50 Jahre (und drei Romane) danach

Die Hügel gegenüber im Abendlicht

Mein Himmel: Blick – nicht vom Turm, nur vom Balkon

Gestern Abend wurde es laut in den Hügeln gegenüber. Obwohl ein Kilometer Luftlinie mich von der Gartenparty trennte, konnte ich Gesang und Gelächter hören, Ausrufe jugendlicher Stimmen, männlicher und weiblicher, die große Lust an unflätigen Worten bezeugten und an der Freiheit, nach Herzenslust zu pöbeln. Aus Spaß natürlich. Sehr wahrscheinlich war es eine Abifeier, eine private, sie dauerte bis nach Mitternacht, vielleicht wurde es dann den Nachbarn zu viel.

Genau so war es bei uns vor 50 Jahren. Wir feierten orgiastisch den Abschied von der Schule. Nur raus – egal wohin, da vorne wartete etwas Neues, Unbekanntes, jedenfalls kein von Lehrern dominiertes Klassenzimmer. Nach zwölf Jahren Notendruck, Berieselung mit öden Pflichtfächern, eingeschränkten Wünschen, quälenden Praktika ließen wir es krachen – und wussten kaum, wie viel von unserem gewachsenen Selbstbewusstsein wir unseren Lehrern zu verdanken hatten. Einige jüngere boten uns das Du an – uns zur Freude.

Dieser Gedenkstein  wurde Stasi-aktenkundig

Vier – keineswegs verlorene – Jahre

Auf dem Schulhof setzten wir uns einen Gedenkstein mit der Inschrift “B I B II BR” für die drei Züge des Jahrgangs mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung, die “R” bekam seit der dritten Klasse erweiterten Russischunterricht. Damit uns die Lehrer nicht vergäßen, verfassten wir eine Abizeitung voller deftiger Satiren und Anekdoten aus dem Schulalltag. Ein Mitschüler schaffte es, das Blättchen mit dem Titel „Der Mülldeckel“ sogar – halb illegal – zu vervielfältigen. “Ormig” (DDR-Begriff für Matrizendrucker) hieß die längst vergessene Technik: Papier wurde dabei mit blassblauen Texten und Karikaturen bedruckt, es duftete nach dem Lösungsmittel Spiritus. Die Sensation: Drei Schnappschüsse aus dem “Staatsbügerkunde”-Unterricht des Direktors persönlich prangten als Serie auf zwei Seiten. Untertitel: “Er kam – sah – und schlief”.

Das war vermutlich, was man heute ein Fake nennen würde: auf dem dritten Foto, das erst beim Umblättern sichtbar wurde, hätte der Mann auch ins Zuhören versunken sein können. Sicher bin ich bis heute nicht; sowohl der Knipser als auch der Direktor haben das irdische Dasein hinter sich gelassen, ohne uns aufzuklären. Der Porträtierte drohte mir bei einer späteren Begegnung mit Rechtsfolgen. Dass er es beim Drohen beließ, lag aber nicht an seiner Furcht, sich vor Gericht womöglich zu blamieren.* Stattdessen brachten Zeitung und Gedenkstein die Schulleitung in eine üble Lage.

Der Stein stammte von jenem Turm, den mein Ur-Urgroßvater 1850 auf dem Hofleite-Hügel 50 m vorm Gipfel hatte erbauen lassen. Das ist zwar eine andere Geschichte, aber wer mag, kann einiges dazu im „Blick vom Turm“ erfahren. Wichtiger ist ein anderes Gebäude ganz oben: 1969 wehrte dort die Bezirksbehörde der Staatssicherheit Bedrohungen des Sozialismus durch jede Art feindlicher Subversion ab. Ihre wachsamen Helfer saßen in Klassen- und Lehrerzimmern ebenso wie an Fließbändern und in den Werkstätten der Betriebe, in denen wir Abiturienten zusätzlich einen Facharbeiterbrief erwerben – und den Kontakt zur Arbeiterklasse schätzen lernen sollten. Deren „führende Rolle, mit der SED und deren Erstem Sekretär, dem Genossen Walter Ulbricht an der Spitze“ war ein Mantra der Staatsbürgerkunde, es gab große Pläne für den Sieg des Sozialismus, und es brauchte immer mehr Bewacher, sie gegen defätistische Witze und Hetze aus westlich-reaktionären Quellen zu schützen.

*) Heute hätte er dank DSGVO beste Aussichten, den Schulbuben noch im Nachhinein juristisch eins überzubraten. Wegen der DSGVO erscheinen im Artikel übrigens auch keine Fotos meiner Mitschüler etc.

(Wird fortgesetzt) 

Hoffnung unter Panzerketten

Titel zu Erich Loests "Sommergewitter"

Loest erlebte das DDR-Zuchthaus als Gefangener. Er kannte auch die Perspektive der Mächtigen

Jahrestage, Jubiläen, Gedenkfeiern bringen selten frische Gedanken, originelle Erkenntnisse hervor, schon gar nicht, wenn sie gemütlich im Mainstream dümpelnden Journalisten anbefohlen werden. Ein kurzer Blick auf Texte zum 17. Juni 1953, zum 13. August 1961, zu den sowjetischen Militäraktionen in Ungarn 1956, in der ČSSR 1968, zur Geschichte der polnischen Werftarbeiter und der Gewerkschaft „Solidarność“ in den 70er und 80er Jahren, zum Massaker der Chinesischen Politbürokratie auf dem Tian’anmen am 4. Juni 1989 und nicht zuletzt zum Mauerfall 1989 genügt meist, mich zu überzeugen, dass ihre Lektüre so aufklärerisch und demokratiefördernd ist wie ein Pfund Toastbrot vom Discounter.

Man könnte einwenden, dass mit ärmlichen, ausgeleierten Fakten und zu nichts verpflichtenden, moralischen Worthülsen die „Chronistenpflicht“ zu erfüllen, immer noch besser sei, als solche historischen Landmarken dem Vergessen zu überlassen. Ich bezweifle das. Banalitäten und ritualisierter Wortgebrauch erzeugen Überdruss und ebensowenig Verständnis fürs historische Geschehen wie das Auswendiglernen dynastischer Erbfolgen.

Titelbild zu György Dalos "1956"

Mit 13 erlebte der Autor russische Panzer in Budapest

Das Erinnern von Zeitzeugen, ihre Ängste, ihre Verzweiflung, ihr Mut und ihre Entscheidung zum Widerstand verschwinden hinter Phrasen und medienpolitsch gleichrichtendem Geräusch. Freilich: Wenn Mitläufer erzählen, ist wenig mehr zu lernen als das Mitlaufen, das langweilt. Jugendliche werden so kaum mehr erreicht. Sie erkennen nicht, welche Verhaltensmuster damals wie heute die Herrschaft des Unrechts begünstigen, und wie sich Einzelne dagegen wehren können. Ihr eigenes Verhalten ist davon entkoppelt. In der auf Sicherheit programmierten Welt der An-Gestell-ten erlabt man sich, wohlig erschaudernd, an den Konflikten, Gewalttaten, Abenteuern, Leiden fiktiver Gestalten in komfortabler, berührungslos Distanz via Leinwand oder Bildschirm, manchmal noch auf Buchseiten.

„Es muss etwas geschehen, aber es darf nichts passieren“, ist das Losungswort der Zeit. Die Realität minimiert Risiken, lässt Abenteuer nur im umzäunten Bereich zu, verdrängt Konflikte. Viele suchen sie dort, wohin das Angebot sie lockt, also gern in bipolaren Gamer-Welten, Serien und Filmen über heilige Kriege vom Mittelalter quer durch die Neuzeit bis in eine Zukunft aus digital aufgedonnerten Mythologemen. Allgegenwärtige Bewegtbilder verhelfen schmerz- und risikolos zum erhabenen Selbstgefühl eines Helden auf der Seite des Guten. Wundert es jemanden, dass der Büchermarkt sich diesen Schemata weitgehend anpasst hat? Verkauft wird, was TV-Quote und Blockbuster nahelegen. Es sind vor allem erfahrungslose Erzählungen. Sie ersticken die Fähigkeit, sich für anderes als das Vertraute und Erwünschte zu öffnen, sie verstellen den Blick in die Geschichte.

In den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts wurde Geschichte innerhalb der kulturellen Gleichschaltung auf bizarre Weise geklittert. Die dagegen aufbegehrten, waren fast immer Einzelgänger, Verfemte, Verlachte. Nur selten gelang es ihnen, sich in Gruppen von Außenseitern zu organisieren, noch seltener konnten sie sich an die Spitze größerer Bewegungen von Unzufriedenen setzen. Den Zusammenbruch eines Systems überlebten sie meist nur, um sich ohnmächtig – bestenfalls oder auch schlimmstenfalls abgefunden – der neuen Politbürokratie und ihrer historischen Selbstbeweihräucherung in den Medien gegenüberzusehen.

Titel von Pavel Kohouts "Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel"

„Die unendliche Leichtigkeit des Seins“ machte ihn berühmt

Im Westen Sozialisierte können das kaum jenen nachempfinden, die totalitäre Gesellschaften an Leib und Seele erdulden mussten. Das wird am Umgang mit den „68ern“ überdeutlich. Die literarischen Zeugenaussagen, oft auch Meinungsäußerungen der Oppositionellen im „real exisitierenden Sozialismus“ sind mit dem Mainstream des Marktes kaum vereinbar. Er entstand mit dem Vordringen sozialistisch gestimmter Kräfte in Führungspositionen von Staat und Gesellschaft infolge der 68er Bewegung. Schlimmer noch: Politbürokaten des Westens und ihre mediale Clacque verweigern Polen, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Balten, Ostdeutschen das Verständnis für die nachwirkende Furcht, ihre Selbstbestimmung an eine „EUdSSR“ zu verlieren. Das offenbart sich am 21. August 2018, da sich der Einmarsch sowjetischer Panzer in der Tschechoslowakei, die Zerstörung der letzten Hoffnung auf Reform des Sozialismus im Herrschaftsgebiet Moskaus, zum 50sten Male jährt, wieder schmerzhaft.

Darum empfehle ich ein paar Bücher, die erzählen, ohne bequeme Distanz zuzulassen. Über Liao Yiwus Gefangenschaft nach dem Protest gegen das Massaker 1989 habe ich berichtet: „Für ein Lied und hundert Lieder“ erschien nach seiner Flucht 2011 ins Exil. Es ist so aktuell wie damals. Der Tod seines Freundes Liu Xiaobo, Friedensnobelpreisträger von 2010, infolge brutaler Gefangenschaft und die endlich mit internationaler Unterstützung gelungene Befreiung seiner Witwe Liu Xia sind beständige Mahnung, den Heils- und Harmonieversprechen kommunistischer Parteien misstrauisch zu begegnen.

Titelbild zu Immo Sennewald "Blick vom Turm"

Zwischen zwei Jahrhunderten – mit dem Blick aus einem dritten

Für mein eigenes Leben war der 21. August 1968 ein wegweisender Tag. Was dem kaum 18jähringen damals widerfuhr, floss in den ersten meiner drei Romane über deutsch-deutsche Geschichte, über die Musik der Jugend, ihre Abenteuer, Lust und Leid, Glück und Abstürze in der DDR zwischen Thüringer Wald und Berlin – und im vereinigten Deutschland ein. Der August 1968 ist 50 Jahre her – und nichts ist vergessen. Aufgeschrieben wurde vieles schon in den 80er Jahren, erscheinen konnte es erst mit dem Abstand weiterer 20 Jahre, 2008. Und das geschah auch aus der Erfahrung, dass im Westen nicht begriffen wird, wie kollektivistische Ideologien den Untergang der DDR überdauerten, und welche Gefahren mit dem bequemen Leben einhergehen, das Politbürokraten und ihre mediale Gefolgschaft versprechen.

Die Abenteuer des kleinen Gustav Horbel in der großen Stadt Berlin im August 1968, als in Prag die Panzer rollten, sind im Salier Verlag Leipzig erschienen.

Links zu den Büchern:

Enteignung

Herrenstraße26Die Ängste sind wieder da. Was einem zugeeignet wurde von Vater und Mutter, von Generationen fleißiger, irrender, in Krisen und Konflikte verstrickter Vorfahren, soll weg. Die Bindung an ein Dach überm Kopf soll gelöst, eine Immobilie vermarktet werden. Die festen Mauern sollen sich zu Geld verflüssigen. Ein vertrauter, nur dem Bewohner vertrauter Wert – der des Gebrauchs, des Wohlfühlens und der Geborgenheit – soll verwertbar im Sinne des gleichgültigen Marktes sein, der einer der größten Erfolge der Gattung ist – und ein Schlachtfeld der Begehrlichkeiten von Individuen, Gruppen, Korporationen, denen Heimat nichts bedeutet. Sie rechnen. Sie dominieren. Sie haben elaborierte Rechtfertigungen dafür, Leben seiner Lebensräume zu enteignen – egal ob es Häuser, Dörfer, Städte, Landschaften oder ganze Kontinente sind.

Es sind fast 50 Jahre, dass der DäDäÄrr-Staat meine Mutter und Großmutter vor die Entscheidung stellte, ihr Haus, das Haus meiner Kindheit, samt dem zugehörigen Grund mitten in der Stadt, entweder für einen Pappenstiel zu verkaufen oder enteignet zu werden. Die beiden machtlosen Frauen konnten nicht ahnen, dass die Enteignung die komfortable Lösung war. 20 Jahre später hätte ihnen das eine “Restitution” beschert – und ein Millionenvermögen. Sie hätten kaum Zeit gehabt, in den verbleibenden Lebensjahren diese Millionen auszugeben. Als meine Großmutter 1993 starb, spielte Geld keine Rolle – wie in den Jahrzehnten zuvor. Wir nahmen voneinander Abschied in Liebe.

Meine Mutter lebte ab 1996 – betreut von meiner Schwester – fern jenem Ort, wo die als Verkauf getarnte Enteignung stattgefunden hatte, zur Miete. Die Eigentümerin des Hauses gehört zu den wenigen Menschen mit einer ganz persönlichen Haltung zum Grundgesetz: Eigentum verpflichtet! Sie wurde zur Freundin der Familie – und das Haus war gesegnet. Die alte Dame malte die schönsten Bilder, deren sie fähig war, sie hängen immer noch erheiternd und farbenfroh in Gängen und Treppenhaus. Die Eigentümerin wusch den Zigarettengestank aus den Gardinen ihrer “Mietpartei”, obwohl sie selbst das Rauchen verabscheut.

Ich muss in diesen Tagen meinen Anteil am Haus meines Vaters verkaufen; sein Erhalt übersteigt die finanziellen Möglichkeiten der Geschwister, denen es gehört. Keiner von uns hat die Chance eines “Erwirb es, um es zu besitzen”. Vielleicht war unser Vater zu ehrgeizig, als er baute. Unsere Vorfahren – ihre Geschichte habe ich im “Blick vom Turm” aufgeschrieben – wussten wenig über die Nöte und Bedürfnisse nachfolgender Generationen. Wir müssen ihren Erwartungen nicht gerecht werden. Aber es hinterlässt mir ein tiefes Gefühl von Unbehagen und Trauer, welche Defizite ich den Nachkommen hinterlasse, wenn ich jetzt das Haus meines Vaters verschleudere, “weil der Markt mich dazu zwingt”.

Neue Aussichten beim Blick vom Turm

TurmpaarNkstark

Das Bild entstand Anfang der 50er Jahre: Meine Großeltern schauen vom “Bornmüllers Turm” auf dem Hofleite-Hügel über die Stadt. Vor 42 Jahren habe ich selbst zum letzten Mal diesen Blick genossen: kurz vorm Abitur, kurz bevor die Suhler Stasizentrale ihre Allmacht demonstrierte und die Bornmüller-Erben zwang, das Gartengrundstück mit dem romantischen Turm aus dem 19. Jahrhundert abzutreten. Es war die Zeit, als meine Wurzeln abgeschnitten wurden, denn wenig später griff der real existierende Sozialismus auch nach dem 200 Jahre alten Fachwerkhaus, in dem ich aufgewachsen war, es fiel wie die ganze Altstadt. Kein Zugang mehr zum Garten, kein Blick vom Turm, kein Zuhause mehr, wo die Familiengeschichte fast 300 Jahre lang in die Stadtgeschichte eingewachsen war.

Herrenstraße Vorderansicht

Verfallendes Fachwerk: Die Herrenstraße in den 60er Jahren

Im Namen des Fortschritts marschierten die Führer und Hilfstruppen des Sozialismus in die Pleite. Heute werden Plattenbauten abgerissen, die gerade einmal 30 Jahre überdauerten. Beton erwies sich als mürber Stoff, weil die ethischen Fundamente unterm grandiosen neuen Städtebau nichts taugten. Der Turm aus dem Jahr 1848 aber – als Kollateralschaden der DäDäÄrr-Implosion ruiniert – bekommt vielleicht ein neues Leben. Er steht unter Denkmalschutz, der neue Besitzer will ihn – vielleicht als originelle Ferienwohnung – ausbauen.

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“Tag des Offenen Denkmals”: Die Suhler entdecken ihre Geschichte

Zu wünschen ist, dass Horst Köhler – seltsame Namensverwandtschaft – die ursprüngliche architektonische Form mit dem hölzernen Dachreiter überm kreuzförmigen First wiederherstellt; vielleicht mit Hilfe des Denkmalschutzes, vielleicht dank eines neu erwachten Bürgersinns. Suhl, meiner alten Heimat, wäre das zu wünschen. Denn der Turm wurde von Edmund Bornmüller erbaut, um arbeitslosen Barchentwebern in der Krise ein Einkommen zu verschaffen. Er entstand, weil ein Unternehmer Gemeinsinn entwickelte. Angesichts globaler Finanzkrisen durch heimatlos marodierende Milliardenspekulanten werden wir solche Männer und Frauen dringend brauchen.

Wen die Geschichte interessiert: “Rennsteig TV” hat einen Film über den Tag des Offenen Denkmals online gestellt. Ab Minute 10:10 geht’s um “Bornmüllers Turm”