Pandemischer Besuch

Der Tod mäht in der Cholera Menschen nieder. Illustration aus Le Petit Journal Ende des 19. Jahrhunderts
Seuchenangst und Politik

Mit dem Virus kommt der Gevatter
Lupft den Zylinder und sagt: „Grüß Gott!
Habe die Ehre, Herr Wichtigmann,
wir treten jetzt eine Reise an“.
Geimpft und geboostert fühlst du dich sicher
Der meint nicht mich, erst ist ein anderer dran.
Du greifst zum Imfpass, doch die Seiten sind leer
Und auch beim I-Phone rührt sich nichts mehr.

„Moment mal“, fragst du den knochigen Gast,
„kann es sein, dass du’s etwas zu eilig hast?
Da sind ein paar Leute, die sind nicht geimpft
Die hole!“. „Ja“, sagt der Tod, „sonst werd ich beschimpft.
Doch der Impfpass bewahrte noch keinen vorm Sterben
Mag die Pharmalobby noch so sehr werben.
Ob an oder mit – ist dem Virus egal
Mir auch, mein Freund. Du hast keine Wahl.“

Sollst du nun lachen oder angstvoll erschauern?
Du bist dir gar keiner Krankheit bewusst.
Der Pieks ging ganz glatt – und Du hast ja gemusst.
Also sagst du: „Sehr geehrter Herr Tod
Ich war solidarisch. Ich hielt das Gebot
schützte mich und die andern vor schwersten Leiden!“
„Mensch“, nölt das Gerippe, „bloß nicht zu bescheiden.
Was du getan hast, verdient jedes Lob
Das weiß, wer je eine Statistik erhob.
Du bist dem Staat eine wertvolle Nummer
Machst auch den Medien keinerlei Kummer.
Du sorgst dafür, dass die Mühlen mahlen
Klar: soll’n doch die Ungeimpften bezahlen“.

„Das geht mir nun wirklich zu weit mein Herr
Ich folg‘ der Regierung ich denke nicht quer
Und doch hab ich nie irgendwen denunziert.
Von Wissenschaftlern ward ich geführt.“
„Drum eben“, lächelt das Knochengesicht,
„bist du mir so besonders wichtig.
Leute wie du machen alles richtig.
Ich nehm‘ dich mit, weil du dazugehörst
Und auf das solidarisch Sein schwörst.
Als Sterbefall bist du ein wichtiger Teil
der nächsten Kampagne für bessere Vakzine
auf dass Elite weiter verdiene:
Minister, Konzernchefs, die ‚Wissenschaft‘
Ohne Angst vor mir – wo wäre ihre Kraft?
Sie schützen vor jeglichem Ungemach
Versprechen’s davor, vergessen’s danach.

Nun Kopf hoch, mein Freund, die Sense ist scharf
Kein Trotz und Geschrei, wenn ich bitten darf.
Als Vorbild beim Impfen warst du im Glied
Jetzt hoffe nicht auf den Unterschied.“
Es saust die Sense, die knochigen Arme
Schwingen nach vorn: „Dass Gott sich erbarme!“
Kannst du noch schreien, dann bist du wach.
Dein Hauptabteilungsleiter sagt: „Guten Tach
Wünsche wohl zu ruhen, Herr Wichtigmann
Gelobt sei, wer den Büroschlaf ersann.
Nun sei’n Sie hübsch fleißig, ich wüsste zu gern —
Wenn sie so wollen ‚im Namen des Herrn’—
Was über Ihre Verlässlichkeit.
Für etliche Leute ist es soweit:
Wer, statt sich impfen zu lassen, herumspaziert
Corona leugnet und andre verführt
Dasselbe zu tun, der gehört in die Akten.
Es muss endlich Schluss sein mit diesen Beknackten.“
Spricht es, winkt dir „Habe die Ehre!“
Und hinterlässt eine ziemliche Leere.

Du sitzt vorm Computer und fragst dich entsetzt
Wird nicht dein Recht aufs Gröbste verletzt
Wenn der Tod gänzlich ungeimpfte Personen
Weil sie nicht erfasst sind, einfach vergisst
Während du – trotz Boostern nach -zig Mutationen –
Ohne vollständigen Impfschutz bist?
Die Impfpflicht muss her, Codes und Listen, nur munter
Der Staat soll gelobt sein, er setzt sie um.
Wer nicht funktioniert, der geht eben unter
Wichtigmann nicht. Der ist schließlich nicht dumm.

Gesundheit – auf Zuteilung?

Thermalquellen schätzten schon die Römer vor 2000 Jahren

Seit ein paar Wochen hat Baden-Baden neben zehn anderen bedeutenden Kurorten den Status als Weltkulturerbe. Das Friedrichsbad, denkmalgeschützt und mit Thermalwasser aus einer inzwischen als nicht trinkbar eingestuften einstigen Heilquelle gespeist, ist dank Coronamaßnahmen seit 1 1/2 Jahren dicht. Wir haben dort ein Guthaben, es würde uns etliche entspannte Stunden in der einmaligen, kunstvoll ausgestatteten Oase körperlichen und seelischen Wohlbehagens verschaffen. In den vergangenen Jahren hielt uns das Heilbad vermutlich etliche Infektionen vom Hals. Gäbe es nicht Lockdowns, deren Nutzen beim Versuch, Infektionen mit dem Sars-Cov2-Virus einzudämmen zweifelhaft ist, täte es das auch weiterhin.

Gutscheine für das nebenan gelegene Spaßbad „Caracalla“, ein Geschenk zum 70sten Geburtstag – liegen seit fast einem Jahr ungenutzt herum, weil dort „3G“ gilt, wir als Ungeimpfte keinen Zutritt haben, ihn auch nicht wünschen, solange durchgeknallte Politbürokraten Grundrechte außer Kraft setzen, weil aus dem angeblichen Kampf gegen ein Virus längst ein Kampf gegen Menschen wurde, deren Denken vom verordneten Konsens abweicht.

Was tun?

Wir freuen uns einfach des Lebens an Orten, wohin der „Arm des Gesetzes“ – er ist längst zum Arm despotischer Verordnungen gegen Sinn und Wirksamkeit des Grundgesetzes geworden – nicht reicht. Das war in der DDR und ähnlichen sozialistischen Paradiesen, etwa im China der Maoistischen Kulturrevolution, in Sowjetrussland und seinen osteuropäischen Satelliten Strategie zum Überleben. Mühsam, aber am Ende erfolgreich.

Heute ist die Frage, was der Unterdrückung schneller den Garaus macht – der wirtschaftliche Kollaps aufgrund aberwitziger Planwirtschaft nach linksgrün-totalitärem Muster, der Übergang ins Kalifat, auf den die ungeregelte Einwanderung hinarbeitet, oder das schlichte Verweigern des Gehorsams von Seiten jener, deren Steuern, Rundfunkbeiträge und Sozialabgaben den Politbürokraten samt ihren Satrapen in Medien und NGO ein Leben in Saus und Braus finanzieren – und die gern das selbstverständliche Recht auf freien Zugang zum Weltkulturerbe wahrnähmen, das es ohne sie nicht gäbe.

Es bleibt spannend.

Souverän oder Plebs? Wer wählt?

Auch der große Bruder in Moskau wollte ab 1972 nur noch harte Währung für den Handel mit dem kleinen

Als die Wirtschaft des ›real existierenden Sozialismus‹ in den 70er Jahren für jeden erkennbar asthmatisch wurde, entschieden die Herren im Politbüro, den Klassenkampf ganz und gar auf die ideologische Ebene zu verschieben. Das ›Überholen ohne einzuholen‹ von Walter Ulbricht war ökonomisch und wissenschaftlich-technisch zur Lachnummer geworden, aber die Deutungshoheit über den ›Antifaschismus‹ und den dafür notwendigen Schutzwall war zu verteidigen, und alle Fragen, auf die der Kapitalismus keine Antwort hatte, ließen sich trefflich instrumentalisieren: „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“, „Entfremdung“, „Warenfetischismus“, „Kolonialismus“, „Rassismus“…

Da Moskau, Peking und Ostberlin praktisch keine Antworten, sondern nur staatlich gelenkte Mangelwirtschaft anzubieten hatten, verfielen sie auf die Idee, ein Stück Welt-Markt und ein bisschen Binnenmarkt unterm Patronat Kommunistischer Parteien zu organisieren. Eigentlich kein Wunder, denn der Kommunismus ist schließlich ein Gewächs auf dem Holz des Kapitalismus: Irgendwer muss die Arbeit machen, Mehrwert schaffen, der von Politbürokraten in Pläne gefasst und verwaltet wird.

Ob Mosambik, Angola, Äthiopien,… DDR-Waffen in Kriegen begehrt

Sie agieren dabei lautstark als die guten Antiimperialisten. Alle Menschen wollen Geld und Wohlstand, die Politbürokraten versprechen ihnen die Unbedenklichkeit ihrer Version von Wirtschaft im Sinne sozialer Gerechtigkeit und höherer Moral. Es gibt klare Feindbilder. So etwas mögen die meisten. Im Ansehen mancher Staaten Afrikas hatten sie damit zeitweilig einen Kredit, statt knappen Devisen wurde mit Waren bezahlt – vor allem LKW, Waffen und Munition. Die meisten DDR-Bürger buchten das unter Solidarität und freuten sich, wenn’s für die blauen Bohnen der „Kommerziellen Koordinierung“ – so hieß die Fachmannschaft des Stasi Obersten Schalck-Golodkowski – rote Bohnen, also Kaffee, aus Äthiopien gab.

Die SED und ihre Helfer in gleichgeschalteten Parteien – es gab »liberale«, »nationale«, »christliche« und eine der Bauern – konnten sich einfach auf tief ausgetretenen Trampelpfaden anthropologischer, gern religiöser Rituale bewegen, nach denen Menschen in gute und böse einzuteilen waren. Und so läuft es immer noch – so lange nicht dem Wahlvolk die Lücken zwischen Heilsbotschaften und real existierendem Mangel an gelösten Problemen unerträglich werden. Es ist interessant zu beobachten, wie Populisten aller sozialistischen Richtungen sich dann zugleich der folgsamen Masse anbiedern und die enttäuschte Masse als Pack, Pöbel, Plebs etc. beschimpfen.

Machen wir’s kurz, denn 40 Jahre DDR waren lang genug: Politisch vertrauenswürdig ist, wer sein Mandat einer hinreichend großen Zahl von Individuen mit dem Wunsch nach Freiheit und Selbständigkeit verdankt, weil sie ihm zutrauen, sich für ihren Erfolg im (globalen) Markt ebenso wie fürs soziale Umfeld und die natürlichen Ressourcen einzusetzen. Er muss keine Feindbilder ausmalen, keine archaischen Herdenimpulse in Dienst nehmen, er hält stattdessen die Dominanzwünsche von Politbürokraten im Zaum. Staat und Politik sind – wie’s das Grundgesetz vorschreibt – dem Dienst am Wohl des Volkes, lateinisch populus, verpflichtet, nicht der Pfründe von Parteien, ihnen gefälligen Medien und ihren als NGO getarnten Hilfsorganisationen.

Das Grundgesetz – mehr als nur aufgeklebtes Symbol?

Medien hätten eigentlich dem Beweihräuchern von Gewählten und Beamteten sowenig zu dienen wie eigener Machtgier, wenn sie Vertrauen verdienen wollten. Will sagen: Wenn Politbürokraten und ihnen aus offensichtlichem Eigennutz gefällige Journalisten statt über unvermeidliche Interessengegensätze und Konflikte zu informieren, dem Plebs, von dessen Steuern und Zwangsbeiträgen sie leben, über den Mund fahren, verlieren sie ihre Existenzberechtigung. Wenn sie sich dem Alltag, den Mühen der Demokratie – also dem Umgang mit Demos, dem Volk, entziehen, indem sie sich als Vormund aufspielen, dann wollen sie Sozialismus, gegründet auf einer Ersatz-Religion namens Marxismus-Leninismus oder sonstiger Heilslehren von Weltgeltung. Sie dürfen dann wieder gegen Leugner, Ketzer, Renegaten kämpfen – das freie Wort unterdrücken, Bücher, Bilder, Filme und Denkmäler eliminieren. Die Macht gibt ihnen das erhabene Gefühl, zu den Guten zu gehören: Es hat nicht nur hierzulande blutige Millionenopfer gefordert.

Verfallende Kulturen

„Es steht geschrieben…“ war einmal eine gewichtige Einleitung zu argumentieren; „Es heißt…“, oder „Man sagt…“ dagegen mit erheblicher Unsicherheit behaftet. Sollte also eine Geschichts-Schreibung verlässlicher sein als Heldenepen, Mythen, gar Gerüchte? Auch Historiker kommen seit jeher nicht ohne überlieferte oder aus Artefakten konstruierte Mutmaßungen aus, schon gar nicht ohne Impulse und Motive. In einer unübersichtlichen Landschaft aus halbwegs verlässlicher Dokumentation, Fabuliertem und schierer Propaganda hat noch niemand letzte Wahrheiten über Geschehenes, geschweige Aktuelles oder gar Zukünftiges gefunden. Dies umso weniger, wenn der über 3000 Jahre zurückliegende Untergang einer Zivilisation betrachtet werden soll, die als „Bronzezeit“ geläufig ist. Fast jeder hat in der Schule von ihr gehört und in Museen der Frühgeschichte Exponate bestaunt – etwa im Vorderasiatischen und im Neuen Museum zu Berlin

Von Ägypten, zum Zweistromland, Anatolien und der Ägäis: Globale Wirtschaft und Kultur?

Wenn einer aber zu überblicken versucht, welcher gewaltige Aufwand in den vergangenen etwa 300 Jahren für archäologische Forschung rund ums Mittelmeer und in angrenzenden Ländern getrieben und wieviel darüber geschrieben wurde, nimmt er sich schier Unmögliches vor. Eric H. Cline hat sich nur mit der Frage beschäftigt, wie dort in zahllosen Artefakten, auf Keilschrifttafeln und in Hieroglyphen erhaltene Zeugnisse einer blühenden Kultur zugleich deren innere Dynamik wie ihren Verfall bekunden. Ein Literaturverzeichnis von 36 eng bedruckten Seiten weist darauf hin, wieviel Sachkenntnis und hartnäckige Recherche er brauchte, um auf 230 Seiten vom Ende der Bronzezeit zu erzählen. Und der Leser sieht sich einer fast ebenso riesigen Menge von Anmerkungen gegenüber, wenn er Details nachgeht. Ein Blick auf die Liste der „Dramatis Personae“ überzeugte mich ebenso wie das Lesen der ersten Kapitel mit vielen Ortsnamen und der Vorgeschichte beteiligter Völker – von den Ägyptern über Assyrer, Hethiter, Ägäer, Kanaaniten – sogleich, dass ich als interessierter Laie an die Grenzen meines Vorstellungsvermögens stoße.

Ich habe also zweimal gelesen, und das hat mein Interesse noch befeuert. Cline kommt nämlich zu dem Ergebnis, dass es eine durch wirtschaftliche, politische und kulturelle Interaktionen vernetzte, heutigen globalen Verhältnissen durchaus vergleichbare multiethnische Welt war, die sich über einen Zeitraum von nur etwa hundert Jahren auflöste. In drei Kapiteln erzählt er die Vorgeschichte. Besonderen Raum nimmt dabei Ägypten ein, dessen Handelskontakte und florierende Wirtschaft über Jahrhunderte andere Völker überragten und dessen Kultur und Religion besonders gut erforscht sind. Es sind ägyptische Bildwerke, auf denen auch die sogenannten Seevölker und eine ihrer Seeschlachten mit Ägyptern abgebildet sind. Herkunft, ethnische Wurzeln, Sprache ebenso wie Auftauchen und Verschwinden dieser Seevölker geben Forschern bis heute Rätsel auf, obwohl sie mit ihren Überfällen auf sämtliche Arainersaaten des östlichen Mittelmeeres zu Niedergang und Zusammenbruch der bronzezeitlichen Kultur erheblich beigetragen haben.

Während Tontafeln, Inschriften auf Stelen, Keramiken oder Fresken bekunden, wie Handel und Handwerk zwischen Völkern und ihren Städten wie Babylon, Assur, Tyros, Memphis, Ugarit und der gegenüberliegenden Insel Zypern, dem weit entfernten Kreta, Mykene, Troja blühten, sich Sprachen und Schriften beeinflussten – es gab mit Akkadisch sogar eine „lingua franca“, die im diplomatischen Gebrauch war – fanden sich kaum Spuren, die als charakteristisch den Seevölkern zuzuordnen waren. Aber das Besondere an Clines Buch ist, dass es eine Fülle von archäologischen Untersuchungen zusammenführt, mit denen sich belegen lässt, wie nicht allein Überfälle und Zerstörungen die bronzezeitliche Blüte erstickten, sondern wie Erdbeben, klimatische Veränderungen, vor allem Dürre und folgende Hungersnöte dabei mitwirkten.

Immer neue Unschärfen und Unklarheiten tauchen beim Lesen der vielstimmigen Diskussion unter Archäologen auf und führen zu neuen Fragen: Was weiß man heute genau über die demographischen Verhältnisse der in dieser frühen Form von „Globalisierung“? Dass die Staaten zentralistisch von Palästen aus regiert wurden, dass große Städte ca. 8000 Einwohner hatten ist bekannt, aber wie wirkten sich die erkennbaren Katastrophen aufs innere Gefüge aus? Unsichtbare Mitspieler müssen Seuchen gewesen sein, die sich fast immer im Zuge von Naturkatastrophen, Krieg, und Reisen ausbreiten. Dank der besonderen Begräbniskultur der Ägypter wissen wir vom Tod in den Fürstenhäusern und unter hohen Beamten – aber wie starben Sklaven, Bauern, Handwerker? Sie waren zu unbedeutend, jemals erwähnt zu werden, ihre Lebenserwartung war vermutlich gering, der Tod ein alltägliches Ereignis. Soldaten – immerhin ein besonder Beruf – zählten nur als gefallene Gegner, je mehr, desto größer der Ruhm, vielen wurden Hände als Trophäen abgehackt. Zweifellos haben Feld- und Seuchenzüge demographische Verläufe ausgeprägt, ebenso Migrationen. Die deutlichste scheint von der Ägäis auszugehen, über Land und Meer alle Küsten des östlichen Mittelmeeres ergreifend, wobei sich unterschiedlichste Ethnien mischten oder verdrängten.  Nach dem Niedergang der Hochkultur setzten sich spontane, robuste, dezentrale Wirtschaftsformen durch – Strategien des Überlebens.

Mit dem eigentlichen Untergang der Kulturen befasst sich Erik S. Cline vom vierten Kapitel an. Beispielhaft stehen dafür die Ausgrabungen in der nordsyrischen Hafenstadt Minet el-Beida und – ausgehend von dort – der Hauptstadt des Königreiches Ugarit. Dort fanden sich Zeugnisse des florierenden Handels und verschiedener Sprachen rings ums östliche Mittelmeer. Das Ugaritische hatte bereits ein frühes Alphabet. Insgesamt war das vorgefundene Schriftgut derart umfangreich, dass Ugaritologie zu einem eigenen Forschungszweig avancierte.

Während sich in vielen anderen Städten nach schweren Schlachten, Bränden, Beben, fast immer Neuansiedlungen fanden, dort Verbindungen über See und Land selbst zu entfernteren Handelspartnern so weit intakt blieben, dass der Güteraustausch wieder in Gang kam, wurde Ugarit bei einem Angriff vollkommen zerstört. und verlassen. Das Königreich war Vasallenstaat der Hethiter, aber dieses bis Mitte des 13. Jahrhunderts v. Chr. mächtige Reich löste sich wenig später vollkommen auf.

Es leuchtet ein, dass der Autor viele Ursachen des Verfalls zu einem komplexen Geschehen zusammenfasst, am Ende die Komplexitätstheorie ins Spiel bringt und damit systemisches Versagen eines von vielen – divergierenden – Kräften beeinflussten Netzwerks der Abhängigkeiten. Die herrschenden Eliten hatten offensichtlich keine Strategien, auf das Zusammenwirken von Naturkatastrophen, Freibeuterei, inneren Spannungen, Migration zu reagieren. Interessant wäre hierbei, inwiefern Religionen in die Krise kamen, weil ihre Normen setzende und durch Rituale im Alltag befestigende informelle Macht dahinschwand.

Vergleiche zum Untergang anderer Kulturen drängen sich auf. Cline erwähnt die Maya, mir fallen die Ablösung der Ming-Dynatie in China durch die von Nordosten vordringenden Mandschu und – wesentlich dramatischer – deren Niedergang als Qing-Dynatie unterm Druck der westlichen Imperien am Ende des 19. Jahrhunderts ein. Er beendete eine Jahrtausende alte Kultur chinesischer Kaiserreiche. Das wechselvolle 20. Jahrhundert, gezeichnet vom gescheiterten Versuch der Guomindang, westliche Wirtschafts- und Poltitkmodelle zu etablieren, von der blutigen Invasion der autokratischen Japaner, dem Sieg der Kommunisten unter Mao Zedong, hätte die Traditionen des alten China beinahe ausgelöscht. Sie überlebte, angepasst an ein bis heute erfolgreiches, mit totalitären Grausamkeiten einhergehendes Regime der KPCh auf der Basis kapitalistischen Wirtschaftens. Der Kampf um dessen globale Dominanz ist in vollem Gang.

Cline bezieht sich auf den Komplexitätsforscher Ken Dark, wenn er feststellt, die bronzezeitliche Vernetzung soziopolitischer Strukturen habe zu gesteigerter Komplexität geführt, und je komplexer ein System, desto wahrscheinlicher sei sein Zusammenbruch. Das Ende des osteuropäischen Sozialismus bestätigt das Muster: Rudolf Bahro analysierte 1977 in seinem großes Aufsehen und noch größere Wut der sozialistischen Partei- und Staatsführung erregenden Buch „Die Alternative“, wie die ungehemmt in die Tiefe und Breite wuchernde Politbürokratie Wirtschaft und Kultur immer mehr erstickte, die Fixierung der Herrschenden auf Deutungshoheit sie zugleich in strategischer Starrheit gegenüber äußeren und inneren Anforderungen gefangen hielt – bis zum Kollaps.

Dass der Zusammenschluss west- und osteuropäischer Staaten zur EU mit einem deutlichen Zuwachs an Komplexität – also wechselseitiger Abhängigkeit in existenziellen Konfliktfeldern wie der Finanz-, Energie-, Migrationspolitik – einhergeht, muss man niemandem mehr erklären. Die Corona-Pandemie zeigt es nur einmal mehr. Wenn Politiker starr und unter Missachtung kritischer Stimmen der Strategie „Mehr Desselben“ folgen, weil ihre Deutungshoheit nicht angetastet werden darf, führen sie nicht nur ihr eigenes Land, sondern das Gefüge globalisierter Staaten in Situationen, die unbeherrschbar werden. Insofern weist „Der erste Untergang der Zivilisation“ zwar nicht auf den Weltuntergang hin, wohl aber auf den einer Zivilisation, deren Blüte noch vor dreißig Jahren gerade erst zu beginnen schien.

Die Uhren des Lebens

Die barocke Standuhr - vermutlich aus dem 18. Jahrhundert - verschwand im Antikhandel der KoKo
Die Uhr – vermutlich aus dem 18. Jahrhundert – verschwand 1971 im Antikhandel der KoKo

Töne und Geräusche, die 1953 das Sterben meines Großvaters begleiteten, kamen aus dem barock geschwungenen, hölzernen Körper unserer Standuhr. Sie war mindestens hundert Jahre älter als ihr Besitzer. Ihr Klang war – wie bei Violinen aus jener Zeit – unverwechselbar, und sie hatte ein Gesicht aus Messing und Zinn, über das filigrane Zeiger wanderten. Zur Viertelstunde schlug eine helle Glocke an, zur vollen eine dunklere. Tage und Nächte meiner Kindheit hindurch ließ sich diese unbeirrbare Stimme vernehmen. 

Ab und zu steckte der schon von Krankheit Gezeichnete eine Kurbel nacheinander auf drei ins Zifferblatt eingelassene Vierkantbolzen. Wenn er sie drehte, wickelten sich im Gehäuse Schnüre mit daran hängenden bleiernen Zylindern auf drei Wellen. Ihre Last trieb Zeiger und Schlagwerk an. Das Ritual des Aufziehens – bis heute werden mechanische Uhren „aufgezogen“, auch wenn man die darinnen arbeitenden Federn eigentlich zuzieht – faszinierte den Enkel ebenso, wie das Hin und Her des Pendels und das kaum sichtbare Sinken der Gewichte. Ich wollte unbedingt dabei sein, wenn Opas Ritual begann, und bettelte immer wieder darum, die Tür zum Bauch öffnen zu dürfen. Oben, im Kopf unseres stummen Familienmitglieds, tickte die Hemmung, sie brachte den Perpendikel darunter mit dem Vollmond aus Messing am Ende ins schwingende Gleichmaß: Staunend stand ich davor.

Wo es tickte, verbargen sich drei Geheimnisse: Das Kreisen der Zeiger, der Stundenschlag und das musikalische Gedächtnis. Die Uhr gehörte zu uns wie eine sehr alte Person. Ehe sie ihre Stimme erhob, atmete sie asthmatisch ein: dann spannte das zugehörige Gewicht die Federn an den Glocken. Tag für Tag sagte sie immer dasselbe; wenn sie schwieg, wachte mein Großvater auf. Er hatte vergessen, sie aufzuziehen. Das dritte Geheimnis waren Walzer und andere Melodien, die silberhell wie aus einer Spieldose erklangen, und deren Titel ich leider vergessen habe. Es waren welche von Mozart dabei und von Johann Strauß, ein vergilbtes Blatt auf der Innenseite der Tür des Gehäuses fürs Schlagwerk listete sie auf.

Eine – “Les Cloches de Corneville” hieß sie – erklang nur in Bruchstücken. Das lag daran, dass auf der wie ein Igel mit vielen Stacheln versehenen stählernen Walze Lücken klafften, dort die Metallzinken des Spielwerks nicht angerissen wurden. Aber genau diese Störung erregte meine besondere Aufmerksamkeit: der stockende Rhythmus verbarg eine Botschaft, die ich gar zu gern entschlüsselt hätte. Die Uhr stammte vermutlich aus dem 18. Jahrhundert. 1971, als unser Haus abgerissen wurde, verschwand sie im Antikhandel des Stasi-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski; die Decken in den sozialistischen Plattenbauten waren für sie zu niedrig.

Vor kurzem erst fand ich heraus, dass “Les Cloches de Corneville” eine 1877 in Paris uraufgeführte Operette von Robert Planquette ist, damals ein Kassenschlager mit 500 Vorstellungen hintereinander, Riesenerfolg auch in London, und dass die Uhr vermutlich einen Ausschnitt – vielleicht einen Walzer – wiedergab. Auf YouTube ist das ganze Werk zu hören, die Partitur läuft mit im Bild, während es erklingt. Die Notenschrift macht – wie das Ineinander von Stahlstiften und Tonzungen bei unserer Spieluhr – sichtbar, wie die Zeit vergeht: die Mechanik der Musik. Als Kind schaute ich dem ebenso gebannt zu, wie später der Bewegung der Nadel am alten Grammophon der Familie, aber dort war das mechanische Abtasten der Rille schon fast so unsichtbar wie Jahrzehnte später bei einer CD: Es verschwindet in der enormen Informationsdichte von Schallwellen, die sich mittels moderner Technik aufnehmen und digital komprimieren lassen. Musikliebhaber haben sich längst an diese Qualität des Hörens gewöhnt: Nuancen bei der Interpretation durch verschiedene Orchester, Solisten, Sänger sind zu erkennen. Fachleute können sie sogar unterscheiden – am Tempo, an der Dynamik, an der Zusammensetzung des Orchesters, der Technik des Dirigenten…

Mit etwa sechs lernte ich Blockflöte spielen. Der Unterricht war schrecklich, der Lehrer ein Pedant, ein rechter Wiedergänger des 1766 von Theodor Gottlieb von Hippel in seinem Lustspiel als „Der Mann nach der Uhr“ verspotteten. Kaum dass ich ein paar Töne spielen konnte, triezte er mich mit einem Metronom und bewies mir immer wieder, dass ich zu Hause faul gewesen und, statt zu üben, meinem Spieltrieb gefolgt war. „Du pfuschst!“ warf er mir vor, er blies mir den Marsch zum Ticken des für die Musikwelt segensreichen Geräts von Johann Nepomuk Mälzel. Die Geschichte Mälzels – er reiste ab 1804 mit dem legendären „Schachtürken“ durch Europa und Nordamerika – liest sich abenteuerlich. Erfunden hatte den angeblichen Automaten, in dessen Innerem allerdings ein Schachspieler die Figuren zog, Wolfgang von Kempelen. Selbst gekrönte Häupter wie Friedrich der Große und Napoleon sollen dem Schwindel aufgesessen sein, das Ganze flog auf, trotzdem fanden sich Nachahmer. Meine Geschichte als Musikschüler scheiterte am Ticktack des Metronoms und der Taktik des unerbittlichen Pädagogen. Vergeblich wies meine Großmutter mich aufs zuhause ungenutzt herumstehende Klavier hin. Sie bedrängte mich niemals, aber der Lehrer mit dem moralischen Rohrstock verdarb jeden Antrieb zum Üben. Meine Liebe zur Musik blieb, auch die zu Physik und Mathematik. Letztere leistete meiner Faulheit Vorschub, denn mit ihrer Hilfe ließen sich allerlei verborgene Botschaften im Räderwerk des Alltags entschlüsseln, nützliche – weil mühseligere Lösungswege verkürzende – Algorithmen und Formeln finden. Und damit wäre ich wieder bei den Uhren und beim Schachspiel.

Nicht ganz so alt wie die Standuhr ist eine Taschenuhr der Schweizer Firma Longines, von meinem Großonkel 1906 bei einem Meininger Juwelier erworben. Sie ist ein Erbstück, aber ich habe sie mir redlich verdient, weil ich den alten Herrn in seinen letzten Jahren rasierte, mehr noch weil ich mit ihm Schach spielte. Es war eine Quälerei, ich verlor immer. Natürlich lernte ich mit der Zeit dazu, las einschlägige Bücher, schloss mich einem Schachclub für Schüler an, aber es reichte nie, auch nur eine Partie für mich zu entscheiden. Onkel Walter hatte auf jeden Zug eine Antwort, kannte alle Eröffnungsvarianten und vermutlich beherrschte er genügend meisterliche Spielverläufe, um erbarmungslos meine Figuren abzuräumen. Ich verlor die Lust. Er bemerkte es, ließ mich gewinnen, nur um mir anschließend zu erklären, an welchem Punkt er mir einen spielentscheidenden Vorteil gewährt hatte. Aber da er mein Taschengeld aufbesserte, wenn ich mit dem Trockenrasierer die grauen Stoppeln in seinem Gesicht abmähte, schluckte ich das Niedermähen meiner Bauern, Offiziere, gar der Königin.

Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass beim Schach elektronische Rechenmaschinen dem Menschen derart überlegen sind, dass selbst Weltmeister ihnen unterliegen. Brutale Rechenkraft schlägt Intelligenz. Das liegt an der mathematischen Beschränktheit des Spiels mit seiner Grundaufstellung, den Regeln der bewegten Figuren bis zum Ende im Matt oder Patt. Trotz dieser fast jedem System eigenen Beschränktheit wurde die angeblich dem Menschen überlegene „künstliche Intelligenz“ Lieblingsthema in Politik und Medien. Onkel Walters Taschenuhr hat – anders als einige Generationen von Rechnern und Notebooks – überlebt, tickt zuverlässig weiter, ebenso verlässlich dauert der Streit darüber an, ob sich die Welt dank dem Ticktack der Digitalisierung mittels KI beherrschen lassen wird, wenn nur Datenmengen und Verarbeitungstempo hoch und die verwendeten Algorithmen intelligent genug sind. Ultimative Hoffnung sind Quantencomputer, die Aufgaben höchster Komplexität bewältigen können – aber auch sie müssen programmiert werden, ihre „Lernprozesse“ hängen also an Grundmustern und Vorschriften, mit denen sie „gefüttert“ und „erzogen“ werden.

Etwa zur selben Zeit wie die Operette von den Corneviller Glocken entstand ein Lied des Österreichischen Dichters Johann Gabriel Seidl; es heißt „Die Uhr“, war bis weit ins 20. Jahrhundert bekannt und beliebt. Carl Loewe hat es vertont, berühmte Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey und Thomas Quasthoff nahmen es auf.

Ich trage, wo ich gehe,
Stets eine Uhr bei mir;
Wie viel es geschlagen habe,
Genau seh ich an ihr.

Es ist ein großer Meister,
Der künstlich ihr Werk gefügt,
Wenngleich ihr Gang nicht immer
Dem törichten Wunsche genügt.

Ich wollte, sie wäre rascher
Gegangen an manchem Tag;
Ich wollte, sie hätte manchmal
Verzögert den raschen Schlag.

In meinen Leiden und Freuden,
In Sturm und in der Ruh,
Was immer geschah im Leben,
Sie pochte den Takt dazu.

Sie schlug am Sarge des Vaters,
Sie schlug an des Freundes Bahr,
Sie schlug am Morgen der Liebe,
Sie schlug am Traualtar.

Sie schlug an der Wiege des Kindes,
Sie schlägt, will’s Gott, noch oft,
Wenn bessere Tage kommen,
Wie meine Seele es hofft.

Und ward sie auch einmal träger,
Und drohte zu stocken ihr Lauf,
So zog der Meister immer
Großmütig sie wieder auf.

Doch stände sie einmal stille,
Dann wär’s um sie geschehn,
Kein andrer, als der sie fügte,
Bringt die Zerstörte zum Gehn.

Dann müsst ich zum Meister wandern,
Der wohnt am Ende wohl weit,
Wohl draußen, jenseits der Erde,
Wohl dort in der Ewigkeit!

Dann gäb ich sie ihm zurücke
Mit dankbar kindlichem Flehn:
Sieh, Herr, ich hab nichts verdorben,
Sie blieb von selber stehn.

Mir erscheint das Lied als eines der vielen Zeugnisse des Zusammenwachsens von Menschen und Maschinen in Malerei, Literatur, Musik – also des heraufkommenden, von der Mechanik dominierten Zeitalters. Darinnen wird der stetige, verlässliche Gang des Uhrwerks Herz gelobt und bestaunt, andererseits als Hinweis auf beschränktes menschliches Trachten und Handeln gesehen, letztlich als Gott vorbehaltenes Geheimnis des Lebens gepriesen: Ein Herz kann niemand neu erschaffen. Moderne Medizin kann manches reparieren, Kunstherzen taugen aber bis heute nur als kurzzeitiger Übergang zur Transplantation – und auch die ersetzt nicht, was einmalig, unnachahmlich, unverwechselbar dem Original vorbehalten war. Es hat seine eigene Zeit, wie der ganze Mensch, der im Lied seine letzte Reise antritt, dankbar und demütig.

„Geschenk“ zum 80stender Urenkel

Nachdem meines Großvaters Uhr abgelaufen war, der „Omma“ das Aufziehen des Enkels wie des antiken Werks zufiel, sang sie dieses Lied immer wieder einmal mit ihrer brüchigen alten Stimme – und es half ihr, nachdem sie zwei Weltkriege, den Verlust des Ehemanns und Familienbesitzes in der DDR überlebt hatte, nicht zu verzagen. Sie wurde 91, umsorgte geduldig, großmütig und hilfsbereit die „alleinerziehende“ Tochter, zwei Enkel, noch den Urenkel bis fast zum Schluss. Erst als die Enkelin samt Söhnchen wegzog, die Kräfte nachließen, während Demenz ihren Geist verwirrte, zeigte sich, wie stark ihr Herz war. Dabei hatte sie, seit ich mich erinnern kann, über Herzschwäche geklagt und Medikamente geschluckt – das war besonders an ihr. In innerfamiliären Konflikten sank sie in sich zusammen und wurde depressiv. Eine „Störung des Herzrhythmus“ als intelligente Strategie der Schwächeren?

Douglas Adams hat in „Per Anhalter durch die Galaxis“ immerhin das Vorkommen von Depressionen bei Robotern angedeutet. Marvin, die suizidal gefährdete KI, wurde bis heute nicht realisiert, vermutlich weil kein Nutzen für Psychiater und Pharmaindustrie erkennbar ist. Immerhin soll mittels „Artifical Intelligence“ Musik im Stil von Bach, Mozart oder Beethoven komponiert werden können, Gedichte wie von Charles Baudelaire geschrieben oder Familiengeschichten wie aus der Feder von Balzac, Dramen von Tschechow… Zugleich erfreuen uns Medien mit erschütternden, gar empörenden Geschichten über die psychischen Defekte großer Meister – narzisstische Persönlichkeitsstörungen sind besonders beliebt.

Freilich lässt sich eine „KI“ oder „AI“ mit allem jemals Komponierten füttern, Algorithmen fürs Verwenden von Wortschatz, Rhythmus, Reimen, Metaphern lassen sich vorstellen; ebenso mag es sich mit Werken der Bildenden Kunst verhalten – was dabei entsteht, kommt doch nicht über das Stadium elaborierter Kopien, meisterhafter Fälschungen hinaus, mit denen bestenfalls betrügerische Geschäfte erblühen. Die Täuschung liegt jedenfalls im Auge (oder Ohr) des Publikums. Der schöpferische Akt, der auf dem Heranwachsen einer Persönlichkeit, in jahrelangem Üben, Scheitern, den einzigartigen genetischen Voraussetzungen und den ebenso singulären, unwiederholbaren Lebensumständen begründet ist, wäre mit noch so gewaltiger Potenz digitalen Ticktacks nicht herstellbar.

Doch wird sich der Mensch wohl niemals von dem begehrlichen Blick auf göttliche Allmacht abbringen lassen, ebenso wenig werden die Mächtigen dieser Welt darauf verzichten, mit Versprechen ihre Anhänger zu locken, die einzuhalten sie nicht in der Lage, meist nicht einmal gesonnen sind. Was allerdings die Realität verspricht – und darauf ist Verlass: Noch jedes von ihnen verheißene Paradies erwies sich als Hölle, nur die Fristen der Metamorphose waren verschieden. Ihre „inneren Uhren“ liefen so unerbittlich ab wie die eines jeden Lebens.

DAS BÜNDNIS – eine Farce

ER Da bin ich. Es war wieder ein harter Kampf.

SIE Gleich sagt er wieder, dass ich ihn lieben muss…

ER HÄNGT EIN PLAKAT AUF Das habe ich für dich entworfen.

AUF DEM PLAKAT STEHT: „ALL MEINE LIEBE, ALL MEINE TREUE
GILT UNS!“

SIE …dass er alles für mich tut…

ER Die Frau steht wahrhaft im Mittelpunkt: Du! All meine Fürsorge gilt dir. Das ist der reale
Feminismus.

SIE … wie schlimm die anderen Männer sind…

ER Wenn du wüsstest, wie die Machos die Frauen unterdrücken. Überall entrechtete, betrogene, unterdrückte Frauen.

SIE … dass ich bei ihm in Sicherheit bin…

ER Bei mir genießt du Geborgenheit, eine gesicherte Existenz.

SIE … wie kalt es draußen ist…

ER Ich habe sie gesehen: die Frauen ohne Obdach, ohne Schutz, ohne Arbeit…

SIE … wie ich mich frei entfalten kann…

ER Hast du eingekauft? Ich habe Hunger.

SIE … wie anderswo – was?

ER Ich habe Hunger.

SIE Ich auch.

ER Ich habe dich etwas gefragt.

SIE Ich‘ liebe dich. All meine Liebe, all meine Treue…

ER Nein! Ja. Gut. Aber hast du eingekauft?

SIE Ich habe es versucht. Aber seit du mir das andere Bein auch abgeschnitten hast…

ER Du genießt die vollen Vorzüge unseres Gesundheitswesens, umfassende medizinische
Betreuung und die Einrichtungen zur Rehabilitation. Die Holzbeine aus der von mir
in erfolgreicher Gemeinschaftsarbeit zum Welthöchststand entwickelten Holzbeinproduktion…

SIE Es funktioniert nicht.

ER Lass mich bitte ausreden. (ÄNGSTLICH) Liebst du mich etwa nicht mehr?

SIE All meine Liebe, all meine Treue gehören nur dir.

ER Und nichts verbindet dich mit den bösen, herrschsüchtigen Machos?

SIE Alles verbindet mich mit dir und nichts verbindet mich mit den bösen, herrschsüchtigen Machos.

ER Alles für dich, alles durch dich, alles mit dir. Hast du eingekauft?

SIE Ich bin zu spät gekommen.

ER Das ist unmöglich. In meinem umfassenden Programm der entwickelten Strategie des Warenerwerbs unter den Bedingungen der verschärften Auseinandersetzung mit den Machos habe ich in schöpferischer Anwendung der Lehren der Klassiker des Feminismus nachgewiesen, dass wir dem Machismo um eine ganze historische Epoche voraus sind.

SIE Mit einem Holzbein ging es ja auch noch ganz gut, wenn ich mich sehr angestrengt habe, aber…

ER Wie redest du denn?

SIE Es gab objektive Schwierigkeiten.

ER So?

SIE Die Einsparung des Kniegelenks an dem zweiten Holzbein…

ER Vertraust du mir etwa nicht?

SIE Doch aber es funktioniert nicht.

ER Die Neuentwicklung erfolgte auf streng wissenschaftlicher Grundlage. Planmäßig hättest du die anderen überholen müssen.

SIE …ohne sie einzuholen. Ich weiß. Aber ich bin gar nicht erst auf die Beine gekommen

ER Du hast uns schweren Schaden zugefügt. Bist du dir dessen bewusst?

SIE Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht schneller, Die anderen haben Rollstühle. Außerdem habe ich Hunger.

ER Eben. Du isst zuviel. Deine Ansprüche übersteigen unsere Möglichkeiten. Jetzt willst du auch noch einen Rollstuhl. Dabei habe ich schier unermessliche Mittel in die Einsparung des Kniegelenkes investiert. Das hat man von seiner Großzügigkeit. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Methoden der Machos …

SIE Ja?

ER Fressen, fressen; das ist alles, woran du denkst. Fressen und Rollstuhlfahren. Denkst du auch daran, dass man für Rollstühle dort nicht nur die Beine, sondern die eignen Kinder verkauft? Denkst du auch an die armen Frauen mit den
abgeschnittenen Ohren?

SIE Abgeschnittene Ohren! Das ist schrecklich.

ER Damit nicht genug. Es gibt welche, denen man den Mund zuklebt, die sich den Gehörgang selbst zustopfen, damit sie nichts mehr hören von all dem Elend. Keiner hört überhaupt auf irgendwen. Es gibt keine Werte. Keine Moral.

SIE Schrecklich.

ER Da fahren sie herum, in ihren Rollstühlen: ohne Beine, ohne Ohren, immer auf der Jagd nach Fressen und hören nicht, wenn jemand leidet und um Hilfe schreit.

SIE Das stimmt. Sie hören nichts. Sie sind so schnell an mir vorbeigefahren, dass ich nichts erkennen konnte, und ich bin zu spät gekommen. Niemand hat mich um Hilfe rufen hören.

ER Ich höre dich immer. Ich höre dich, ich sehe dich, bei mir bist du geborgen. In Sicherheit.

SIE Ja.

BEISCHLAF

ER Du musst jetzt einkaufen gehen. Es ist für uns, für unsere Zukunft, für die gemeinsame Sache, für unser Kind. Es ist eine Frage des Bewusstseins.

SIE Für unser Kind … Für den Feminismus.

ER Für uns.

SIE Für uns.

SIE RAPPELT SICH AUF, FÄLLT WIEDER HIN

SIE Mit zwei Beinen war ich schneller.

ER Willst du damit sagen, dass das System falsch ist? Unser System? Willst du unsere Errungenschaften in Frage stellen? Das Gesundheitswesen, das dich keinen Pfennig kostet? Unsere Macht, die uns zur Beherrschung der Natur verholfen hat? Die Rolle der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen? Beine! Wir beherrschen die Technik, wir sind der Natur überlegen. Beine! Wo wir fliegen können!

SIE Zum Einkaufen?

ER Zum Einkaufen! Jawohl! Sollen sie doch mit ihren Rollstühlen herumfahren, ohne Planung und Leitung. Wenn du nur willst, beweisen wir unsere Überlegenheit. Wir fliegen.

SIE Fliegen. Bas wäre schön.

ER Wir brauchten überhaupt keine Kniegelenke mehr. Wir könnten sie völlig einsparen.

SIE Darf ich nicht wenigstens eines behalten?

ER Wo denkst du hin. Auf diesen Sieg über die Natur werden wir nicht verzichten. Allerdings…

SIE Ja?

ER Es gibt da ein Problem…

SIE Welches?

ER Die Machos versuchen offensichtlich, sich einen Vorsprung zu verschaffen. Sie arbeiten an der Reduzierung des Luftwiderstandes.

SIE Des Luftwider …??

ER Des Luftwiderstandes. Jedes fliegende Objekt hat ihn. Auch du. Wir müssten ihn drastisch herabsetzen. Die abgeschnittenen Beine sind eine großartige Errungenschaft! Sie reduzieren den Energieaufwand für den Flug fast um
die Hälfte, aber der Luftwiderstand…

SIE Was ist damit?

ER Du hast so schrecklich abstehende Ohren.

SIE Was?

ER Damit geht es natürlich nicht.

SIE Was?

ER Fliegen. Zum Einkaufen fliegen. Fliegen für unser Kind, für unsere Zukunft.

SIE Ich verstehe nicht.

ER Es ist eine Frage des Bewusstseins, der Werte, der Moral. Wir brauchen eine große freiwillige Initiative von dir. Wenn du fliegen willst, müssen wir die Ohren abschneiden. Du willst doch fliegen für uns, zum Einkaufen? So wie du bist, kannst du es nicht schaffen. Mit diesem schrecklichen Luftwiderstand.

SIE Nein.

ER Du weigerst dich?

SIE Ja.

ER Du stellst dich gegen den Fortschritt?

SIE Ich habe immer alles getan, was du von mir verlangt hast.

ER Wir. Was wir von uns verlangt haben. Soll das alles umsonst gewesen sein?

SIE Ich möchte nur meine Ohren behalten.

ER Das ist egoistisch, kleinlich, reaktionär.

ER ZIEHT EINE BANANE HERAUS,ISST.

SIE Woher hast du die Banane?

ER Hart erarbeitet. Auch du könntest Bananen essen, wenn du mehr Initiative zeigen und es dir nicht auf meine Kosten bequem machten würdest.

SIE Woher hast du die Banane?

ER Darüber bin ich dir keine Auskunft und schon gar keine Rechenschaft schuldig. Gerade jetzt, wo du dir jedes Vertrauen verscherzt hast, kann ich dir unmöglich derart wichtige, geheime Informationen geben. Bewähre dich.
Lerne fliegen. Dann könntest du die erste beim Einkaufen sein und wir hätten immer Bananen.

SIE Ich habe Hunger.

ER ZIEHT EINE ZWEITE BANANE HERAUS

ER Ich könnte dir etwas abgeben. Als Vertrauensvorschuss sozusagen.

ER HÄLT IHR DIE BANANE VOR DIE NASE. SIE SCHNAPPT DANACH, ER ZIEHT DIE BANANE WEG.

ER Natürlich müsstest du etwas guten Willen zeigen.

SIE Was soll ich tun?

ER Die erste Etappe der freiwilligen Initiative „Flug zu den Bananen“ beginnen. Wenigstens ein Ohr muss fallen.

SIE Nein. Nein. Nein.

ER Gut. Damit ist alles klar. Du hemmst unseren Aufbau. Du stellst alles in Frage. Du machst dich zum Bundesgenossen unseres Gegners. Du weißt, wozu du mich zwingst.

SIE Ich will doch nur meine Ohren behalten.

ER Meine. Meine. Das ist die Sprache des Feindes.

SIE Du hast doch selbst gesagt, dass die Machos Ohren abschneiden.

ER Du vergleichst MICH mit den Machos? Mich, den Befreier vom Machismo?

ER STÜRZT SICH AUF SIE, SCHNEIDET EIN OHR AB, ISST ES AUF, HAT EINEN ORGASMUS.

ER Es tut mir leid, aber ich musste diese Maßnahme ergreifen. Das wirst du einsehen. Der Feind ist überall. Mitten in unseren Reihen. In dir. Ich bin über dein Versagen tief betroffen, es schmerzt mich. Nur die tiefe Sorge um dich hat mich bewogen, einzugreifen, denn unsere Errungenschaften müssen geschützt werden. Es lebe das Bündnis von Mann und Frau. Nieder mit dem Machismo!

SIE Wohin gehst du?

ER Ich muss mich erholen. Der Feind könnte die kleinste Schwäche auf unserer Seite nutzen. Ich muss stark sein für uns, für unser Kind, für unsere Zukunft.

ER LEGT IHR MESSER UND VERBANDPÄCKCHEN HIN.

ER Wir brauchen dich. Auf dich kommt es an. Mach mit! Flug zu den Bananen!

ER VERSCHWINDET.

SIE Manchmal möchte ich weglaufen. SIEHT SICH ÄNGSTLICH UM

SIE Einfach weg. Weit, weit weg, egal wohin. Wenn er das wüsste. Ich glaube, er schlüge mich tot.

Wenn ich Beine hätte. Ja. Oder wenigstens einen Rollstuhl. Aber so; ohne Beine bei den Machos. Ganz allein. Eine unter vielen, ohne Arbeit, ohne Obdach. Ohne Chance gegen die Machofrauen. Ohne Rollstuhl und mit dem hohen Luftwiderstand.

Jetzt ist er nur noch halb so hoch.

Ich bin schlecht. Ich bin egoistisch. Wir haben so lange zusammen gelebt und ich will alles im Stich lassen: die Sicherheit und Geborgenheit, die er für mich geschaffen hat, meine Arbeit, unsere gemeinsame Zukunft, den
Feminismus. Unser Kind.

Ich bin schlecht. Er ist so stark und ich bin so feige. SIE NIMMT DAS MESSER.

Trotz allem vertraut er mir.

Für unser Kind, unsere gemeinsame Zukunft. Flug zu den Bananen! SIE SCHNEIDET DAS ANDERE OHR AB.

ER WIRD VON EINER JUNGEN SCHÖNEN FRAU HEREINGEROLLT, IN EINEM WUNDERBAREN ROLLSTUHL

ER Es ist erreicht! Sie haben mich anerkannt! WIRFT IHR EINE BANANE ZU.

ER Wir rüsten ab. Wirf das Messer weg, oder besser: gib es her.

SIE Wer ist das?

ER Das ist das Neue Wesen. Das Neue Wesen in unserem gemeinsamen Haus.

SIE Sie hat Beine, sie hat Ohren, wer ist sie, wo kommt sie her?

ER Meine Initiative war erfolgreich, alle haben es erkannt: wir brauchen das Neue Wesen. Schluss mit den Kämpfen, Schluss mit der Unterwerfung der Natur. Gib das Messer her.

SIE Wo kommt ihr her, woher hast du den Rollstuhl?

ER Gib sofort das Messer her.

SIE VERSUCHT SICH AUF DAS NEUE WESEN ZU STÜRZEN. KURZER, HOFFNUNGSL0SER KAMPF; ER NIMMT IHR DAS MESSER WEG, DROHT IHR.

ER Es wird nicht mehr gekämpft. Spürst du nicht, wie die Luft frischer und leichter wird, wenn das Neue Wesen auftritt?

ER KÜSST DAS NEUE WESEN

ER Natur! Natur!

SIE Du warst bei den Machos!

ER Und sie mussten mich endlich anerkennen. Es waren zähe Verhandlungen. Gefällt dir der Rollstuhl? Es ist das neueste Modell.

SIE Du hast gesagt, es gibt dort nur Frauen ohne Beine und ohne Ohren.

ER Die meisten. Ja. Aber jetzt lebt man dort wieder natürlicher. Wir haben uns geeinigt. Keinem wird mehr weh getan. Ohne Grund.

ER STREICHELT SIE, SIE STÖSST IHN WEG.

SIE Was wird aus mir, was wird aus unserer
gemeinsamen Zukunft, unserem Kind.

ER Seine Beine sind in guten Händen.

SIE Du hast es verkauft, für das neueste Modell. An die Machos.

ER Wir haben jetzt ein GEMEINSAMES HAUS. Bananen für alle, Rollstühle für alle. Irgendwann.

SIE Es ist noch nicht einmal geboren, und du hast es verkauft.

ER Es wäre sowieso kein besonders schönes Kind geworden. Von einer Frau ohne Beine, ohne Ohren. Was wäre das schon für eine Zukunft. Die Zukunft gehört dem Neuen Wesen. Wir haben uns geeinigt, alles wird gut.

SIE SCHREIT. DAS NEUE WESEN KLEBT IHR DEN MUND ZU.

ER Alles wird gut.

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Déjà vu (II)

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Enzyklopädische Erklärungen tun das Phänomen „Déjà vu“ als Täuschung des Gedächtnisses ab. Was dabei genau geschieht, ist einschlägiger Wissenschaft nicht klar; sie sieht eine Korrelation zu Erkrankungen. Mystiker verweisen auf Begebenheiten „in einem früheren Leben“. Ich bliebe lieber bei real auffindbaren Zusammenhängen. Cees Nooteboom, niederländischer Autor, sagt, Erinnerung sei „wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will“. Unzählige Beispiele für optische, akustische und kognitive Täuschungen belegen, wie uns das Gehirn irreleitet. Nootebooms Landsmann Douwe Draaisma hat einige lesenswerte Bücher zum Thema verfasst, die ich gern empfehle.1

Hieronymus Bosch - Die Hölle
Träume – Bilder aus einem früheren Leben? Hieronymus Boschs Bild der Hölle

Déjà vu erscheint weniger rätselhaft, wenn man dem Gedanken folgt, dass „Gedächtnis“ keine Ablage von Erinnerungen ist wie ein Archiv, eine Bibliothek oder irgendein Datenspeicher, sondern die ununterbrochene Bewegung eines ganzen Universums von Möglichkeiten, das sich dem realen Geschehen überlagert. Ich stelle mir eine riesigen Menschenmenge vor, darin jeder einzelne mit Reden und Handeln beschäftigt, die ich durchquere. Die ganze Zeit über empfängt mein „leibliches Gedächtnis“ – Körper und Geist untrennbar miteinander verbunden – chaotisch Eindrücke aus dem Geschehen um mich herum, aber nur bei bestimmten, musterhaften, verdichten sich die Signale zum Impuls des Erkennens. Und dieses „Erkennen“ ist nicht zwangsläufig an vorausgegangenes eigenes Erleben gebunden, sondern an die genetisch bedingte Kompositionsweise der Musterkennung, an eine unüberschaubare Menge von Antizipation strategischer Wendungen, deren sich niemand bewusst sein könnte, die sich nie kausal ordnen, geschweige beherrschen ließen.

So gesehen wäre erklärbar, weshalb und wie wir träumen. Manche reden davon, etwas sei ihnen „in einem früheren Leben“ widerfahren. Tatsächlich unterscheidet das Gedächtnis nicht immer scharf zwischen real oder nur im Film, im Traum, beim Lesen oder aus dem Hörensagen empfangenen Inhalten – allerdings trennt es wichtig und unwichtig in existenziellen Situationen viel schneller als es das Bewusstsein könnte. Das kann auch schief gehen, denn die antizipierte Gefahr ist womöglich gar keine – aber Schnelligkeit geht vor, antizipiert wird „quick’n dirty“.

Weshalb schreibe ich diese längliche Vorrede zu einem kurzen Text – recht eigentlich einer Farce oder einem Guignol? Weil die enormen Informationsmengen, mit denen Menschen hier und heute überflutet werden, fast ausschließlich auf ihre Inhalte hin und auf ihren vermeintlichen Gehalt an Realität betrachtet werden. Das Wort „Fakten“ wurde zu einer Monstranz, die all diejenigen vor sich hertragen, die ihre Form der Informationsvermittlung gern unangreifbar machen möchten. In den herkömmlichen ebenso wie in den neuen, „sozialen“ Medien toben unerbittliche Kriege um Wahrheit oder Lüge, redliche Information oder „manipulierte“, um die Deutungshoheit zwischen Gut und Böse, falsch und wahr.

So weit, so anthropologisch konstant. Begleiten Sie mich nun einmal – spaßeshalber – in die Welt der Träume. Dort sind Regeln der Logik und Kognition weitgehend außer Kraft. Nicht so die Antizipation, nicht die Antriebe zum Erlangen und Vermeiden, weder Ängste noch Lüste: Dort finden sich Konflikte ebenso wie Erlösendes, Beglückendes. Ich erlebe immer wieder einmal Schwerelosigkeit, kann schweben, stürze auch ab ins Leere, ohne Furcht vorm Aufschlag übrigens.

Ballonfahrt ins Blau - Wer träumt sich da nicht hinauf?

Ballonfahrt ins Blau – Wer träumt sich da nicht hinauf?

Wie kostbar diese jenseitigen Welten sind! Das Gehirn befasst sich dort nur noch eingeschränkt mit unmittelbaren Reizen; es wird vom Unbewussten, vom Erinnern, von Wünschen und Ängsten bewegt. Es muss ihnen folgen in gegenstandslose, phantastische, manchmal furchterregende Geschehnisse. Was im Alltag nicht zu merken ist – dass hinter Entscheidungen nur selten vernünftiges Abwägen steht – wird hier und jetzt universelles Programm. Alles ist möglich. Es muss nur einen Kondensationskeim geben, an den sich chaotisch schweifende Erinnerungen anheften können, egal ob sie frühkindlichem Erleben oder einer Fernsehserie entspringen. Von diesem Keim aus vernetzen und verweben sich Landschaften, Figuren, Situationen innerhalb von Hundertstelsekunden. Sie sind flüchtig, aber sie können stärker wirken als real Erlebtes.

Jeder, der Katzen oder Hunde hält, kann sie ab und zu beim Träumen beobachten, und jeder Neurophysiologe kann Ihnen heutzutage erklären, um was für eine wichtige Lebensfunktion es sich handelt. Gleichwohl rätseln Wissenschaftler immer noch daran herum, was Menschen in Morpheus‘ Umarmung geschieht. Interessant wird es, wenn das Bewusstsein für einen kurzen Moment in den Traum „hineinspringt“ – etwa um zu sagen „Du träumst ja nur!“ Man weiß heute, das manche Menschen in sogenannten Klarträumen Inhalte sogar beeinflussen können. Zweifellos existieren Übergänge zwischen Traum und Kognition, sonst kämen keine Gesprächsfetzen, gar Dialoge (allerdings von der schrägen Sorte) vor. Sich daran erinnern zu wollen, produziert wieder nur Bruchstücke, und bisher war nie jemand in der Lage zu überprüfen, inwieweit sie mit dem Geträumten tatsächlich übereinstimmen.

Hirnforscher wollen aufklären, was da “wirklich” geschieht. Sie wollen mittels hochpräziser Messung elektromagnetischer, hormoneller, zellbiologischer Abläufe die Traum- und Gedankenwelten vermessen. Aber dieses “wirklich” bedeutet doch immer nur, dass mit apparativ begrenzten Methoden Daten erfasst und Modelle konstruiert werden. Diese Modelle müssten in irgendeiner Form verifizierbar sein – etwa indem man aus mit ihrer Hilfe entworfenem elektromagnetischen Geschehen einen vorhersagbaren Traum entstehen ließe, also – wie im Film „Inception“ – bewegte Bilder ins Traumgeschehen einspielte, dem der Träumer nicht entfliehen kann.

So etwas ist Wunschvorstellung aller Despoten, Geheimdienste, vieler Produzenten mehr oder weniger schlechter Sci-Fi-Texte, Filme, Spiele. Vermutlich steckt schon viel Geld in einschlägigen Forschungen. Ihre Konsequenzen gehen – was ökonomische und politische Macht anlangt – über Kernkraft, Gentechnik, IT und Internet hinaus. Sie verschärfen alle Fragen nach menschlicher Verantwortung bis tief ins Persönliche. Aber stirbt infolge solcher “digitaler Transparenz” des Individuums nicht jedes Vertrauen, sogar das zu sich selbst?

Damit bin ich beim déjà vu meines Guignols von 1988 und einer sehr erfolgreichen Methode der Stasi: Dem „Zersetzen“ von Persönlichkeiten – im Sprachgebrauch des Mielkeschen Liebesministeriums „Personen mit feindlich-negativer Einstellung“. Fürsorge und Abhängigkeit, das Spiel mit Misstrauen, ritualisierte Bekenntnisse, der Wechsel von Drohungen und Heilsversprechen, Einschwören auf gemeinsame Feinde, Gesinnungskitsch: Das alles findet sich im Alltag heutiger Kämpfe um die Deutungshoheit, also die informelle Macht.

Mir half damals „Das Bündnis“, mich nicht „zersetzen“ zu lassen. Das déjà vu erheitert und erschreckt zugleich, denn die Methoden sind im Schwange; noch ist es allerdings möglich, sich zu wehren.

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1  Douwe Draaisma: Das Buch des Vergessens. Warum unsere Träume so schnell verloren gehen und sich unsere Erinnerungen ständig verändern. Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer. Galiani, Berlin 2012

  Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird. Von den Rätseln unserer Erinnerung. Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer. Eichborn, Frankfurt am Main 2004.

Der Artikel ergänzt die Veröffentlichung auf „Acta Litterarum“

Déjà vu

“Wir entscheiden”, sagte der Stasi-Mitarbeiter in der Abteilung “Inneres” beim Stadtbezirk Prenzlauer Berg, “ob und wann wir ihre Übersiedlung in die BRD gestatten!”

Das war 1988, “wohn-haft” in Berlin, Hauptstadt der DDR, durfte ich seit Jahren nicht mehr als Regisseur und Hochschullehrer arbeiten, denn ich hatte gewagt, die Deutungshoheit der SED zu leugnen. Politisch und ökonomisch war ihre Macht längst brüchig. Die mächtigsten Männer der Sowjetunion mussten in internationalen Konferenzen – vor allem der KSZE – bei den Menschenrechten Kompromisse gegenüber dem Westen eingehen, wollten sie den Zusammenbruch ihres Landes und des Warschauer Verteidigungspakts unter Planwirtschaft und Rüstungswahn zumindest hinauszögern. Die – immer noch brutal verfolgte – Opposition vor allem in Ungarn und Polen erstarkte, sogar in der DDR wuchs der Widerstand. Hunderttausende forderten Freiheit der Meinung und der Reise. Das heißt: Sie griffen die am härtesten armierten Bastionen der Politbürokraten an: Die Ideologie und den “antifaschistischen Schutzwall”. In Parteizentralen und ihren “Sicherheitsorganen” war Daueralarm, ebenso beim Propaganda-Apparat: den staatlichen Sendern und Zeitungen, in Schulen und Hochschulen. Die bis zur Absurdität ermächtigten Kontrolleure verloren die Kontrolle – und bekamen sie nie mehr zurück.

Irreversibilität hat mich seit je beschäftigt. Für den Physiker war es ein universelles und irritierendes Phänomen, im Alltag kann es jeden zur Verzweiflung treiben, weil sich nichts ungeschehen machen lässt. Eine Millisekunde unaufmerksamer Bewegung, die Teetasse kippt ihren Inhalt ins Notebook, es verröchelt. Die Millisekunde lässt sich nicht zurückdrehen, mit keinem noch so gewaltigen Energieaufwand. Das gilt auch im Universum der Gedanken. Eine Folge davon ist, dass uns die Zeit immer schneller zu vergehen scheint, wenn wir altern: Zu viele Gedanken – erwünschte und unerwünschte – vertreiben sie uns unablässig.

„Die versiegelte Welt“ von Ulrich Schödlbauer liegt in einem seltsamen Zwischenreich: Immer wenn ich mich dort lesend hineinbegebe, verwandelt sich zuvor Gelesenes: Situationen und Gestalten changieren. Nichts anderes ist zu erwarten, da ja der Leser jedes Mal ein anderer ist: Begriffe sind anders aufgeladen, neue Zusammenhänge erkannt, auch hat sich seine Erfahrung in einer Realität verändert, deren Wandel durch keine Form von Wahrnehmung, Auswertung, Simulation geistig zu fassen, geschweige zu beherrschen ist. All diese Vorgänge, das gesamte Geschehen ist im Mikrokosmos der Neuronen ebenso irreversibel – also unumkehrbar – wie das Geschehen im Universum.

Vielleicht ist das unter den „Kränkungen“, die der Mensch während seiner Interaktion in der physischen, sozialen, psychischen Sphäre erlebt, die ärgste: dem Lauf der Zeit gegenüber ist er ohnmächtig. Er kommt von der verschütteten Tasse nicht los, einmal abgesehen davon, dass er sich mit dem Schaden befassen muss, wird er noch eine Weile – je nach Temperament – über die fatale Millisekunde stolpern, ihre Ursachen, Vermeidbarkeit, mögliche Mitschuldige…

Unser Leben besteht aus einer astronomischen Anzahl solcher Momente der Entscheidung. Die wenigsten davon fällen wir bewusst. Und selbst die vermeintlich bewusst gefällten beinhalten unbewusste Impulse. An ihrem tiefsten Grund treffen sie sich mit den Überlebens-Algorithmen von Viren, mit der Dynamik von Elementarteilchen und Galaxien. Jeder Versuch, aus naturwissenschaftlicher Sicht daraus auf menschliches Verhalten zu schließen, geht fehl, weil in Jahrmilliarden irreversibler Prozesse eine Komplexität gewachsen ist, die sich nicht „nachrechnen“ lässt.

Mit nichts anderem beschäftigt sich aber der Mensch, wenn er Mathematik, Physik, Chemie, Biologie erforscht, um Muster zu entdecken, nach denen sich Komplexität entwickelt. Er konstruiert Modelle, Apparaturen und Gebrauchsgegenstände, mit denen er sie zu beherrschen sucht. Dabei hat er es erstaunlich weit gebracht, womit ich mich aber nicht weiter aufhalten will, denn ein Ziel – das wichtigste, in der Mythologie, Kunst, Literatur, im Film, in den Labors immer wieder anvisierte – hat er bis heute nicht erreicht: sich selbst zu erschaffen, oder einen Zwilling, ein Gegenüber, welches ihm vollständig durchschaubar, also steuerbar wäre, zugleich die Schwelle der Unsterblichkeit überschritte, wäre nur der genetische Code samt Umgebungsbedingungen zu reproduzieren

Das freilich gelänge nur, wenn er nicht weniger als das ganze Universum neu erschüfe. Alle anderen Versuche brachten bisher nichts als Chimären, mechanische Ungetüme, kurzlebige Missgeburten und Alpträume hervor. Und doch…

Bisweilen begegnet einer Figuren und Verhaltensweisen, Ritualen, Redensarten, Konflikten, Gewalttaten einer längst vergangenen Zeit ganz direkt. Sie laufen ihm über den Weg, sie rücken ihm buchstäblich auf den Leib, sie schüchtern ihn ein oder bringen ihn zum Lachen, und das mit einer körperlich verstörenden Vertrautheit, wie sie aus Büchern, historischen Abhandlungen, niemals zu gewinnen wäre, nicht einmal aus Filmen. Nur ausnahmsweise treten ihm Personen noch einmal gegenüber, bei denen der Ausspruch „hat sich überhaupt nicht verändert“ passen würde. Vielmehr sind es Charaktermasken und Handlungen, bei denen nur die Kostüme gewechselt haben. So als ereignete sich Erlebtes – zumindest Erinnertes oder auch Geträumtes – ein zweites Mal.

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Damals in den 80er Jahren wohnte ich nur eine halbe Stunde Fußweg entfernt vom „SEZ“ im Prenzlauer Berg. Natürlich probierte ich alles aus: Wellenbad, Sauna, Sporthalle und Fitness-Räume, ließ mir in den Restaurants schmecken, was in für DDR-Bürger ungewöhnlicher Qualität angeboten wurde. Durchaus möglich, dass mir seinerzeit Gregor Gysi über den Weg lief – ich hätte ihn nicht erkannt, denn er gehörte zum Nachwuchs der Nomenklatura. Wahrscheinlich verbrachte er seine Freizeit in erlauchteren Kreisen, als FKK-Fan etwa an jenen Seeufern, die von Uniformierten mit Kalaschnikows bewacht wurden.

So eines gab es am Liepnitzsee, unweit von Erich Honeckers Wohnort Wandlitz. In einem wunderschönen Wald aus alten Buchen liegt dieses klare, tiefe Gewässer mit einer Insel in der Mitte und den schönsten Stellen zum Nacktbaden, die sich einer wünschen kann. Wochentags und außerhalb der Ferien war es sehr ruhig; manchmal war ich dort ganz allein. 1986 endeten die Ausflüge. Ich hatte mein Motorrad verkauft und wartete auf „Entlassung aus der Staatsbürgerschaft“, nachdem im Jahr zuvor SED und Stasi alle meine Arbeiten unterdrückt hatten. Ich jobbte als Kellner, hielt mich zweimal die Woche im SEZ fit, als ich an eben jenen „Hotspot“ geriet. Es war wohl so, dass mich eine Kollegin mitschleppte, in die ich – leider ergebnislos – verliebt war, sie war verheiratet, wartete gemeinsam mit ihrem Mann auf die erlösende Meldung von „Inneres“.

Stellen Sie sich vor, auf einer Wiese an einer der meistbefahrenen Straßen mitten in der Millionenstadt etwa zwei Dutzend Nackedeis jeglichen Alters und Geschlechts herumliegen oder -sitzen zu sehen, mit Picknick, Lesen, Kartenspiel oder dem Verteilen von Sonnencreme auf nahtlose Bräune beschäftigt, gern auch in inniger Umarmung. Meine Begleiterin wurde sogleich begrüßt, stellte mich vor – so etwa „auch einer von uns“ – und umstandslos begann ein Erfahrungsaustausch über Lebensläufe, Wartefristen, allfällige Schikanen, Verhaftungen, Ziele. Einmal flossen Tränen: Ein Gesuch war abgelehnt, der schwule Freund aus Westberlin an der Einreise gehindert, fortgesetztes Bestehen auf Ausreise mit Strafe bedroht worden. Zwischendurch, etwa im Abstand von ein bis zwei Stunden, erschien ein Volkspolizist. Die grüne Uniform war von Weitem zu sehen, einige zogen Badehosen oder Bikini über, manche aber verharrten, bis der „Genosse Wachtmeister“ sie ansprach.

„Ich fordere Sie hiermit auf, bedecken Sie sich!“ Das klang nicht einmal unfreundlich.

Grinsend taten die Nackten wie ihnen geheißen. Sobald „das Schnittlauch – außen grün innen hohl“ weg war, waren es auch die Textilien.

Das Spiel wiederholte sich – in leicht wechselnder Besetzung – an jedem sonnigen Tag. Einige gingen zwischendurch zum Sport, Schwimmen und Saunieren, die meiste Zeit verbrachten sie unter Ihresgleichen, eine schräge Gemeinde, keine Sekte, zusammengehalten nur von einem Ziel: Sie kamen dorthin, weil sie weg wollten, sie machten sich zum Ärgernis, auf dass der Staat das Naheliegende tue – Sie ziehen lassen. Es hieß, die Badegäste des SEZ haben sich immer wieder einmal beschwert, aber das halte ich für ein Gerücht. Das Personal dieses Honecker’schen „Sondervorhabens“ bestand zu einem großen – wenn nicht zum überwiegenden – Teil aus Leuten, die für Erich Mielkes Liebesministerium arbeiteten. Das Vorzeigeobjekt für die Wonnen sozialistischen Lebens wäre übel befleckt worden, hätte es in seiner Umgebung gewaltsame Übergriffe gegeben. Die Gäste hinter den riesigen Glasfenstern kamen schließlich nicht nur aus dem Osten – sie brachten Devisen mit und konnten „drüben“ erzählen, wie entspannt es in der Hauptstadt der DDR zuging.

Ich war nicht oft dort. Einmal traf ich eine meiner Studentinnen, sie freute sich und erzählte, dass sie einen Dozenten aus Spanien kennengelernt habe, der sie demnächst ehelichen wolle.

„Herzlichen Glückwunsch“, sagte ich, „aber was willst du hier? Rausheiraten lassen ist die eleganteste Lösung. Kein Risiko. In dieser bunten Gesellschaft nimmt dich womöglich die Stasi auf den Kieker.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Ist dir noch nicht aufgefallen, dass hier niemand verhaftet, nicht mal ein Strafzettel verteilt wird? Das Völkchen hier an der langen Leine zu lassen, ist viel klüger, als sie zu kujonieren. Das Wichtigste ist, dass keiner ein Muster erkennen kann, nach dem jemand früher oder später freikommt. Sie und nur sie entscheiden, und über die Gründe für eine Entscheidung muss Ungewissheit herrschen. Ich komme her, um Spanisch zu lernen – und da habe ich Gesellschaft.“

Sprach’s, zog ein Wörterbuch und einen Kassettenrekorder westlichen Fabrikats aus der Tasche und fläzte sich in den mitgebrachten Campingstuhl.

Die Ungewissheit hätte mich vielleicht schlimmer zermürbt, wären da nicht Fitnessräume, Sauna, Wellenbad, Solarinseln (keine UV-Särge! Scheinwerfer über Liegeflächen!) gewesen, schlingerndes Seelenleben zu stabilisieren und Lüste sprungbereit zu halten – meine und die meiner damaligen Freundin. Nein, sie ist mir nicht in den Westen gefolgt, sie hat in der Hauptstadt geheiratet und ihre Tochter aufgezogen. Mit dem SEZ, das wir gemeinsam besucht hatten, war’s schon 1991 vorbei. Eigentümer wurde der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, von Grünen, Linken, Sozialdemokraten verwaltet und außerstande, Sanierung, Instandhaltung, laufenden Betrieb wirtschaftlich zu gestalten. Mit dem Investor, dem man das zunehmend herunterkommende Objekt 2003 für einen Euro verkaufte, ist man seither im juristischen Clinch. Nicht etwa wegen inzwischen aberwitziger Energiepreise für Bäder und Eishalle. Es geht nur noch darum, wer die millionenschwere Immobilie nach dem Abriss des SEZ als Baugrund verwerten darf. Ist schon eine Ironie, dass Sozialisten 40 Jahre nach der Eröffnung wegbaggern lassen, wofür sie sich damals feiern ließen.

Friedrichsbad und Stiftskirche Baden-Baden 2021
Das geschlossene Friedrichsbad und die Stiftskirche Baden-Baden im März 2021

„Unten ohne“ ist für mich bis heute ein Vergnügen – sei’s mit Freunden am Kiessee neben dem Rhein, sei’s in dem wunderbaren Friedrichsbad, 1877 über den Ruinen eines mehr als 2000 Jahre alten Römischen Bades erbaut. In dem Neorenaissance-Bau sprudelt 60° heißes Thermalwasser in historische Räume mit Majolika-Fliesen, fast alles ist im Originalzustand und denkmalgeschützt. Zwar ziehen auch hier gelegentlich lärmende Banausen durch, ignorieren Schilder mit Hinweisen auf den Zusammenhang von Ruhe und Entspannung, aber es ist eine Augenweide. Ob ich noch erleben werde, dass es hier auf Ruhebetten zu „einvernehmlichem Geschlechtsverkehr“ kommt wie die „Wikipedia“ von den Solarinseln des SEZ zu berichten weiß?

Und wird das Friedrichsbad seinen 150sten Geburtstag als Oase des genussvollen Lebens oder nur noch als Denkmal feiern können? Es herrscht wieder – wie damals, als ich „unten ohne auf dem Sprung“ in die Freiheit das beste aus den lähmenden Zeiten der Politbürokratie Ost zu machen suchte: Ungewissheit. Unsere Thermalquellen sind versperrt. Solange „oben ohne“ verboten ist, bleiben sie es. Nein, nackte Demonstranten gegen das Manövrieren mit Angst und Ungewissheit wird es wohl nicht geben im schönen Baden-Baden, wo Tourismus, Gastronomie, Einzelhandel und die Zulieferer von „Lockdowns“ gerade durch „gesellschaftliche Zwänge“ zerrieben werden. Ob allerdings demnächst die Verantwortlichen nicht „unten ohne“ – dastehen, ob die Basis, von der sie leben, ihnen nicht das Vertrauen aufkündigt, darauf würde ich nicht wetten. Es heißt auf dem Sprung bleiben.

(Der Artikel ergänzt den auf „Globkult“ erschienenen)

Unten ohne auf dem Sprung

Gregor Gysi Präsident der Europäischen Linken

Ja, die „gesellschaftlichen Zwänge“, möchte einer ausrufen und dem Genossen Gysi in diesem Falle verständnisvoll zunicken. Wer sich Tag für Tag als Kader im Anzug mit Schlips bewegen, die Rituale des Apparates befolgen, Konferenzstühle drücken oder gar in Uniform und militärisch strammer Haltung Wutausbrüche seines Vorgesetzten ertragen muss, kann sich innerlich aufrichten, sobald er sich den Hauptabteilungsleiter, Oberst, gar Genossen Minister nackt vorstellt.

Einem von ihnen unbekleidet gegenüberzustehen war in der DDR durchaus möglich, denn nirgendwo sonst auf der Welt war „Freikörperkultur“ – FKK – landesweit so verbreitet, massenhaft beliebt und selbst außerhalb von Saunen, Kleingärten, Stränden anzutreffen, wie im „sozialistischen Staat deutscher Nation“. So beschrieb Artikel 1 der Verfassung 1968 – noch zu Zeiten von Walter Ulbricht – das Herrschaftsgebiet der SED. Nach seinem Sturz durch Honecker verschwand die deutsche Nation endgültig aus dem Sprachgebrauch: 1974 aus der Verfassung, danach so weitgehend, dass der Volksmund spekulierte, ab wann auch der deutsche Schäferhund zum „Schäferhund der DDR“ erhoben würde. Artikel 1 enthielt stattdessen den „Staat der Arbeiter und Bauern“, aber natürlich blieb „die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ so unangetastet wie Berlin als Hauptstadt und die gesellschaftlichen Zwänge. Sie hießen nicht so, aber etliche Kilometer Stasiakten bezeugen sie. Ich auch.

In der DDR liefen Deutsche Schäferhunde als Grenzwächter im Todesstreifen am Seil. Im Grenzmuseum Mödlareuth ist das zu besichtigen. Natürlich ohne Hunde – wegen des Tierschutzes

Aus ihnen auszubrechen verhinderte ein weltweit bekanntes Bauwerk in Berlin, dazu mit Minen, Stacheldraht, Wachttürmen, Hunden (meist Schäferhunden) und Patrouillen gesicherte 1400 km lange Grenzanlagen und eine wohlorganisierte Gesinnungskontrolle in fast allen Lebensbereichen, einschließlich Urlaub im gewerkschaftseigenen Ferienheim, auf dem Zeltplatz oder im sozialistischen Ausland. Betriebe und andere Einrichtungen schmückten sich mit einem Schild „Bereich der vorbildlichen Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Disziplin“. Ich erinnere mich, so ein Schild an einem Kinderferienlager gesehen zu haben, aber ich bin nicht sicher, vielleicht war’s auch eine Herberge.

„Sicherheit“ galt alles in der DDR. Seltsamerweise gehören zu den Stützpfeilern einer jeglichen Konstruktion des Musters „Es war nicht alles schlecht!“ neben Medaillenrängen im Sport, sicheren Arbeits- und Kitaplätzen, kostenlosen Brillen und Zahnersatz auch die Nacktbadestrände. Nicht nur Arbeiter und Bauern, alle Schichten der Werktätigen in Stadt und Land gaben sich genussvoll Sonne, Wind und Wasser hin: splitterfasernackt, befreit von Bekleidungsvorschriften, Rangordnung, ökonomischen und informellen Insignien der Macht. Zugleich fielen „Spanner“ – vor allem die mit Badehose – nicht selten lautstarker Verachtung anheim. Sie sollten sich schämen, Hose runter, Ordnung muss sein!

Neben den ordentlich ausgeschilderten Oasen zwischen Ostseedünen, gab es auch die wilden an Kiesseen, wo das Baden verboten war, in entlegenen Ecken von Freibädern, Parks und Sportplätzen. Viele von ihnen wurden in den 80er Jahren – auf dem Höhepunkt der Bewegung – legalisiert. Dieser Höhepunkt korrelierte zeitlich mit dem Höhepunkt der Ausreisebewegung: Hunderttausende DDR-Bürger wollten heraus aus Mangelwirtschaft und Bevormundung. Der KSZE-Prozess und internationale Verträge hatten zwar der DDR die staatliche Anerkennung gebracht, ihr aber auch politische Kompromisse abgezwungen, obendrein die ökonomische Krise, vor allem Devisenknappheit und hohe Schulden verschärft.

Mitte der 70er Jahre waren mutige Ausreiseantragsteller von der Stasi noch mit schweren Schikanen drangsaliert worden, Entlassung, Verhaftung, Misshandlungen inklusive. Wer es wagte, sich als solcher etwa mit einem weißen Bändchen an der Autoantenne zu bekennen oder zu solidarisieren, kassierte ebenso schwere Strafen. Aus Gruppen – etwa einer Stammtischrunde – wurde ein „operativer Vorgang“, sobald Mielkes Truppe Oppositionelle witterte. Dann saß alsbald mindestens ein Spitzel in der Runde. Trotzdem ermutigte jede erfolgreiche Übersiedlung in den Westen immer mehr neue Gesuche.

Wen die Stasi einem "operativen Vorgang" zuordnete, den durften ihre Leute "zersetzen"
Wen die Stasi einem „operativen Vorgang“ zuordnete, den durften ihre Leute „zersetzen“

Ab 1985 nahm kaum noch jemand ein Blatt vor den Mund, wenn er über Bittgänge zu „Inneres“ – also zu der bei kommunalen Behörden für seinen Antrag zuständigen Abteilung – redete. Dort saßen ihm Stasis gegenüber, ebenso am Stammtisch, womöglich mittags in der Kantine. Wenn er sehr unbesorgt lebte, landete schon mal eine Freundin bei ihm im Bett, deren Unterschrift unter die Verpflichtungserklärung als IM noch nicht ganz trocken war. Aber damit musste einer immer rechnen; war er am Ende mit allen Träumen, mochte er auch in der zartesten Umarmung nicht säumen.

Besonders bizarr fand ich einen „Hotspot“, Treffpunkt Ausreisewilliger auf einer Rasenfläche an der Dimitroffstraße (heute Danziger Straße), direkt an der Rückseite des berühmten „SEZ“, eines der absoluten Glanzstücke von Erich Honeckers „Sondervorhaben der Hauptstadt Berlin“. Das „Sport und Erholungszentrum“ war von einem schwedischen Architektenteam entworfen, mit enormem Aufwand an der Kreuzung mit der Leninallee (heute Landsberger Allee) gebaut, 1981 eröffnet worden und seinerzeit das weltweit größte seiner Art. Es lohnt sich, einen Bericht des DDR-Fernsehens anzusehen, der vom Deutschen Rundfunkarchiv bei YouTube eingestellt wurde.

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