Publikation künftig auf qualitative Stärken baut, die das Buch zu seinem fünfzigsten Erscheinungsjahr offenbart – Individualität, Originalität, Kreativität, Mut über bloße Strategien gefälligen Marketings hinaus –, wenn der Playboy Autoren und Lesern mit eigener Sicht auf die Welt, mit Selbständigkeit und kritischem Geist vertraut, könnte seine Geschichte durchaus 100 Jahre dauern. Wer das noch miterleben kann, dem sei die 50-Jahre-Ausgabe als Referenz empfohlen.





Wuhan – ein Dokumentar-Roman

Meine Frau ist Chinesin und beteuert, dieses Stereotyp sei von ihren Landsleuten selbst erfunden worden. Es mag albern sein, aber zahllose Hungersnöte mit Millionen Opfern bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein verleihen ihm Sinn. Tatsächlich ist die chinesische Küche unglaublich einfallsreich. Zutaten werden auf mannigfache Weise genutzt, zubereitet, mit Kräutern und Gewürzen veredelt, immer neu komponierte und abgewandelte regionale Gerichte kommen auf den Tisch, und der Gesprächsstoff bei Mahlzeiten – ob schmal oder üppig – ist mitgeliefert: das Essen und seine Wirkung auf Leib und Seele. Für Exotisches, möglichst mit wundersamer Wirkung etwa auf Lust und Fruchtbarkeit, werden exotische Preise gezahlt. Chinesische Küche und chinesische Medizin wachsen auf einem Holz – seit Jahrtausenden.

Beide sind auch seit langem Forschungsobjekte nicht nur in China. Was ist solides Erfahrungswissen, was Aberglaube an der traditionellen Heilkunde? Was lässt sich profitabel ins moderne Gesundheitswesen übernehmen? Lässt sich das Holz veredeln, wild wachsender Hokuspokus eliminieren? Eine heikle Aufgabe, nicht weniger heikel als die, wahre von falscher Information zu unterscheiden – und im Handumdrehen stellt sich die Frage nach der informellen Macht: Wer hat die Deutungshoheit? Was ist Wissen, was Glaube? Was ist Gerücht, Fakenews, gar Verschwörungstheorie?

Streitbares Modell: ein Dokumentar-Roman

Die Kommunistische Partei Chinas hat – wie alle, die auf Religionen oder ersatzweise Theorien von Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao gründen – nur eine Antwort. Sie duldet keine abweichenden Auf-fassungen, sie verfolgt gnadenlos alle, die sie vertreten. Zu ihnen gehört Liao Yiwu, ein radikaler Beobachter des Wildwuchses. Seine Romane sind voll davon, das brachte ihn ins Gefängnis, trieb ihn ins Exil. Nun kann er nicht mehr selbst eintauchen in die verschwiegenen Tiefen der Gesellschaft, wie in „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“, das ihn berühmt machte. Er ist auf Tauchgänge im Internet angewiesen. Dort fischt er nach Wahrheiten in Gesellschaft all jener, die sich aus der Stromlinie regierungsamtlicher Informationen, aus den Schwärmen der Nutznießer, Profiteure, Karrieristen lösen, Überwachungssysteme, Schikanen, umgehen, Drohungen missachten: im Trüben.

Das Geschehen der Covid-19-Pandemie ist eine Lektion darüber, wie Regierungen, supranationale Organisationen, Konzerne und ihnen dienstbare Medien den Kampf um die informelle Macht führen, wie sie opake Zonen in Wissenschaft und Kommunikation schaffen, Sprache regulieren, ritualisieren, tabuisieren. Und doch gelingt es immer wieder einzelnen, im Web vernetzten „Querdenkern“, Sach-verhalte und Zusammenhänge aufzuklären. Sie werden – in China zumal – erbarmungslos gehetzt. Kcriss ist einer von ihnen, ein 25jähriger Blogger und V(ideo)logger, ehemals aufstrebender Moderator im Staatsfunk.

„Wuhan“ beginnt mit einer Autojagd von Sicherheitsdiensten, nachdem sich Kcriss einem streng geheimen P4-Labor genähert hat, dem Ort, an dem mit Fledermausviren experimentiert worden war, dem möglichen Ursprung der tödlichen Seuche. Ehe seine Wohnung von Sicherheitsleuten in Schutzanzügen gestürmt und er weggeschleppt wird, gelingt ihm, eine letzte Videobotschaft herauszusprudeln, sie landet auf dem Computerbildschirm von Zhuang Zigui, dem erzählerischen Ich von Liao Yiwu in Berlin.

Um die Geschichte des „Wuhan-Virus“ aufzublättern, erfindet Yiwu ein Gegenüber in China, den Freund und Historiker Ai Ding, der aus Berlin nach China just in den Beginn des Lockdowns hinein geflogen ist, von Frau und Tochter dadurch abgeschnitten wird. Mit allen Mitteln versucht er, nach Hause, nach Wuhan zurückzukehren.

Daraus wird eine Odyssee. Der Leser lernt die schaurig-komischen und brutalen, die lächerlichen und grandiosen Tricks, Winkelzüge, Kraftakte, Schelmenstreiche, Liebesbeweise und Rücksichtslosigkeiten kennen, mit denen Chinesen im Reich der Kommunisten, geführt von Xi Jinping, ums Überleben kämpfen – so sie sich nicht bedingungslos ins System von Überwachung, Kontrollen, Isolation, Desinfektionsorgien fügen.

Während des mehrwöchigen Herumirrens schafft es Ai Ding, aus dem Ozean des Internets brauchbare Dokumente über die Geschichte der SARS-Infektionen und die Forschung an Corona-Viren, über das geheime P4-Labor, die Reaktionen politisch Verantwortlicher bis hinauf zum „Kaiser“ herauszufischen, verlässliche von irreführenden Informationen zu trennen und – von Taucherglocke zu Taucherglocke – mit seinem Freund in Berlin auszutauschen. Keine konfliktfreie Zwiesprache, aber für jeden, der sich mit Politik und Medien in Zeiten von Lockdowns, Kontaktsperren, Maskenpflicht und Erlösung durch Impfen befasst hat, vervollständigt sie kontrastscharf und einleuchtend Karten politischer, medialer, virologischer, epidemiologischer, immunologischer Ströme, Untiefen – auch die verschmutzter und tödlicher Zonen nicht nur in China. Für alle, die an Stereotypen hängen: Nein, das Virus wurde nicht durch Verzehr von Fledermäusen, Schuppentieren, Larvenrollern übertragen, sondern entkam höchstwahrscheinlich dem für absolut sicher gehaltenen, von Franzosen und Chinesen gemeinsam eingerichteten und von Amerikanern wie Anthony Fauci mitgenutzten P4-Labor.

Liao Yiwu schöpft seine erzählerischen Fähigkeiten aus, aber damit nicht genug: Er reflektiert über das bedrohliche Potential des Wahns totaler Kontrolle vom Typ „No Covid“, zweifelt an der Wirkung seines Schreibens, lässt dem eigentlich Mitte 2020 abgeschlossenen Teil einen Epilog mit der „Wuhan-Elegie“ der Bloggerin Zhang Wenfang folgen, die dafür arretiert, zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden war, dazu seine bittere Ballade: „Spucke ist meine einzige Waffe“. Er dankt in kurzen Artikeln Helfern, Freunden, Übersetzern, so auch Brigitte Höhenrieder und Peter Hoffmann, die den „Dokumentar-Roman“ ins Deutsche übertragen haben; wie schon bei früheren Büchern des Autors taten sie es brillant.

Ein letztes Nachwort widmet Liao Yiwu der Bürgerjournalistin Zhang Zhan. Auch sie wollte über das P4-Labor berichten, wurde abgeholt, verschwand für Monate, wurde misshandelt, zu jahrelanger Haft verurteilt, trat in Hungerstreik und war im November 2021 dem Tode nah. Das Stereotyp vom deutschen Spitzel, Büttel, Gefängniswärter fällt mir ein. Er erfüllt nur seine Pflicht „zum Wohl des Großen, Ganzen“, unerschüttert durch das Leid im Leben der Anderen. Und dazu der Refrain aus einem Gedicht von Peter Rühmkorf:

Bleib erschütterbar und widersteh‘!

Liao Yiwu „Wuhan“, Übersetzt von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder, Verlag: S. FISCHER, Erscheinungstermin: 26.01.2022, 352 Seiten

Verfallende Kulturen

„Es steht geschrieben…“ war einmal eine gewichtige Einleitung zu argumentieren; „Es heißt…“, oder „Man sagt…“ dagegen mit erheblicher Unsicherheit behaftet. Sollte also eine Geschichts-Schreibung verlässlicher sein als Heldenepen, Mythen, gar Gerüchte? Auch Historiker kommen seit jeher nicht ohne überlieferte oder aus Artefakten konstruierte Mutmaßungen aus, schon gar nicht ohne Impulse und Motive. In einer unübersichtlichen Landschaft aus halbwegs verlässlicher Dokumentation, Fabuliertem und schierer Propaganda hat noch niemand letzte Wahrheiten über Geschehenes, geschweige Aktuelles oder gar Zukünftiges gefunden. Dies umso weniger, wenn der über 3000 Jahre zurückliegende Untergang einer Zivilisation betrachtet werden soll, die als „Bronzezeit“ geläufig ist. Fast jeder hat in der Schule von ihr gehört und in Museen der Frühgeschichte Exponate bestaunt – etwa im Vorderasiatischen und im Neuen Museum zu Berlin

Von Ägypten, zum Zweistromland, Anatolien und der Ägäis: Globale Wirtschaft und Kultur?

Wenn einer aber zu überblicken versucht, welcher gewaltige Aufwand in den vergangenen etwa 300 Jahren für archäologische Forschung rund ums Mittelmeer und in angrenzenden Ländern getrieben und wieviel darüber geschrieben wurde, nimmt er sich schier Unmögliches vor. Eric H. Cline hat sich nur mit der Frage beschäftigt, wie dort in zahllosen Artefakten, auf Keilschrifttafeln und in Hieroglyphen erhaltene Zeugnisse einer blühenden Kultur zugleich deren innere Dynamik wie ihren Verfall bekunden. Ein Literaturverzeichnis von 36 eng bedruckten Seiten weist darauf hin, wieviel Sachkenntnis und hartnäckige Recherche er brauchte, um auf 230 Seiten vom Ende der Bronzezeit zu erzählen. Und der Leser sieht sich einer fast ebenso riesigen Menge von Anmerkungen gegenüber, wenn er Details nachgeht. Ein Blick auf die Liste der „Dramatis Personae“ überzeugte mich ebenso wie das Lesen der ersten Kapitel mit vielen Ortsnamen und der Vorgeschichte beteiligter Völker – von den Ägyptern über Assyrer, Hethiter, Ägäer, Kanaaniten – sogleich, dass ich als interessierter Laie an die Grenzen meines Vorstellungsvermögens stoße.

Ich habe also zweimal gelesen, und das hat mein Interesse noch befeuert. Cline kommt nämlich zu dem Ergebnis, dass es eine durch wirtschaftliche, politische und kulturelle Interaktionen vernetzte, heutigen globalen Verhältnissen durchaus vergleichbare multiethnische Welt war, die sich über einen Zeitraum von nur etwa hundert Jahren auflöste. In drei Kapiteln erzählt er die Vorgeschichte. Besonderen Raum nimmt dabei Ägypten ein, dessen Handelskontakte und florierende Wirtschaft über Jahrhunderte andere Völker überragten und dessen Kultur und Religion besonders gut erforscht sind. Es sind ägyptische Bildwerke, auf denen auch die sogenannten Seevölker und eine ihrer Seeschlachten mit Ägyptern abgebildet sind. Herkunft, ethnische Wurzeln, Sprache ebenso wie Auftauchen und Verschwinden dieser Seevölker geben Forschern bis heute Rätsel auf, obwohl sie mit ihren Überfällen auf sämtliche Arainersaaten des östlichen Mittelmeeres zu Niedergang und Zusammenbruch der bronzezeitlichen Kultur erheblich beigetragen haben.

Während Tontafeln, Inschriften auf Stelen, Keramiken oder Fresken bekunden, wie Handel und Handwerk zwischen Völkern und ihren Städten wie Babylon, Assur, Tyros, Memphis, Ugarit und der gegenüberliegenden Insel Zypern, dem weit entfernten Kreta, Mykene, Troja blühten, sich Sprachen und Schriften beeinflussten – es gab mit Akkadisch sogar eine „lingua franca“, die im diplomatischen Gebrauch war – fanden sich kaum Spuren, die als charakteristisch den Seevölkern zuzuordnen waren. Aber das Besondere an Clines Buch ist, dass es eine Fülle von archäologischen Untersuchungen zusammenführt, mit denen sich belegen lässt, wie nicht allein Überfälle und Zerstörungen die bronzezeitliche Blüte erstickten, sondern wie Erdbeben, klimatische Veränderungen, vor allem Dürre und folgende Hungersnöte dabei mitwirkten.

Immer neue Unschärfen und Unklarheiten tauchen beim Lesen der vielstimmigen Diskussion unter Archäologen auf und führen zu neuen Fragen: Was weiß man heute genau über die demographischen Verhältnisse der in dieser frühen Form von „Globalisierung“? Dass die Staaten zentralistisch von Palästen aus regiert wurden, dass große Städte ca. 8000 Einwohner hatten ist bekannt, aber wie wirkten sich die erkennbaren Katastrophen aufs innere Gefüge aus? Unsichtbare Mitspieler müssen Seuchen gewesen sein, die sich fast immer im Zuge von Naturkatastrophen, Krieg, und Reisen ausbreiten. Dank der besonderen Begräbniskultur der Ägypter wissen wir vom Tod in den Fürstenhäusern und unter hohen Beamten – aber wie starben Sklaven, Bauern, Handwerker? Sie waren zu unbedeutend, jemals erwähnt zu werden, ihre Lebenserwartung war vermutlich gering, der Tod ein alltägliches Ereignis. Soldaten – immerhin ein besonder Beruf – zählten nur als gefallene Gegner, je mehr, desto größer der Ruhm, vielen wurden Hände als Trophäen abgehackt. Zweifellos haben Feld- und Seuchenzüge demographische Verläufe ausgeprägt, ebenso Migrationen. Die deutlichste scheint von der Ägäis auszugehen, über Land und Meer alle Küsten des östlichen Mittelmeeres ergreifend, wobei sich unterschiedlichste Ethnien mischten oder verdrängten.  Nach dem Niedergang der Hochkultur setzten sich spontane, robuste, dezentrale Wirtschaftsformen durch – Strategien des Überlebens.

Mit dem eigentlichen Untergang der Kulturen befasst sich Erik S. Cline vom vierten Kapitel an. Beispielhaft stehen dafür die Ausgrabungen in der nordsyrischen Hafenstadt Minet el-Beida und – ausgehend von dort – der Hauptstadt des Königreiches Ugarit. Dort fanden sich Zeugnisse des florierenden Handels und verschiedener Sprachen rings ums östliche Mittelmeer. Das Ugaritische hatte bereits ein frühes Alphabet. Insgesamt war das vorgefundene Schriftgut derart umfangreich, dass Ugaritologie zu einem eigenen Forschungszweig avancierte.

Während sich in vielen anderen Städten nach schweren Schlachten, Bränden, Beben, fast immer Neuansiedlungen fanden, dort Verbindungen über See und Land selbst zu entfernteren Handelspartnern so weit intakt blieben, dass der Güteraustausch wieder in Gang kam, wurde Ugarit bei einem Angriff vollkommen zerstört. und verlassen. Das Königreich war Vasallenstaat der Hethiter, aber dieses bis Mitte des 13. Jahrhunderts v. Chr. mächtige Reich löste sich wenig später vollkommen auf.

Es leuchtet ein, dass der Autor viele Ursachen des Verfalls zu einem komplexen Geschehen zusammenfasst, am Ende die Komplexitätstheorie ins Spiel bringt und damit systemisches Versagen eines von vielen – divergierenden – Kräften beeinflussten Netzwerks der Abhängigkeiten. Die herrschenden Eliten hatten offensichtlich keine Strategien, auf das Zusammenwirken von Naturkatastrophen, Freibeuterei, inneren Spannungen, Migration zu reagieren. Interessant wäre hierbei, inwiefern Religionen in die Krise kamen, weil ihre Normen setzende und durch Rituale im Alltag befestigende informelle Macht dahinschwand.

Vergleiche zum Untergang anderer Kulturen drängen sich auf. Cline erwähnt die Maya, mir fallen die Ablösung der Ming-Dynatie in China durch die von Nordosten vordringenden Mandschu und – wesentlich dramatischer – deren Niedergang als Qing-Dynatie unterm Druck der westlichen Imperien am Ende des 19. Jahrhunderts ein. Er beendete eine Jahrtausende alte Kultur chinesischer Kaiserreiche. Das wechselvolle 20. Jahrhundert, gezeichnet vom gescheiterten Versuch der Guomindang, westliche Wirtschafts- und Poltitkmodelle zu etablieren, von der blutigen Invasion der autokratischen Japaner, dem Sieg der Kommunisten unter Mao Zedong, hätte die Traditionen des alten China beinahe ausgelöscht. Sie überlebte, angepasst an ein bis heute erfolgreiches, mit totalitären Grausamkeiten einhergehendes Regime der KPCh auf der Basis kapitalistischen Wirtschaftens. Der Kampf um dessen globale Dominanz ist in vollem Gang.

Cline bezieht sich auf den Komplexitätsforscher Ken Dark, wenn er feststellt, die bronzezeitliche Vernetzung soziopolitischer Strukturen habe zu gesteigerter Komplexität geführt, und je komplexer ein System, desto wahrscheinlicher sei sein Zusammenbruch. Das Ende des osteuropäischen Sozialismus bestätigt das Muster: Rudolf Bahro analysierte 1977 in seinem großes Aufsehen und noch größere Wut der sozialistischen Partei- und Staatsführung erregenden Buch „Die Alternative“, wie die ungehemmt in die Tiefe und Breite wuchernde Politbürokratie Wirtschaft und Kultur immer mehr erstickte, die Fixierung der Herrschenden auf Deutungshoheit sie zugleich in strategischer Starrheit gegenüber äußeren und inneren Anforderungen gefangen hielt – bis zum Kollaps.

Dass der Zusammenschluss west- und osteuropäischer Staaten zur EU mit einem deutlichen Zuwachs an Komplexität – also wechselseitiger Abhängigkeit in existenziellen Konfliktfeldern wie der Finanz-, Energie-, Migrationspolitik – einhergeht, muss man niemandem mehr erklären. Die Corona-Pandemie zeigt es nur einmal mehr. Wenn Politiker starr und unter Missachtung kritischer Stimmen der Strategie „Mehr Desselben“ folgen, weil ihre Deutungshoheit nicht angetastet werden darf, führen sie nicht nur ihr eigenes Land, sondern das Gefüge globalisierter Staaten in Situationen, die unbeherrschbar werden. Insofern weist „Der erste Untergang der Zivilisation“ zwar nicht auf den Weltuntergang hin, wohl aber auf den einer Zivilisation, deren Blüte noch vor dreißig Jahren gerade erst zu beginnen schien.

Rezensent sein? Immer noch nicht

Borck_Organisation
Anspruchsvolle Lektüre aus der Praxis für die Praxis

Gebhard Borcks Buch “Chef sein? – Lieber was bewegen!” hat mir sehr gefallen, weil es die Probleme und Konflikte der – am Ende erfolgreichen – Transformation eines Unternehmens genau und ehrlich beschreibt. Den Titel habe ich damals paraphrasiert, weil mir seine Arbeit sympathisch ist, mir angesichts des interessanten Stoffs Quengeleien über Sprache und Stil fern lagen. So ähnlich geht es mir auch mit dem neuen Buch, aber aus anderen Gründen.

Zum einen stehe ich der Vielfalt an Konzepten, Modellen, Methoden in betriebswirtschaftlichen Debatten, von denen darin die Rede ist, mit ziemlicher Unkenntnis gegenüber, zum anderen sehe ich grundlegende Empfehlungen fürs Handeln, die der Autor als “Playbook” (Ach! übers unvermeidliche Denglisch!) ausbreitet, mit Neugier und einiger Befriedigung.

Das liegt daran, dass ihre psychologischen und soziologischen Wegweiser den meinen ähneln. Gebhard Borck bezieht sich etwa auf Arbeiten von Viktor Frankl und Erich Fromm, und er nutzt beim praktischen Umsetzen der von ihm initiierten Veränderungen in Unternehmen auch Uwe Renalds Müllers Buch “Machtwechsel im Management”, das 1999 verdientermaßen den “American Business Book Award erhielt. Müllers früher Tod nach schwerer Krankheit kam dem Beweis der Praxistauglichkeit zuvor. Umso erfreulicher, dass seine klugen Analysen und Vorschläge weiterhin angewandt werden.

Mit einem Kunstgriff beginnt’s: Drei „Archetypen“ stellt der Autor vor, liefert dazu gleich passende Vignetten und ordnet ihnen drei Modelle von Führung in Unternehmen zu. Originelle Idee dabei ist, ausgerechnet Pippi Langstrumpf für das autoritäre, hierarchische, in zentral gesteuerten Organisationen zu besetzen. Hoppla: Despot und Anarchistin? Na klar: Sie sind zwei Seiten einer Medaille mit der Prägung „Ich mach mir die Welt, wiedewiedewie sie mir gefällt.“ Dazu hat Pippi sowohl die materielle – Kiste voll Gold – wie informelle Macht, nämlich Zauberkräfte. Alle finden sie toll. Fast alle. Typ zwei ist von der britischen Volkswirtschaftlerin Kate Raworth inspiriert, ein Modell der Ökonomie insgesamt in Form eines Donuts, mathematisch gesprochen eines Torus. Dieses Modell führt Gebhard Borck durch seinen Text fort, um zu erläutern, wie wichtig das Erkennen von Grenzen für unser Handeln ist. „Auf dem Donut arbeiten“ wird als besondere Perspektive etabliert, etwa so:

„Auf dem Donut wird verhandelt. Hier muss die Organisation lernen, Konflikte zu lösen. Sonst drohen faule Kompromisse. Diese gefährden die Firma, anstatt sie zu stabilisieren. Autorität ist hier ein Talent, kein Bestandteil der Stellenbeschreibung.“

Dazu gibt es als „Alternative“ noch die „Zombie-Apokalypse“: „verwöhnt aufsässige Mitarbeiter und autoritätsberaubt dienende Führungskräfte“, meist Ergebnis fragwürdiger Transformationsversuche unter dem Etikett „New Work“. Aus den drei Rollenperspektiven lassen sich nun sowohl das Geschehen wie Handlungsoptionen in einem Unternehmen betrachten. Natürlich überlagern sie sich in der Realität oft, es gibt Rollenwechsel und Regression, und das gilt auch für die von Uwe Renald Müller definierten drei Systeme der Führung (aggressiv und destruktiv, aggressiv und nicht-destruktiv, kooperativ-lebensbejahend) und zugehörige „Reifegrade“ der ihnen folgenden Gruppen. Gebhard Borck visiert mit seiner Methode der „Betriebskatalyse“ den höchsten Reifegrad an: selbstorganisierend/ selbststeuernd. Im Buch erläutert er „Denkwerkzeuge“, mannigfaltige Wege, Methoden und Mittel, wie das praktisch erreicht werden kann. Er illustriert mit eigenen Schaubildern, Übersichtsplänen und Vignetten – das mag für viele die Orientierung erleichtern. Ausdrücklich besteht er darauf, dass die Katalyse für jede Firma – mit je eigener „DNA“ – einen spezifischen Verlauf nimmt und Rezepte so wenig wie Handlungsschemata kennt.

Entscheidender Vorzug der Katalyse ist, dass sie Widerstände, Krisen und Konflikte nicht abwehrt, sondern als Teil des Prozesses nutzt, um die Organisation lernfähig zu halten. So zumindest habe ich insbesondere den Abschnitt 13.2 verstanden, und hier treffen sich meine Erfahrungen mit denen des Autors. Er kann anhand verschiedener Kunden belegen, dass es funktioniert, freilich nicht ohne gelegentlich dramatisch zugespitzte Situationen. Die Firma Heiler hat jedenfalls dank der dort gereiften Zusammenarbeit die Corona-bedingten Erschütterungen des Jahres 2020 gut gemeistert.

Über das Bild des „Donuts“ im Buch bin ich dann doch gestolpert: Hier verkauft uns der Autor die 2-dimensionale Projektion des Kringels als Modell. Dadurch entstehen fünf getrennte Topoi. Beim echten, dreidimensionalen Torus sind es nur drei: eine Teigfüllung, eine Kruste, die sie umhüllt, und die Umgebung. Interessant sind freilich die Randzonen zwischen Teig und Kruste innen, Kruste und Umgebung außen: Randbedingungen für Interaktionen zwischen Teig und Kruste, Kruste und Umgebung – also Luft oder Öl verschiedener Temperatur beim Backwerk. Wann es „reif“ ist, wie lange es genießbar bleibt – das ist in der Praxis schon eine ziemlich komplexe Sache. Sie hängt von der Qualität der Zutaten im Teig ebenso ab wie von der Kunst, das Verhältnis von Teig und Kruste zu steuern: irgendwo zwischen knusprig und luftig soll es sein. Am Ende gilt für den Kringelbäcker dasselbe wie für den betriebswirtschaftlichen Katalysator: Erfahrung zählt, und wenn der Kunde anbeißt, beweist sich der Donut – beim Essen.

Gebhard Borck „Die selbstwirksame Organisation“ Verlag Business Village Göttingen, 2020

Wirtschaft im Sozialismus – Reformen, Kollaps, Machtanspruch

cover-jhk-2020Aus dem Abstand von mehr als 30 Jahren erscheint unbegreiflich, dass viele Wirtschaftsexperten, Politiker, Journalisten und Historiker sich nach dem Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus der Illusion hingaben, damit seien Marktwirtschaft, Kapitalismus, Freiheit und Demokratie auf dem Weg zum globalen Erfolg nicht mehr aufzuhalten. Wurde der Aufstieg Chinas, seine Stellung in Südostasien, Ambitionen im pazifischen Raum und in Afrika unterschätzt, weil oder obwohl die Einparteien-Diktatur der KPCh während und nach dem Massaker des 4. Juni 1989 auf dem Tian’anmen ihren Machtanspruch demonstrierte?

Vielleicht konnten sich die meisten nicht vorstellen, dass „sozialistische Marktwirtschaft“ in globalen Beziehungen mit fast allen Staaten funktioniert, wenn eine Ein-Parteien-Diktatur auf starre Pläne für Unternehmen, Binnen- und Finanzwirtschaft verzichtet, die Privatwirtschaft fördert, das Land weitgehend dezentral verwaltet und dem Gros des Volkes ein Leben im Wohlstand erlaubt. Die chinesische Führung zeigt sich zugleich sehr genau über weltweit agierende Kräfte und ihre Strategien informiert, bietet sich als innovationsstarker und verlässlicher Partner an, unterdrückt aber jegliche politische Einflussnahme ebenso rigide wie Opposition im eigenen Lande. Das „Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung“ macht einiges verständlich: Im „real exisiterenden Sozialismus“ des von der UdSSR dominierten RGW waren alle Versuche wirtschaftlicher Reformen an der Angst der ideologietreuen Nomenklatura vorm politischen Kontrollverlust gescheitert – und Gorbatschows „Perestroika“ führte ihn schließlich herbei.

Die Autoren des Jahrbuchs beleuchten nun interessante Querverbindungen und Unterschiede zwischen frühen – fast vergessenen – Reformversuchen in Osteuropa und dem chinesischen Pfad zur ökonomischen Weltmacht. Der Leser erfährt, wie sorgfältig chinesische Experten die Entwicklungen in Titos Jugoslawien, in Polen, Ungarn und der ČSSR analysierten und mit Experten von dort kooperierten, ohne zu kopieren. Denn was dort in den 60er Jahren einige Geburtsfehler sozialistischen Wirtschaftens ausgleichen sollte, erwies sich als wenig erfolgreich – oder wurde aus politischen Gründen abgewürgt wie der Prager Frühling 1968. So war es auch Bemühungen von Deng Xiaoping und Liu Shaoqi Anfang der 60er Jahre ergangen, als sie nach Maos größenwahnsinnigem „Großen Sprung“, der -zig Millionen Hungertote forderte, insbesondere die Landwirtschaft reformieren wollten. Der „Große Vorsitzende“, um seine Macht besorgt, entfesselte die Kulturrevolution, das Land versank im Chaos.

Gleichwohl gab es schon in den 70er Jahren Wirtschaftsbeziehungen in den Westen – noch bevor Henry Kissinger mit seiner „Pendeldiplomatie“ und Zhou Enlai die Beziehungen der USA zu China neu ausrichteten. Die KPCh bestand immer auf Selbständigkeit vor allem gegenüber der Führung in Moskau. Die Beiträge des „Jahrbuches“ über die „Scharnierjahre 1974/1975“, und Chinas Engagement in Tansania zeigen beispielhaft, dass sowohl Mao als auch Deng in ihre Wirtschaftspolitik westliche Firmen einbezogen. Das Bemühen, weltweit als Führungs-macht der „unabhängigen Staaten“ wahrgenommen zu werden, hinderte die Chinesen auch nicht, in Afrika auf Jahre der Solidarität knallhartes Geschäft folgen zu lassen.

Alle wissenschaftlichen Beiträge habe ich mit großem Interesse gelesen; sie sind nicht nur für Fachleute aufschlussreich. Dass die politischen Unterschiede zu Osteuropa nur am Rande erörtert werden, ist kein Mangel. Wer das Geschehen in unseren östlichen Nachbarländern oder auch auf Kuba verfolgt, versteht, weshalb in Polen, Ungarn oder den Baltischen Staaten Globalistische oder sozialistische Parteien weniger erfolgreich sind als hierzulande: Freiheit und Nationalstolz gingen für viele dort mit dem Ende des Ostblock-Internationalismus einher. Für viele Chinesen dagegen gehören die KPCh und der Aufstieg ihres Landes zur Weltmacht zusammen. Liu Xiaobo, der von Xi Jinping zum Sterben aus dem Kerker entlassene Friedensnobelpreisträger, hat den chinesischen Nationalismus und dessen Gefahren in seinem Buch „Ich habe keine Feinde, ich kenne keinen Hass“ charakterisiert. Xi Jinping muss heute nicht einmal „China first!“ verkünden, um auf einen großen Konsens der Bevölkerung rechnen zu können. Nur wenige wagen, um einige Fußbreit politischer Freiheit zu kämpfen. Umso notwendiger bleibt Kommunismusforschung.

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2020 – Machterhalt durch Wirtschaftsreformen. Chinas Einfluss auf die sozialistische Welt. Metropol Verlag Berlin, 256 Seiten, 29,00 €

Preußens Gloria: Schlachten für die deutsche Einheit

Titel zu 70/71Der Krieg, dessen Höhepunkt die Gefangennahme und Kapitulation des französischen Kaisers Napoleon III. war, und als dessen wichtigstes Resultat in Schulbüchern gemeinhin die Proklamation des Deutschen Kaiserreiches im Spiegelsaal des Versailler Schlosses erscheint, ist in Archiven und Sammlungen  sehr gut dokumentiert, darüber hinaus auch in den damaligen Zeitungen. Die Ära der Massenmedien hat begonnen: Illustrationen – meist Stiche nach Photographien – steigern Reichweiten, Attraktivität und Wirkung der Presse enorm,  sie werden das Entstehen und den Verlauf kommender Kriege mitbestimmen. Wie groß die Bedeutung der Propaganda seinerzeit schon war, lässt ein  Bericht der “Gartenlaube” aus den Anfangswochen des Krieges erkennen.

Der Militärhistoriker Klaus-Jürgen Bremm hat eine Gesamtschau politischer, militärischer, technischer Entwicklungen und des Geschehens verfasst; er konnte auf eine kaum fassbare Fülle an Material bis hin zu Berichten von Augenzeugen zugreifen. Er hat klug ausgewählt, lässt beide Seiten und internationale Beobachter sprechen und erzählt so spannend, dass mir von der Einleitung an die Lust am Lesen niemals ausging. Schon die politische Vorgeschichte animierte mich darüber hinaus, im Internet nach weiteren Details zu suchen, etwa zum Chassepot-Gewehr, das dem deutschen Zündnadelgewehr überlegen war, wenn es auch die Niederlagen französischer Armeen letztlich nicht verhindern konnte. Der Autor regt immer wieder an, zukünftige Entwicklungen mitzudenken: dass Logistik und Mobilität der Truppen, auf Eisenbahnen gegründet, den Ausgang von Schlachten entschieden, wie Informationsflüsse von funktionierenden Telegraphen abhingen, wie die Wehrpflicht die deutsche Heerführung begünstigte und auf beiden Seiten der Rückhalt in der Bevölkerung den Kriegsverlauf mitbestimmte.

Wer selbst einmal stundenlang ungeschützt im Schlamm bei Wind und Regen unter freiem Himmel ausharren oder im Schützengraben eine Frostnacht durchstehen musste, hat zumindest eine Ahnung von den Leiden der Soldaten – Verwundung, Gefangennahme, Hunger und Tod kann er sich kaum vorstellen. Offiziere fielen häufig als erste, weil sie den Truppen Vorbild sein wollten; „skin in the game“ würde das heute heißen. Noch gab es Kämpfe Mann gegen Mann, aber deutsche Artillerie, französische Mitrailleusen als Vorläufer der Maschinengewehre wiesen auf die Vernichtungskraft künftiger Militärtechnik, Bombardements von Städten auf entgrenzte Gewalt in länger anhaltenden Konflikten hin.

Selbst in den wenigen Monaten dieses Krieges nahmen die Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung zu. Hunger und Seuchen, Plündern und Vergewaltigen, das Eingreifen von Guerilla, den sogenannten Franctireurs, gefolgt vom Niederbrennen ganzer Ortschaften zur Vergeltung erscheinen in Bremms Buch wie Wetterleuchten späterer Vernichtungsfeldzüge, Genozide, lassen den „Totalen Krieg“ vorausahnen.

Der Autor betrachtet gleichwohl den Triumph der Sieger, die Annexion von Elsass-Lothringen, den Friedensschluss Bismarcks nicht als simple Ursache kommender Weltkriege. Das deutsche Kaiserreich stabilisierte zunächst die europäische Ordnung. Die Schlächtereien des 20. Jahrhunderts bedurften vieler Faktoren – etwa des Emporkommens imperialer Impulse über den bloß nationalen Rahmen hinaus – um unvorstellbare Leichenberge und Zerstörungen zu hinterlassen. Mag auch manchen Sozialisten die Pariser Kommune von 1871 heute noch Probestück einer besseren Gesellschaft sein: Sie trägt den Keim jener Massaker in sich, die totalitäre Systeme im Gefolge kommender Revolutionen prägten.

Mehr als Fakten, Ereignisse und Personen eröffnen sich dem Leser, und über heutige ungelöste – womöglich unlösbare – Konflikte einer auf Frieden zielenden Politik nachzudenken, legt der Autor ihm nahe. Reichlich Stoff für qualifizierten Geschichtsunterricht.

Klaus-Jürgen Bremm „70/71 – Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen“ 336 S. mit 27 s/w Abb. und Karten, 2019 wbg Theiss, Darmstadt.

Unsterblicher Kitsch?

Grau_KitschDen Begriff “Kitsch” gibt es wahrscheinlich erst seit den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, unsicher ist, ob er Lehnwort aus der Sprache der Roma, sicher, dass er als Lehnwort aus dem Deutschen ins Englische, Französische, Türkische, Griechische übernommen wurde. Der Artikel in der “Wikipedia” bietet Beispiele und Indizien, aber Kitsch präzise zu definieren gelang ebenso wenig, wie Dinge aus der Welt zu schaffen, die ihm zugerechnet werden. Alexander Grau, promovierter Philosoph und freier Publizist, widmet dem Phänomen – insbesondere seiner politischen und speziell der deutschen Spielart – einen Essay, den ich mit Vergnügen gelesen habe und weiterempfehle.

Ohne den kenntnisreichen und klug argumentierenden Text verkürzen zu können, drängten sich zwei Gedanken vor: Kitsch ist keineswegs harmlos, und es wird ihn geben, solange Menschen Dominanz- und Herdenimpulsen folgen, also auch noch dann, wenn Außerirdische auf die Überreste unserer Zivilisation stoßen. Vielleicht können sie klären, ob und inwieweit politischer Kitsch für deren Untergang ursächlich war.

Alexander Graus geistesgeschichtlichen Überlegungen zufolge gab es Kitsch schon in sehr frühen Kulturen, er hängt eng mit Religionen zusammen. Das ist nicht verwunderlich, denn in Auseinandersetzungen um die Macht gab und gibt es immer eine materielle und eine informelle Dimension; Kitsch hat einige Qualitäten, die ihn zum kommunikativen Kitt in Kollektiven prädestinieren. Wem es gelingt, einen Kultgegenstand, ein Ritual, eine Person, ein Ereignis im allgemeinen Bewusstsein zu überhöhen, als mehr erscheinen zu lassen, als es wirklich ist, also sich und anderen eine sinngebende, kollektive Bedeutsamkeit vorzutäuschen, wem das gelingt, der erlangt damit informelle Macht. Hat er Erfolg, kann er genügend Anhänger emotional an den (Kitsch-)Kult binden, wird er seine Deutungshoheit befestigen. Auch wenn die harte Realität ihn einmal widerlegt, muss das nicht Konsens und Konformität zerstören; es bedarf dazu katastrophalen Scheiterns, selbst das überlebt der Kitsch meist.

Das liegt zweifellos am Bedürfnis des Einzelnen, sich im Kollektiv geborgen zu fühlen: Die Familie, die Herde, die Organisation versprechen Schutz, Zusammenhalt, Teilhabe auch an materieller Macht – um den Preis konformen Verhaltens und Denkens. Alexander Grau sieht im Kitsch ein hochinfektiöses Pathogen, „insbesondere in Zeiten starker Veränderungen und Verunsicherung, wenn die Menschen anfällig sind für alles, was Geborgenheit verspricht, Nestwärme und Sicherheit.“

Von der säkularen Ausprägung des Politkitschs nach der Französischen Revolution, von seinen ebenso pompösen wie lächerlichen Wandlungen im 19. Jahrhundert, kommt der Autor zu den totalitären Systemen des Faschismus und Kommunismus; in beiden wird der Kitsch allgegenwärtig, sakrosankt – und wer kritische Fragen stellt, wird zum Feind, den es zu isolieren, zu bestrafen, zu vernichten gilt. Er zitiert Milan Kundera: „Unter diesem Gesichtspunkt kann man den sogenanten Gulag als Klärgrube betrachten, in die der totalitäre Kitsch seinen Abfall wirft.“

Sowohl der faschistische wie der antifaschistische und kommunistische Kitsch haben die Zusammenbrüche der jeweiligen Systeme trotz Millionen Menschenopfern gut überstanden, sie leben mit ihren Phrasen, Parolen, Symbolen, Ritualen in Erlösungsgeschichten für die jeweilige Gefolgschaft fort. Alexander Grau nennt ihn an der Realität gescheitert, nicht ohne im „absoluten Kitsch“, im „Traum von der totalen Versöhnung der Welt“, wiedergeboren zu werden – als der „Leitideologie spätbürgerlicher Gesellschaften“.

Das letzte Kapitel widmet er der „deutschen Spezialität“, und es ist amüsant, wie der auf Rationalität bedachte und der Gefühligkeit abholde Autor seinem Abscheu darüber Luft macht. Ich verstehe ihn gut. Insbesondere der „absolute Kitsch“ ist in seinen politischen, medialen, ästhetischen Auftritten schwer erträglich – aber noch gefährdet es nicht das Leben des Einzelnen, sich ihm mit Mut zu selbständigem Denken, scharfen Argumenten, beißendem Witz zu widersetzen. Nicht wenige wagen es. Das ist in China, in Russland, im Herrschaftsbereich von Gottesstaaten und sonstigen Diktaturen anders. Dort blüht der Kitsch, Gegenwehr kann tödlich sein. Er blüht auch in supranationalen Politbürokratien wie UN und EU. Ein verfasster politischer Wille, ihm den Garaus zu machen, ist schlechterdings nicht vorstellbar, zumal in den Subkulturen des Internets der Nachwuchs üppig gedeiht.

„Il faut cultiver notre jardin“, lässt Voltaire, der Aufklärer, am Schluss des Romans „Candide“ den gescheiterten Philosophen Pangloss sagen. Kitschfreie Bündnisse der Vernunft zwischen Naturwissenschaftlern, Künstlern, sogar manchen Politikern und Leuten, die „Was mit Medien“ machen, sind dabei immerhin noch möglich. In der „Blogosphäre“ zum Beispiel.

Alexander Grau „Politischer Kitsch“, Claudius Verlag, gebundene Ausgabe 128 Seiten, 14 €

Europa der Völker oder der Bürokraten?

KershawAchterbahn2dDieses Buch ist ein Solitär in der Vermittlung jüngerer europäischer Geschichte. Am Ehesten würde man ihm gerecht, wenn man es zum Ausgangspunkt möglichst vieler Debatten zwischen Generationen, Nationalitäten, politischen Einstellungen machte – eine Hoffnung, die in scharfem Kontrast zum herrschenden Geist in der Politik, in den Medien und leider auch zur mangelnden Sorgfalt in der Gestaltung von Schulbüchern und Lehrplänen steht.

Den Titel hat Ian Kershaw trefflich gewählt. Sowohl was das schwindelerregende Auf und Ab, das Tempo und die Rasanz anlangt, mit der seit 1950 Geschichte „erfahren“ wird, als auch die rasch wechselnden Perspektiven und atemberaubenden Momente nahe am Absturz: Der Zeitgenosse bestätigt ihm, dass er ihn zu einer großartigen Reise einlud. Sie führte durch erschreckende und bezaubernde Landschaften, lenkte den Blick auf unbekannte Details, schärfte das Gefühl für abrupte Wendungen. Sie ist noch nicht zu Ende.

Die Bibliographie belegt ein veritables Gebirge an Informationen, das Ian Kershaw durchforscht hat, er hat dort hinein klug die Trasse seiner Achterbahn konstruiert, er baut Ausblicke auf Krisen und Umbrüche, Personen und Parteien, Ökonomie, Politik und Kultur, auf Nationen, Europa und die Welt ein und setzt sie zueinander in Beziehung. So wird etwa das Panorama des Kalten Krieges zugleich breit und tiefenscharf. Beim Betrachten desselben ebenso wie beim Passieren von Abgründen möglicher nuklearer Konflikte oder des hochbrandenden Jubels nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhangs erlebte ich meine eigene Vergangenheit als sehr präsent – wie viel Glück ich hatte, dem DDR-Sozialismus zu entkommen! – und doch sehr, sehr fern. Das liegt wohl an der klaren, unverschnörkelten Sprache des Erzählers, sie ist frei von Effekten, aber keineswegs ermüdend. Dafür ist gewiss auch dem Übersetzer Klaus-Dieter Schmidt zu danken.

Freilich: Wer Höhen und Tiefen der Historie selbst “durchwandert” hat, schaut mit anderen Augen auf die Bilder dieser Berg- und Talfahrt als Jüngere. Ihnen mögen sie wie Kulissen erscheinen, die sich mit anderen Geschichtsbildern vergleichen lassen. Ian Kershaw verhehlt nicht, dass er seine Route durchs zurückliegende Jahrzehnt an offiziösen Sichtachsen ausrichtet. So erscheinen etwa Klimawandel und Energiepolitik in allzu bekanntem Ausschnitt. Der Sachverstand von Naturwissenschaftlern und Technikern (nicht einmal der des IPCC) blendet die Chancen der Nukleartechnik für eine gewünschte Begrenzung des Kohlendioxyds in der Atmosphäre längst nicht mehr aus. Kershaw verweilt dagegen beim populistischen Ruf nach “Atomausstieg” – wegen der in Tschernobyl und Fukushima offenbarten Gefahren dieser Technik. Aber wenn dieser Ruf auch ein langes Echo hat: Der vermeintliche Echofelsen ist aus Medienmaché.

Ian Kershaw ist klug genug, kritische Fragen an die Zukunft seiner britischen Heimat und der EU zu stellen, er ermahnt dringlich zu Reformen. Was er sich dabei vom Walten der Bundeskanzlerin Merkel und des Präsidenten Macron verspricht, blieb mir rätselhaft. Bisweilen verengt er die Perspektive, etwa wenn er zunehmenden Islamistischen Terror auf Kolonialismus und fraglos verderbliche Interventionen des Westens im Nahen Osten bzw. in Afrika sowie Benachteiligungen von Moslems in Europa zurückführt. Innersystemische Impulse religiös grundierten Machtwillens kommen kaum ins Blickfeld.

Zeit, einen Blick auf eine zweite Metapher des Autors zu werfen, den “Schraubstock”. Er verwendet sie für die totalitären Regimes des Ostblocks, sie ist einprägsam aber etwas simpel. Es drehten ja nicht nur ein Stalin, Breshnew, Honecker und ihre Gefolgschaft an der Schraube gesellschaftlicher Kontrolle. Da sind Hunderttausende von Rädchen und Hebeln im Gestell des Staates und der Medien, “An-Gestellte”, und was sie treibt, ist nicht nur Einkommen, sondern auch informelle Teilhabe an der Macht. Sie gehören dazu, und Konformität ist der Eintrittspreis.

Solche Organisationen, gern auch als Bürokratie bezeichnet, waren in der Geschichte erstaunlich resilient gegenüber Machtwechseln: Deutsche Beamte blieben nach Hitlers Ermächtigung ebenso in Lohn und Brot wie nach dessen Untergang. Jüngstes Beispiel sind fast problemlos vom IS übernommene Behörden in Teilen des Irak; Houellebecqs Roman “Soumission” (“Die Unterwerfung”) beschreibt den Übergang zur Herrschaft des Islam in Frankreich aus der Sicht eines Hochschul-Angestellten. Ian Kershaw beweist auf der Fahrt mit der Achterbahn auch seine Sachkenntnis in Kunst, Literatur, Musik. Erstaunlicherweise deutet er nur an, welche Fragen sich insbesondere für die Kultur stellen, wenn in der EU, aber auch den UN und zahllosen immer mächtigeren NGO eine supranationale Bürokratie heranwächst, deren Anspruch auf Konformität schon sichtbar, deren Kompetenz zur Lösung der entscheidenden Konflikte in der Welt aber genau deshalb durchaus zweifelhaft ist.

Am Anfang ihrer Amtszeit verkündete Angela Merkel, sie wolle der Bürokratie Schranken setzen. Inzwischen treffen planwirtschaftliche Ausflüge der Bundeskanzlerin – etwa in der Klima-, Energie- und Migrationspolitik – auf ein erstaunliches Einvernehmen bei fast allen Parteien. Auch die Medien gehen gern konform. Widerspruch gegen die uneinlösbaren Wechsel auf europäische, gar globale Lösungen wird gern mit politischem Extremismus in Verbindung gebracht: “Rechts” und “populistisch” sei das. Auch Kershaw zeigt mit dem Finger in diese Richtung. Dass aber in Polen, Ungarn, Österreich konservative Regierungen großen Rückhalt finden, eben weil Frau Merkel und die EU-Bürokratie versagen, klärt er gar nicht als systemischen Mangel auf. Kurz und Orban haben nicht seine Sympathien – anders als der “grüne” Österreichische Präsident Van der Bellen. Das ist schön subjektiv, schmälert nicht das Vergnügen und ist mir viel lieber als vorgebliche „Objektivität“.

Am Schluss der “Achterbahnfahrt” spricht Kershaw vor allem von der Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit und Unwägbarkeit aktueller Entwicklungen. Nein, eine EUdSSR wird es nicht geben, schon gar kein neues Nazireich. Aber bewegen wir uns nicht derzeit auf den Gleitkissen politischer Korruption weiter Richtung Konformismus? Viktor Frankl hat ihn als ebenso gefährlich für die Demokratie bezeichnet, wie den Totalitarismus, und mit dem Blick auf China, wo der Staat mit totaler Überwachung Konsens und Konformität der Meinungen durchsetzt, ist das beklemmend aktuell.

Unvermeidlich sind und bleiben Konflikte mit solchen Staaten, wenn individuelle Freiheit und Menschenrechte verteidigt werden sollen. Werden die westlichen Demokratien standhalten oder sich – wie auch immer ideologisch fundierten – kollektivistischen Diktaten unterwerfen? Sie haben – z.B. in den KSZE-Verhandlungen – Stärke bewiesen, als sie Menschen- und Bürgerrechte gegen den totalitären Konsens von der Überlegenheit sozialistischer Gesellschaften vertraglich durchsetzten. Vielen Europäern brachte das die Freiheit. Dass ein solcher Prozess in globalen Konflikten möglich wird, ist nicht mehr als eine Hoffnung. Sie zerbräche, wenn in den europäischen Staaten selbst Überwachung und Kontrolle durch bürokratische Apparate – seien es Behörden oder “outgesourcte” Zensur-, Spitzel- und Denunziations-Kollektive – die Freiheit der Bürger auf konforme Schienen zwänge.

 

Ian Kershaw Achterbahn

Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt

Originaltitel: Roller-Coaster. Europe 1950-2017

Originalverlag: Allen Lane

Hardcover mit Schutzumschlag, 832 Seiten, 15,0 x 22,7 cm

mit Abbildungen

ISBN: 978-3-421-04734-2

Geschichte trifft Gegenwart: Ein Buch für Demokraten

Schroeder, Der Kampf ist noch nicht zu Ende.inddMassenmörder, Auftragskiller, Folterer, Schreibtischtäter: Sie sind Lieblingsfiguren der Geschichtsschreibung, in Filmen und Literatur – sei es als Monster, unheimliche Doppelexistenz oder gottgleich verehrtes Leitidol. Und wenn eine Lichtgestalt auftritt, bedarf sie solcher Gegenspieler zum Sieg, zur Machtübernahme – das heißt dann „Happy End“.

Die Realität kennt weder makellose Lichtgestalten noch Happy End. Das Ende der Gewalt ist der Beginn einer nächsten – Gewalt ist eine Konstituante menschlichen Handelns. Der Unterschied zwischen Leitidol und Schreibtischtäter, Lichtgestalt und Massenmörder liegt nur in der Wahrnehmung des Geschehens durch verschiedene Betrachter und in der Deutung, die aus ihr folgt. Gleichwohl ist es möglich, aus Deutungsmustern einer politischen Richtung auf deren Rechtsverständnis und Demokratietauglichkeit zu schließen: Wie beschreibt sie Konflikte, Motive und Ziele der Beteiligten? Gesteht sie eigenes Fehlverhalten ein? Korrigiert sie sich? Übt sie gar tätige Reue? Hält sie Spielräume fürs Verhandeln mit Gegnern offen? Oder versucht sie jedenfalls die Deutungshoheit zu gewinnen, indem sie Feindbilder schafft und verschärft; spricht sie Konkurrenten – egal ob Individuen oder Gruppen – die Menschlichkeit ab und sich selbst das Recht zu, Gewalt anzuwenden, womöglich schrankenlos?

Die langjährigen Forschungen von Monika Deutz-Schröder und Klaus Schröder fußen auf solchen Fragestellungen, und ihr Blick auf die Geschichte linker Gewalt ist nüchtern und sachkundig. Das Buch, in dem sie wissenschaftliche Ergebnisse zusammenfassen, geht tiefer und ist trotzdem spannender als jede filmische Doku. Es enthält sich weitgehend der Deutung, es beschreibt seinen Gegenstand akribisch und lässt dem Leser Raum zur Prüfung zahlloser Quellen und eigener Erfahrungen. Deshalb eignete es sich trefflich als Lehrbuch für den Geschichtsunterricht – und ist zugleich spannende Lektüre für einschlägig Interessierte. Ob es sich in der zunehmend polarisierten und pausenlos mit Strömen „geframter“ – also auf eine erwünschte Wahrnehmung hin gefärbter, häufig manipulativer – Informationen zu politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Themen wird behaupten können?

Einer, der das DDR-Regime von Geburt an erlebt hat, der in Schulen, Hochschulen und Alltag indoktriniert und desinformiert wurde, der zugleich lernte, sich dagegen zu wehren, gleichwohl sozialistische Gedanken nicht ablehnte, sondern lange für reformierte staatliche Verhältnisse eintrat, einer, den seit dem 14. Lebensjahr eine im Hintergrund mitwandernde Stasi-Akte verfolgte – so einer nimmt fast jede politische Publikation von im Westen sozialisierten Wissenschaftlern nicht ohne Skepsis zur Hand. In diesem Fall wusste ich seit langem um die fachlichen Qualitäten der Autoren, umso mehr schätze ich dieses historisch grundierte, kluge und verständige Buch über die unterschätzte Gefahr des Linksextremismus für die Gegenwart.

Für die Verbindungen zwischen linken Gruppen verschiedenster Ausprägung, RAF und Stasi etwa gibt es verlässliche Beweise, und dass sich seit den 60er Jahren internationale Netzwerke von Extremisten bildeten, war erst kürzlich wieder in einem Fernsehbericht zu verfolgen. Gern unterstützen Despoten jeglicher Sorte linksextreme (auch als NGO getarnte) Organisationen, um demokratische Staaten zu destabilisieren – das wäre beunruhigend genug. Schlimmer, wenn sich hierzulande herrschende oder als Opposition etablierte Parteien samt medialer Anhängerschaft solcher Gruppierungen bedienen, um unerwünschte Konkurrenz oder auch nur einzelne kritische Stimmen einzuschüchtern, womöglich zu ersticken.

Bürgerliche Parteien der Weimarer Republik ließen Hitlers NSDAP gewähren, gaben sogar medialen Begleitschutz für den Kampf gegen die Linke. Das war politischer Selbstmord. Die Ermächtigung der Nazis bedeutete auch ihr Ende. Ähnlich erging es nach 1945 jenen Teilen der SPD, der Liberalen und Nationaldemokraten, die sich unter dem Schlagwort “Antifaschismus” aufs Bündnis mit Ulbrichts Kommunisten einließen. Sie waren fortan wenig mehr als Handlanger.

Dieses Buch beweist, dass heutige Schläger, Brandstifter und Maulhelden von “Antifa” & Co. eben keine Helden sind. Wer Linksextreme ideologisch pampert, wer ihre Straftaten verklärt oder verharmlost, zeigt mindestens historische Unkenntnis, jedenfalls aber sein unreflektiertes Verhältnis zu totalitärer Macht. Wähler sollten das wissen. “Der Kampf ist nicht zu Ende” macht sie mit guten Argumenten vertraut: Damit sie künftig ihre Stimme nicht ein für alle Male abgeben.

Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder

Der Kampf ist nicht zu Ende

Geschichte und Aktualität linker Gewalt
1. Auflage, 2019
320 Seiten, Verlag Herder
ISBN 978-3-451-38298-7
€ 26,00

Ein Standardwerk fürs Überleben in Freiheit (Schluss)

Zurück zu Teil 3

Stasi und KSZEDas KSZE-Nachfolgetreffen in Madrid war noch beeinträchtigt vom Afghanistan-Krieg und dem NATO-Doppelbeschluss. Aber seit 1984 wurde in Stockholm über „Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen” verhandelt (VSBM), und politisch verbindliche Zugeständnisse – vor allem im Militärischen – begünstigten die Vorbereitungen zur nächsten KSZE-Konferenz in Wien. Diese letzten Kapitel von “Staatssicherheit und KSZE-Prozess” sind gewiss die aufregendsten. Denn als im März 1985 Michail Sergejewtisch Gorbatschow an die Spitze der KPdSU rückte, wendete sich das Geschehen zwar nicht sofort, aber je weiter er seine Reformen gegen den Widerstand im Apparat – nicht zuletzt des KGB – durchsetzen konnte, desto dynamischer verliefen auch die Prozesse der Entspannung. Die SED und ihre Stasi waren ratlos. International sahen sie sich zunehmend isoliert, im Inneren wuchs der Widerstand parallel zur Zahl der Ausreiseersuchen.

Selvage und Süß zeichnen in vielen Facetten jene Erstarrung der DDR-Institutionen, die den Sturz von Honecker, Mielke, Krenz, den Fall der Mauer und das Ende der DDR herbeiführte. Ein Blick auf die personelle Struktur der DDR-Delegationen, auf den Mangel an Mut und Fähigkeit, jenseits der von “ganz oben” verordneten Direktiven zu entscheiden, auf die piefige und duckmäuserische Subalternität, die sich in der Figur Mielkes manifestiert, beweist: Diese Hierarchien der organisierten Verantwortungslosigkeit waren schlechterdings nicht lernfähig. Dass sich sogar innerhalb des Apparates – etwa an der Stasi-Hochschule in Potsdam – kritische Stimmen regten, blieb einfach unbeachtet.

So bildeten sich letztlich auch in der DDR oppositionelle Gruppen, die sich mit tschechischen (“Charta 77”), polnischen, westeuropäischen vernetzten. Die Stasi konnte zwar noch Druck ausüben, dass sie bekannt wurden, war in den 80er Jahren längst nicht mehr zu kontrollieren. In Schwedt an der Oder – außerhalb des Empfangsbereichs der Westberliner Sender – ließ die Kreisleitung der SED in neugebauten Wohnblocks sogar Kabelfernsehen installieren, “Feindsender” inklusive, um qualifizierte Arbeitskräfte für das Petrolchemische Kombinat anzulocken. Von dort stammt der Witz: Die drei wichtigesten Tage des DDR-Bürgers? Dienstag, Mittwoch, Donnerstag. Dienstag gibt’s „Dallas“, Mittwoch „Denver“, Donnerstag gibt’s Fleisch.

Titel des Romans "Raketenschirm"

Theater gegen Staatsmacht – und Literatur als Elixier der Freiheit

Von dort stammen auch die letzten auffindbaren Akten meiner Karriere als “feindlich-negative Person”. Beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) fand sich nichts aus den Jahren 1983 bis 89, alles spricht dafür, dass sie mit dem Gros aller Unterlagen der “Hauptabteilung Aufklärung” vernichtet wurden, denn spätestens mit meiner Ausreise wurde ich wegen meiner Kontakte zu Regierungsstellen und Medien in der Bundesrepublik eine Zielperson für die HVA.

Die bis 1987 von Markus Wolf geführte Auslandsorganisation war – vielleicht als einzige – imstande, sich mit einem “Plan B” auf einen eventuellen Machtwechsel einzustellen, und die Verbindungen zum KGB rissen nicht ab. Soviel ist sicher: Alle am KSZE-Prozess Beteiligten konnten lernen, auch die von sozialistischen Ideen zur Weltverbesserung nicht lassen mochten. Die globalen Entwicklungen seit 1990 revolutionierten die Informationsströme und -gepflogenheiten. Sie erschlossen neue Formen der Organisation und der Einflussnahme auf Wirtschaft und Regierungen. China und Russland sind Weltmächte, und was dort an Überwachung und Verfolgung auf Oppositionelle wartet, ist nach wie vor erschreckend. Und wie steht es bei uns, im „vereinigten Europa“ um die Bürgerrechte, die im KSZE-Prozess dem sozialistischen Lager abgetrotzt wurden?

Brauchen mehr oder weniger sozialistische Parteien in Europa nur deshalb keinen offiziellen Staatsfunk, keine “Presseorgane” und keine Stasi mehr, weil sie sich auf einen wohligen Konformismus verlassen können, der nicht mehr wahrnimmt, wie Freiheiten und Rechte des Einzelnen von etatistischen und korporativen Übergriffen paralysiert werden? In den nicht selten aus Steuern finanzierten “NGO” finden sich reichlich Partner für Kollektivintereressen aller Art. Es entstehen die seltsamsten Bündnisse zur informellen und materiellen Machtübernahme. In den Medien gilt es als ehrenhaft, sich selbst zum Moralapostel und Schallverstärker politischer Strömungen zu erheben, abweichende Meinungen zu schmähen und einer Zensur das Wort zu reden, die jeweils den anderen trifft. Worte wie „durchregieren“ und „alternativlos“ machen Karriere, als deuteten sie nicht auf oligarchische, gar totalitäre Absichten.

Was die KSZE, was Politiker von Format wie Willy Brandt, Egon Bahr, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Schmidt, Gorbatschow, Schewardnadse und Dissidenten wie Sacharow, Vaclav Havel, Lech Walesa erreichten, ist erstaunlich. Aber alle Konflikte, die auszutragen waren, um Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat verpflichtend festzuschreiben, sind  heute weltweit nur in wenigen Regionen lösbar. Und so viel belegt dieses lesenswerte und als Quelle unschätzbare Buch: Jede Politbürokratie, sei es die von Regierenden oder NGO, versagt an dieser Aufgabe so jämmerlich wie das „moralisch bessere Deutschland“ von Erich & Erich.