Denkmäler stürzen – eine Lust?

Manche Denkmäler fielen im Sozialismus, andere in Kriegen und Revolutionen – fast immer, weil sie Ideologen störten

Der Tod gehört zum Leben: Was für manche eine Binsenweisheit ist, können andere schwer hinnehmen, vor allem wenn es nächste Angehörige, womöglich gar sie selbst anlangt. Die Todesfurcht ist eine anthropologische Konstante. Während weltweit die Angst vor der Ansteckung mit dem Corona-Virus grassiert, Regierungen und internationale Organisationen, bestärkt durch eine Sintflut medialer Alarmrufe mit Maßnahmen hantieren, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, bedarf das keines Beweises.

Eine mindestens ebenso starke Konstante ist der Wunsch des Menschen nach Unsterblichkeit, oder wenigstens nach einem möglichst langen Leben bei guter Gesundheit. Beides wird gewöhnlich den Göttern zugeschrieben – sie sind ewig, manche durch den Verzehr ihnen vorbehaltener Obstsorten auch ewig jung und gesund. Der Mensch vermiede gern Krankheit und Altern; den Tod überlistet er nur im Reich des Mythischen oder im Märchen. Was ihn von allen anderen ihm bekannten Lebewesen unterscheidet ist, dass er über solche Dinge nachdenkt. Mehr noch: Göttern gleich möchte er in Worten und Werken über sein zeitlich begrenztes Dasein hinaus fortleben, ersatzweise „sich verewigen“.

Falls er das mit größeren Bau- oder Kunstwerken, nicht nur mit grob in Bäume gekerbten Initialen, irgendwo als Tags aufgesprühten Insignien oder anderen eher banalen Memorabilia tun will, muss er dazu die Macht haben – oder die besondere Gunst der Mächtigen. Monumente kosten. Notwendig ist, dass er über hinreichend großes Ansehen verfügt. Nur in beiden Dimensionen der Macht – in der materiellen wie der informellen – außergewöhnliche Ereignisse und Personen werden bedenkmalt, Schlachten und ihre Lenker, Eroberer, Diplomaten, bedeutende Reformer, außerordentliche Wissenschaftler und Künstler.

Reichtum allein schützt nicht vorm Vergessen werden, ein tadelloser Ruf allein ebensowenig. Fügt sich beides in den Augen der Entscheider, so finden sich Mittel in der Kultur: an Bauten, in Malerei, Skulpturen, Sprache und Schrift. Möglichst resistente Materialien verschaffen dem Geschehen und seinen Protagonisten Überlebensgröße und -dauer, ein Denk-Mal im weitesten Sinn.

Herausragende Leistungen zum Wohle des Stammes, einer Dynastie, Religion, Ethnie, Nation, des Berufsstands, der „Bewegung“ verhelfen zur Nachhaltigkeit in deren Gedächtnis. Auch exorbitante Schandtaten. Wer ein Denkmal für etwas oder irgendwen er-richtet, wird das Gedenken in seinem Sinn aus-richten, Erinnerung reinigen von unpassenden Eigenarten, menschlichen Schwächen, etwaigen Verbrechen des Bedenkmalten.

Das Gedenken beruft sich allerdings meist auf Erinnerungen vieler, so werden überaus zähe und zugleich plastische, schillernde Mythen überliefert, wie im Falle Alexander des Großen oder des römischen Kaisers Nero. Bildwerke oder – mit Aufkommen von Schriftsprachen – in dauerhafte Materialien geprägte Zeugnisse bewahrten Ruhm und Ansehen, zugleich bildeten sich Mythen und wucherten unkontrolliert in alle Richtungen. Mythos und Monument sind so komplementär wie informelle und materielle Macht.

Das Flüchtige und das Träge – ein Exkurs

Lassen sie mich hier auf biologische, womöglich gar physikalische Hintergründe – vielleicht besser „Untergründe“ – schauen. Schließlich basiert das Leben auf einer universellen Geschichte, und bis heute gehört der Streit über Gestalt und Geschehen des Urknalls zu den heftigsten, denen selbst das gemeinhin eher ausgeglichene Gemüt eines Physikers sich auszusetzen bereit ist. Ob mit dem Entstehen unseres Universums – also dem, was wir mittels menschengemachter Instrumente über dessen Fortgang herausgefunden zu haben meinen – zugleich ein anderes unterging, ist gänzlich ungeklärt. Auch darüber gibt es wirklich hochinteressante, allerdings meist nur für einschlägig Vorgebildete verständliche Theorien.1

Ein ebenso unerklärtes und umstrittenes Phänomen ist die „Dunkle Materie“. Dass es sie geben muss, leiten Kosmologen aus nicht zu bestreitenden Messungen der Gravitation ab. Obwohl dieser rätselhafte „Stoff“ unsichtbar ist, sich jeder direkten Beobachtung entzieht, folglich nur mittelbar, etwa aus Beobachtungen von Galaxienhaufen, als existent erweist, hat er die sechsfache Gravitation der sichtbaren Materie. Es kommt noch schlimmer: Die „Dunkle Energie“ nimmt in kosmologischen Modellen sogar 72% des Materie- und Energiegehaltes, die Dunkle Materie 23%, die Atome des heutigen Universums nur 4,6% ein. Das Ausmaß an Ungewissheit ist schlechterdings überwältigend.

Mehr zu solchen „Welträtseln“ findet sich in Enzyklopädien wie der Wikipedia; ich will hier nur mit der Frage schließen, ob es sich dabei um ungelöste oder womöglich unlösbare Probleme bei der Frage nach dem wichtigsten Stoff handelt, aus dem wir Menschen gemacht sind: aus Zeit.

Augustinus im Lateran – Phantasieporträt aus dem 6.Jahrhundert

Spätestens hier endet – nicht von ungefähr – der neuerdings viel beschworene „Konsens in der Wissenschaft“, und die Religion betritt die Bühne. Von dem Kirchenvater und Bischof Augustinus (*13. November 354 in Tagaste, einer Stadt im heutigen Algerien, + 28.August 430 in Hippo Regius) stammt der weithin bekannte Ausspruch

„Was also ist ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“ (Confessiones XI, 14)

Er weist auf die Kluft zwischen subjektivem Zeitempfinden und dem unerbittlichen, unbeeinflussbaren Gang der universalen Zeit hin, die jeden von uns werden und vergehen lässt. Woher kommen wir? Wohin (ver-)gehen wir?

Auch Religion ist eine anthropologische Konstante, vielen missfällt das, insbesondere Leuten, die „Wissenschaft“ gern in den Rang der Unfehlbarkeit erhöben und sie damit der Religion gleichstellten – im Zeitalter der Gleichstellung mögen manche das als Fortschritt sehen, aber hinter diesem Calauer steckt natürlich der Wunsch, Wissenschaft wie Religon politisch zu instrumentalisieren. Da hört der Spaß auf.

Spaß beiseite also, dafür noch einmal: Was den Menschen von allen anderen ihm bekannten Lebewesen unterscheidet ist, dass er über solche Fragen nachdenkt. Genauer gesagt: Er investiert immer mehr Zeit und Energie, sie zu beantworten. Ein Megaprojekt wie der Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider in Genf verschlingt Unsummen – Jahresbudget 1 Milliarde € – und die Zahl der am Projekt und der Auswertung von Experimenten direkt oder indirekt beteiligten Forscher und Mitarbeiter in aller Welt geht in die Hunderttausende. Hier geht es um den Mikrokosmos, die kleinsten Elementarteilchen, aber letzten Endes soll ihr Verhalten auch erklären, was das Universum ausmacht. Inmitten des unvorstellbar Winzigen und Flüchtigen und des unvorstellbar Großen und Trägen bewegt sich die seltsame Spezies Mensch. Seltsam, weil jeder Einzelne wieder – das erstaunt und beschäftigt die Hirnforscher – eine Qualität dynamischer Wechselwirkungen zwischen seinem Körper, Gehirn und der Lebensumgebung ins Universum einbringt, die astronomische Dimensionen hat und nicht weniger ungelöste Fragen aufwirft, als das Weltgeschehen insgesamt. Vielleicht auch unlösbare?

Existiert nur, was messbar ist? Was genau ist eigentlich Information? Erlangen und gebrauchen wir sie ausschließlich in Gestalt der uns bekannten Medien – also an irgendein Material oder eine Energieform gebunden? Ist ihre Qualität nur anhand ihres praktischen Nutzens zu bewerten? Was entscheidet über das Erscheinen von Persönlichkeiten, die alle vergleichbaren ihrer Zeit in den Schatten stellen und Schicksale von Völkern, Kulturen, Zivilisationen prägen, und zwar sowohl als Zerstörer wie als Erfinder, Erbauer, Schöpfer beispielloser neuer Werke? Und andererseits: Welche Impulse des Einzelnen oder von Kollektiven höchst unterschiedlicher Größe bis hin zu ganzen Nationen, Weltanschauungen, Kulturen treiben Menschen dazu, immer wieder tödliche Risiken einzugehen? Handelt es sich auch dabei um eine anthropologische Konstante? Verbindet nicht gerade dieses Risikoverhalten den Menschen mit allem Existierenden, weil es ohne fortwährende Bewegung auf dem unendlich schmalen Grat des Ereignishorizonts eben nicht existierte?

Diese Frage möchte ich mit Ja beantworten. Dass die Grundimpulse Erlangen und Vermeiden die Welt jederzeit bewegen, dass so beständig Zukunft entsteht und Vergangenheit hinterm Ereignishorizont verschwindet, unerreichbar wird, dass dabei aber genügend träge Masse – mit uns – im Ereignishorizont „gefangen“ bleibt, um daraus Hypothesen über das Vergangene aufstellen zu können, ist ein interessanter Gedanke. Den Grundimpulsen fiele dabei die Rolle des Flüchtigen zu. Wo sie sich im Geschehen materialisieren, verschwinden sie2 zugleich, ohne je aufzuhören. Kosmologen sehen in der Dunklen Energie das „Auseinanderfliegen“ des Universums begründet; eines der vielen unbegriffenen – unbegreiflichen? – Phänomene. Im Gedankenexperiment will ich dort einmal das Flüchtige vermuten. Das Träge ist sein Komplement. Und damit schließe ich den Exkurs.

Die Ewigkeit des Flüchtigen

Falls Sie den Eindruck haben, dass es sich bei mir um einen Feld-, Wald- und Wiesenphilosophen handelt: Das stimmt. Nicht unbescheiden genug, fügte ich gern noch den Luft-, Feuer- und Wasserphilosophen hinzu. Und Ja! ich überschätze mich. Das sehe ich allerdings als normales Risikoverhalten. Menschen auf der Jagd, Menschen, die Kinder zeugen, brauchen es ebenso wie Mauersegler, die 10 von 12 Monaten fliegend in der Luft verbringen, zehntausende Kilometer zwischen Europa und Afrika zurücklegen, dabei eine besondere Art zu schlafen entwickelt haben und – wenn ich’s richtig verstanden habe – sogar kopulieren. Menschen können das inzwischen auch, mehr noch: sie können sogar als einzige Lebewesen im Flug eine warme Mahlzeit zu sich nehmen. Konstatierte der unvergessene Philosoph Loriot.

Otto von Lilienthal 1894 – kein weiter Weg mehr bis zum Fliegen.

Um so weit zu kommen, mussten sie allerdings enormen Aufwand an Technik treiben. Viele starben beim Versuch, es den Vögeln gleich zu tun; die meisten hatten sich überschätzt, viele sterben immer noch, weil sie Risiken unterschätzen. Dasselbe galt und gilt für Bergsteiger, Tiefseetaucher, Langstrecken- und Skiläufer, Autofahrer… Vor allem für Krieger. Spätestens hier stößt einer auf einen wichtigen Unterschied: Wird der Impuls, ins Risiko zu springen, freiwillig ausgelöst, die (Todes-)Gefahr bewusst ignorierend – oder wird er erzwungen? Handelt einer selbständig oder getrieben? Sucht er gar den Tod? Welche Informationen sind ihm zugänglich, welche ausschlaggebend?

Keine Entscheidung – ich rede hier nicht von „rein rationalen“, die es nur als Sonderfälle in der Spieltheorie gibt – erfolgt aufgrund absolut verlässlicher und vollständiger Informationen. Jede Situation überforderte mit der Menge und Komplexität ihrer Einflussfaktoren die Fähigkeiten des Menschen und seiner Instrumente, sie wahrzunehmen und in angemessener Weise zu reagieren. Stattdessen verfügt er über ein im Hinter- (oder Unter-)grund wirkendes System der Intuition und Antizipation. Man kennt es als „Sechster Sinn“, aber das greift zu kurz. Die beteiligten Faktoren sind nur teilweise bekannt, und alle Versuche, einer „Künstlichen Intelligenz“ etwas auch nur Vergleichbares zu verpassen, scheitern – für den Physiker vorhersehbar.

Die Grundimpulse – Erlangen und Vermeiden – sind doch offenbar stark an gedankliche und sprachliche Partikel wie „Gut und Böse“ gekoppelt; auch sie sind komplementär. Könnte es sein, dass jeder Entscheidung, logisch in ein Ja oder Nein gefasst, Impulse des Flüchtigen vorauslaufen – Interaktionen zwischen Bewusstem und Unbewusstem?

Unter zahllosen Beispielen seien zwei bekannte herausgegriffen, bei denen historisches Geschehen statt eines katastrophalen einen glimpflichen Verlauf nahmen:

Als am 26. September 1983 ein Softwarefehler in der Satellitenüberwachung der Roten Armee einen Angriff der USA auf die Sowjetunion mit Atomraketen signalisierte, hätte dies den Beginn des 3. – nuklearen – Weltkrieges bedeuten können. Verhindert wurde er nur durch den diensthabende Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow. Er stand vor der Wahl, strikt nach den ihm verfügbaren Informationen und entsprechenden Anweisungen zu handeln, oder – in der Sprache subalterner Ordnung „eigenmächtig“ – die verfügbaren Informationen als Fehlalarm zu interpretieren. Das bedeutete für ihn und sein Land ein unvorstellbares Risiko. Er nahm es auf sich – und lag richtig. Es trug ihm zunächst keinen Dank bei den Apparatschiks ein; erst Jahrzehnte danach wurde er dafür geehrt, vor allem in den USA.

Am 9. November 1989 löste die – vom Informationsstand der Führung seiner Partei sowenig wie von dem der bewaffneten Grenzorgane und der Stasi gedeckte – Aussage des SED-Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski während einer internationalen Pressekonferenz über das „unverzügliche“ Inkrafttreten eines neuen „Ausreisegesetzes“ der DDR am selben Abend einen Massenansturm von Ostberlinern auf den Grenzübergang an der Bornholmer Straße aus. Der dort verantwortliche Oberstleutnant Harald Jäger musste sich entscheiden, dem Druck der Masse nachzugeben, oder als Subalterner das „Grenzregime“ nötigenfalls mit Waffengewalt durchzusetzen. Er handelte – nach eigenem Bekunden – ohne Zustimmung seiner Vorgesetzten „auf eigene Faust“, was eine Befehlsverweigerung bedeutete. Die Folgen sind Geschichte.

Es gäbe zahllose Beispiele dafür, welche massenhaften Opfer befehlsgemäßes, subalternes Verhalten in der Vergangenheit forderte und bis heute fordert. Sie weisen auf ein für autokratische, gar totalitäre Gesellschaften typisches Muster hin: Die organisierte Verantwortungslosigkeit. Keinem der – später nur ausnahmsweise als Massenmörder und Kriegsverbrecher verurteilten – Subalternen war mit Vernunftgründen hinsichtlich ihrer Schuld beizukommen. Sie beriefen sich allesamt auf das Informationssystem von Befehl und Gehorsam. Strikt rational begründet. Niemand weiß, wieviele von ihnen doch unter „Gewissensbissen“ handelten, wieviele Reue empfanden. Es gibt davon aber Zeugnisse. Natürlich auch Beweise für erheuchelte Reue mit dem Ziel, eine härtere Strafe zu vermeiden.

Noch unübersichtlicher, noch unschärfer wird das Bild, will man herausfinden, ob, wann und unter welchen Umständen ein Kollektiv aus Vernunftgründen innegehalten hätte, wären nur die Argumente gegen ein im Nachhinein als mörderisch oder selbstmörderisch erkanntes Verhalten rechtzeitig zur Stelle gewesen. Nein, ich will hier nicht nur von jenen Fällen reden, in denen sich Sekten bis heute immer wieder einmal selbst auslöschten, sondern auch von absehbar nicht zu gewinnenden Kriegen – vor allem über den letzten, ganz großen Krieg, bei dem über die Weltherrschaft entschieden wird. Mit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine, befohlen von Wladimir Putin und seiner Gefolgschaft in Politik und Militär – gerechtfertigt und propagandistisch bestärkt nicht nur von russischen Medien – ist die Bedrohung für Europa wieder gegenwärtig. Dass genügend Kernwaffen existieren, die Erde in eine kaum mehr bewohnbare Trümmerwüste zu verwandeln, weiß der eine; ob, wann und von wem dieser Schritt getan wird, ist ungewiss. Wer immer ihn unternimmt, überzeugt, dass er über genügend Räumkommandos gebietet, die auf Schutt und Bergen von Leichen eine seinen Dominanzwünschen gemäße Gesellschaft begründen: Er kann nie ganz sicher sein, dass nicht auch in den eigenen Reihen ein paar seiner Gegner überleben – womöglich statt seiner. Den totalen (End-)Sieg gibt es gegen Viren und Bakterien so wenig wie gegen anderes (in der Propaganda gern auf Menschen gemünztes) „Ungeziefer„.

Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin
Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Im vergrößerten Bild sind Besucher zu sehen: winzigklein

Ein Monument der gegen tödlichen Größenwahn versagenden Vernunft steht in Berlin. Es soll an den Holocaust, den organisierten Massenmord an den europäischen Juden erinnern, sein Bau war nicht nur wegen der Kosten umstritten. Wer genauer hinschaut und das Treiben von Touristen zwischen den 2710 Betonstelen beobachtet, wird sich vielleicht wundern, wie gedankenlos manche die Sehenswürdigkeit durchstreifen, um sich schließlich mit einem „Selfie“ zu verewigen.

Peter Eisenmann, der Architekt, sah dies bei der Eröffnung durchaus vorher:

„Wenn man dem Auftraggeber das Projekt übergibt, dann macht er damit, was er will – es gehört ihm, er verfügt über die Arbeit. Wenn man morgen die Steine umwerfen möchte, mal ehrlich, dann ist es in Ordnung. Menschen werden im dem Feld picknicken. Kinder werden in dem Feld Fangen spielen. Es wird Mannequins geben, die hier posieren, und es werden hier Filme gedreht werden. Ich kann mir gut vorstellen, wie eine Schießerei zwischen Spionen in dem Feld endet. Es ist kein heiliger Ort.“ äußerte er 2005 in einem Interview mit dem „Spiegel“.

Die zuständigen Verwalter sehen das anders. Gegen Schmierereien ließen sie die Stelen mit einer abweisenden Schicht überziehen. Auch dem Zahn der Zeit – da er sich nicht ziehen lässt – trotzen sie etwa mit Metallbandagen gegen Risse, die sich seit 2008 infolge von Hitze, Kälte, Wind und Regen im Beton ausbreiteten. Ist es der Rang des Kunstwerkes, der – wie etwa bei Kathedralen – die fortwährende Instandhaltung erheischt? Worin stünde andererseits der mythische Rang von Tempelruinen dem intakter Bauwerke nach?

Vielleicht ist die Frage erlaubt, ob die Erbauer – neben dem rühmlichen Gedenken für die unvorstellbar vielen vernichteten Menschenleben – nicht auch der eigenen gesellschaftlichen Stellung, dem moralischen Ansehen einiges Gewicht geben wollten. So weit, so legitim. Jeder, der Wert auf eine ehrenvolle Bestattung seiner Angehörigen legt, tut das. Sepulkralkultur dient den Lebenden, nicht den Toten.

Gräberfelder und Stolpersteine, mit denen der Opfer massenhafter Morde und Selbstmorde gedacht wird, haben allerdings kaum je Nachgeborene gerettet. Sie haben auch den nächsten Krieg, den nächsten Führer und die nächsten seriellen Zerstörungen menschlicher Errungenschaften nicht verhindert. Ich wage zu behaupten, sie haben sie nicht einmal gebremst.

Gibt es irgendeinen wissenschaftlichen Beleg dagegen? Natürlich gibt es sie ohne Zahl. Jedenfalls in der Wahrnehmung jener Politiker, Journalisten und „Wissenschaftler“, die von „No Covid“, „Klimarettung“ oder der „großen Transformation“ schwadronieren. Obwohl es an begreiflichen wie berechtigten Einwänden gegen die Ermächtigung von Kommunisten und Nationalsozialisten nie gefehlt hat, war und ist der Größenwahn weltweit gültiger moralischer Überlegenheit, von der Herrschaft der Guten, vom ewigen Frieden und Glück im Glanz letzter Erkenntnis nicht ausgeträumt, egal welche Opfer er kostet. Die Farben, Symbole, Uniformen aus Stoff oder im Geiste wechselten, das Ziel – Weltregierung, absolute Hoheit über Deutung, Recht und Verteilung der Güter – blieb. Wer Bedenken vorbringt, kann heute bereits wieder vom Glück reden, wenn er nur ausgelacht, für verrückt erklärt, sozial isoliert oder ins Exil getrieben wird.

So elementar wie allgegenwärtig ist der Impuls zur Dominanz. Sein Ziel ist, Macht zu erlangen und deren Verlust zu vermeiden. Dominanz bedarf der Unterwerfung, der Subalternität – ohne Subalterne ist niemand mächtig. Das begründet eine wechselseitige Abhängigkeit beider Seiten: Sie sind komplementär, sie brauchen einander bis zur paradoxen Rollenumkehr. Wer Kinder aufzieht, erlebt das vom ersten Schrei des Säuglings an. Der vermeintlich Unterlegene kann – der elterliche Instinkt gebeut’s – andauernd, ausdauernd Fürsorge erzwingen. Eine Frau, die ihren Säugling aussetzt, ist nicht mehr Mutter, ihr drohte früher soziale Ächtung. Mit Glück fanden und finden sich passende Pflegeeltern – so weit, so auch im Tierreich geläufig und für das Fürsorgeverhältnis unerheblich. Was ich sagen will: Der Subalterne kann Fürsorge erpressen solange der „Herr“ seiner bedarf, und zwar nicht nur als Arbeitskraft, sondern auch als Zeuge seiner sozialen Stellung. Je mehr Sklaven, Soldaten, Angestellte er hat, desto größer sein Ansehen: seine informelle Macht.

Verhungernde Sklaven, zu Tode erschöpfte Zwangsarbeiter, sieglos sterbende Soldaten beenden fast jede Herrschaft nicht nur materiell sondern auch informell: König Ohneland wird zum Gespött ohne Denkmal, der größte Führer aller Zeiten wird zum Scheusal, der Firmenchef meldet Privatinsolvenz an… Soweit beliebte Dramenkonstellationen, in deren Folge manchmal ein „Negativ-Denkmal“ übrig bleibt wie der Teufel in den Mythen. Auch das kann unsterblich machen. Was da in legalen oder illegalen Überlieferungen weiter west, ohne es zu mehr als verschwörerischen Signets und Schriften zu bringen, tut’s vor allem in der Dimension des Flüchtigen.

Was im Alltag meist funktioniert: beide Seiten wissen, dass Fürsorge sie erhält, sie werden immer wieder in Konflikte geraten und Kompromisse aushandeln – mit unsicherem Ausgang. Hier ist das Flüchtige, das Volatile in seinem Element, keineswegs nur deshalb, weil die Ratio alles regelt. Im Gegenteil: Eine Einbuße an Spontaneität, Inspiration, Freiheit beim Spiel der Kräfte schwächt erfahrungsgemäß jede Beziehung. Zukunft braucht Spielräume für alle Beteiligten, das bedeutet nicht Regellosigkeit. Nur die „sichere Zukunft“ ist ein Oxymoron.

Nur der Tod ist sicher. „Mors certa, hora incerta“: In diesem lateinischen Sprichwort löst sich Augustinus‘ nachdenkliche Formulierung auf: Nur der Lebende hat Zeit, sie stirbt mit ihm. Das letzte, was er sieht, ist seine von fremden Zielen und Impulsen verstopfte Zukunft: Sei’s vom Killerinstinkt eines Feindes, dem Auto eines Geisterfahrers oder von Krankheiten, die sein Immunsystem überwältigen.

Andere können beim Sterben zuschauen, es wird Teil ihrer Erinnerung, ohne dass es als Erfahrung vermittelbar wäre. Menschen töten Menschen seit je, weil sie etwas erlangen oder vermeiden wollen, z. B. getötet zu werden. Letzteres gilt in der Gesetzgebung der meisten zivilisierten Gesellschaften als nicht zu bestrafende Notwehr. Richter müssen entscheiden, ob die subjektiv erlebte Todesfurcht begründet war. Eine unlösbare Aufgabe. Die komplexen, zeitlich und gesellschaftlich determinierten Umstände sind nie „objektiv“ zu bestimmen. Rebellen, Mörder, Totschläger, psychisch Gestörte, Polizisten, Soldaten – wer darf fremdes Leben ungestraft auslöschen? Die Chancen auf Freispruch stehen für Täter umso besser, je höher ihr Rang in den Kategorien von Kollektiven ist, die – womöglich von Staats wegen ermächtigt – die Deutungshoheit haben, und je größer dank moderner Waffentechnik ihre Entfernung zum realen Geschehen des Tötens ist.

Die organisierte Verantwortunglosigkeit moderner ökonomischer und politischer Systeme, vollendet ausgeprägt im Totalitarismus, stellt die Verursacher von nach Millionen zählenden Massakern fast immer frei, meist auch die gewalttätigsten Schergen und Handlanger. Die Urteile der Nürnberger wie der Auschwitz-Prozesse und des einen oder anderen vor internationalen Gerichtshöfen haben daran wenig oder nichts geändert. Mao Zedong, seine Gehilfen und Nachfahren in der KPChinas gelten in der Ära Xi Jinpings wieder als Vorbilder, ein rigider Nationalismus lässt jeden Dissidenten als Feind des chinesischen Volkes erscheinen, Denkmäler, Porträts, die „Mao-Bibel“ haben Konjunktur.

In etlichen Gegenden dieser Welt droht Zweiflern am Kurs der Mächtigen der Tod. Manche nehmen ihn in Kauf. Sie wollen sich „ums Verrecken nicht“ den vielen gesellen, die sich mit den je herrschenden Verhältnissen arrangieren. Kollektiver Druck mit Argumenten wie „Wer gibt dir eigentlich das Recht, dich querzulegen?“, „Willst du was Besseres sein als alle anderen?“, „Du arbeitest den Feinden der Gesellschaft in die Hände!“ schrecken sie nicht ab; dafür werden sie von Mitläufern denunziert, verleumdet, bekämpft, exekutiert – noch im vermeintlich sicheren Exil.

Was tut einer, dessen Aussicht nichts anderes als „eine See von Plagen“, ein unausweichliches, grausames Leiden mit sicherem, qualvollem Ertrinken ist – oder ein paar Schritte bis zur Gaskammer, zum Galgen, zur Guillotine? „Lever dood as Slav“, war das überlieferte Motto friesischer Freiheitskämpfer, schwimmen bis zum letzten Atemzug, strampeln, bis die Kräfte verbraucht sind, „kämpfend untergehen“, sei’s nur mit letzten Worten dem Henker die Stirn zu bieten. Der wenigsten wurde – wird – bis heute mit Ehrfurcht gedacht. Sie waren und bleiben Einzelgänger.

Unübersehbar ist das Heer jener, die sich ohne Gegenwehr ergeben, angsterstarrt, hoffend, dass „hora incerta“ vielleicht das Wunder bedeuten kann: Rettung in letzter Sekunde durch himmlische oder irdische Mächte. Schlimmer noch: manche helfen den Henkern, letzte Schreie der Verzweiflung abzuwürgen, wie es vor den Gaskammern der Shoah geschah.

Das Holocaust-Monument auf dem ehemaligen Gelände der mörderischen Mauer in Berlin ist wie für diese Masse Namenloser gemacht. Wenn es einen komplementären Mythos gibt, ist es der des anonym Untergetauchten, Geflohenen, hilfsbereiten Außenseiters in der KZ-Gesellschaft. Das Mahnmal sagt eigentlich: „Wehr‘ dich, bevor es zu spät ist!“

Damit komme ich endlich wieder auf die Überschrift zu sprechen, denn immer standen am Anfang kollektiver Selbstmorde – und jeder Griff nach der Weltherrschaft riskiert ihn – überlebensgroße Führungsfiguren und eine Ideologie. Nicht selten wurden ihnen schon frühzeitig mit ersten Erfolgen, jedenfalls wenn sie anhielten, Monumente errichtet. Die der Architektur – Tempel, Kathedralen, Moscheen, Paläste, Wallfahrtsorte – überlebten Jahrtausende ebenso wie die „Heiligen Bücher“ der Juden, Christen, Muslime. Der Begriff „Buchreligion“ sagt es. Die Schriften eines Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao Zedong begründeten eine Ersatzreligion von nicht weniger suizidaler Potenz. Nach vorübergehendem Sturz infolge massenhafter Gräuel unter ihrer Führerschaft kommen sie wieder zu Ehren, und architektonische Monstrositäten des Sozialismus sind Sehenswürdigkeiten wie die Marx-Statue in Trier, ein Geschenk von Xi Jinping.

All das sind Versuche, flüchtiges, vergängliches Leben und Denken – gekoppelt an besondere materielle und informelle Macht – unvergänglich zu machen. Flüchtige Zeit wird mit einem auf Ewigkeit zielenden Gewicht beladen, die Erinnerung mit einem Höchstmaß an Trägheit beschwert, auf dass die Ideen und Handlungen der Großen fortwirken, wenn die Nachwelt sich darüber verständigt, was zu erlangen, was zu vermeiden ist. Dabei gerinnt die Sprache, erstarrt in Phrasenritualen, wird in Stereotypen gestanzt, zu Worthülsen gedrechselt, wird ihres Sinnes und ihrer Sinnlichkeit beraubte verbale Uniform versteinernder Verhältnisse. „Kaderwelsch“ nannte Bertolt Brecht das. Auf die Politbürokraten der DDR gemünzt passt dieses Wort heute auf all jene doktrinären Bewegungen, die – mehr oder weniger staatlich geduldet oder gar gefördert – Kriege um die Deutungshoheit führen. Ihnen allen ist gemeinsam der kollektivistische, korporatistische, etatistische Impetus. Das freie Individuum, dessen Recht, seine Meinung zu äußern und den Verfall unter Fundamenten und hinter Fassaden der je herrschenden Ordnung bloßzulegen, eigene, selbständige Wege zu gehen, ist ihr größter Feind.

Führungsfiguren werden – fast wie Gottheiten – Stoff künstlerischen Schaffens. Bisweilen nehmen sie gottähnliche Züge an. Wer Bauten, Porträts, Standbilder, Lobpreisungen jeder medialen Form in die Welt setzt, darf darauf vertrauen, selbst ein wenig in der Aura zu glänzen, die er in Denkmälern materialisiert. Das kann schiefgehen wie bei Leni Riefenstahl, Arno Breker und literarischen Apotheosen der Tyrannei, aber selten sind die Folgen für Schöpfer und Produkt so irreparabel wie der Tod jener, die in den kollektiven Selbstmord mitmarschierten.

Manche Mythen verorten seltsame Schatten in einem besonderen Reich: Dort sind Schuld, Unrecht aller Art, aber auch Versagen, Furcht und Schrecken, Lug und Trug, Neid, Missgunst, Untreue – kurz: all jene dunklen Kräfte – beheimatet, von denen Heldendenkmäler gereinigt erscheinen. Als wolle man die Kräfte des Todes, des ewigen Wandels, das Ungreifbare und Flüchtige dort bannen. Wer errichtet ein Denkmal, das den Verfall feiert: von der Witterung zermürbt, verrostend, dahinbröckelnd, bald verschwunden? Es mag einzelne geben – vielleicht angeregt von Joseph Beuys –, durchgesetzt haben sie sich nicht.

Keines der Reiche in der menschlichen Geschichte konnte überdauern. Manche blieben an Denkmälern ihrer Tätigkeiten, Führer, Kriege erkennbar, auch sie vom unvermeidlichen Verfall gezeichnet, manche kaum mehr zu identifizieren. Die Grundimpulse der Herrschaft aber blieben mitten im materiellen und ideellen Wandel erhalten, sogar Herrschaftsformen und -methoden finden sich fast überall – zeitlos – wieder, nur neue Technik kam hinzu.

All das folgt dem Drang des Menschen zum Erobern ebenso wie Seefahrten, das Bauen von Fluggeräten und die zahllosen Konflikte, Kämpfe, Kriege, geführt um die Macht und ihren Erhalt. Das Denken muss sich dabei den beiden Grundimpulsen – Erlangen und Vermeiden – fügen: Es will in der Dimension flüchtiger Ideen dominieren, lässt Risiken geringer oder größer erscheinen, bevor über Handeln oder Zögern, Einlenken oder Durchsetzen rational entschieden wird. Man sollte meinen, dass je bedeutsamer ein Unternehmen, desto robuster das Theoriegebäude sein sollte, auf dem ein Entschluss beruht.

Das Dilemma besteht aber darin, dass über die Zukunft – also den Erfolg oder Misserfolg – niemals volles Wissen zu erlangen ist. Egal ob jemand allein oder in einem Kollektiv agiert: die Kraft elementarer Impulse triumphiert immer wieder über komplexe Erwägungen des Für und Wider. Und ein besonders schwer zu kontrollierender Impuls ist „Gewalt – Macht – Lust“.

Die "Alexanderschlacht" - 333 v.Chr. - 1528 von Albrecht Altdorfer imaginiert, weist auf die Allgegenwart von Konflikten in der Geschichte
Die „Alexanderschlacht“ – 333 v.Chr. – 1528 von Albrecht Altdorfer imaginiert, weist auf die Allgegenwart von Konflikten in der Geschichte

Natürlich lässt sich eine Elementarstrategie, wie die Gewalt es ist, nicht einfach abschaffen. Sie hat zum Überleben der Gattung beigetragen wie die Paarung zur Fortpflanzung. Menschen erleben andauernd, welches Glücksgefühl entsteht, wenn ein „Befreiungsschlag“ gelingt, wenn Fesseln gesprengt werden, wenn das Übermächtige und Bedrohliche zu Boden stürzt und zerschmettert werden kann – wie Hitlers Führerbunker und der Stacheldraht um die Arbeitslager Stalins, wie die Berliner Mauer, wie der israelische Panzer oder die Taliban–Basis, die in die Luft fliegt, wie der Kinderschänder, der einer rächenden Meute in die Hände fällt. Gewalt macht Lust, wenn sie „das Böse“ austilgt, und dieser Lust überlassen sich tagtäglich, zu jeder Stunde und Minute, in jedem Augenblick Millionen Menschen im Fernsehen, im Kino, im Theater, im Stadion oder im Panzer, mit der Steinschleuder in der Hand, im Düsenjäger, mit dem Messer oder der Maschinenpistole – oder im Bordell bei einer Minderjährigen. Oder auch mit dem Federhalter überm Papier, dem Mikrofon vor der Nase, der Kamera auf der Schulter, dem Text- und Bildverarbeitungsprogramm oder dem 3-dimensional animierten Killerspiel auf dem Monitor. GEWALT MACHT LUST.

Das steht im Vorwort zu „Der menschliche Kosmos“. Ich will hier nur auf den speziellen Aspekt des Niederwerfens und Zerstörens verhasster Feinde „in effigie“ zu sprechen kommen, also auf das Vernichten von Bildwerken, Symbolen, Büchern und anderen Medien, die anstelle der (unerreichbaren) Originale zum Ziel eines Mobs, einer Bewegung, eines Heeres werden. Linke Ideologen erfanden dafür den beschönigenden Begriff „Gewalt gegen Sachen“. Sie täuschen damit eine humane, moralisch kaum anfechtbare Zielsetzung vor, da sich ihre Brutalitäten angeblich nicht gegen menschliches Leben richten.

Tatsächlich richten sie sich nur scheinbar ausschließlich gegen materielle Zeugnisse des Daseins feindlicher Götter, Herrscher, Denker, Künstler. Die Medienwelt, auf spektakuläre Aktionen fixiert, greift dankbar nach Bildern des Vandalismus, des Schändens und Zerschmetterns, macht aber die Ziele dahinter nur dann sichtbar, wenn sie sich politisch passend einordnen lassen. Je nach Gesinnung empören sich Journalisten über den Frevel oder beschönigen, verteidigen die „Aktivisten“ und forschen nach – möglichst akzeptablen – Gründen der Täter. Sie billigen insofern deren ideelle Attacken auf das Ansehen von Personen und Werk, die nicht dem eigenen Lager zuzurechnen sind. Manchmal sondern sie ein paar Phrasen der „Betroffenheit“ über den Sachschaden ab.

Dabei toben sich „in effigie“ Mord- und Rachegelüste gegen Menschen so ungehemmt aus wie sadistische Neigungen. Schänden und Verwüsten zielt immer auf diejenigen, in deren zivilisatorischem Wertesystem Denkmäler und gesellschaftlicher Rang verankert sind. Die Täter testen spielerische Vorformen, Simulationen des Terrors. „Wie weit kann ich gehen?“ ist das Muster. Bleibt es folgenlos, wenn ich die Wände eines restaurierten Gebäudes, wenn ich ein Standbild mit meinen „Tags“ beschmiere? Wieviele Autos kann ich anzünden ohne erwischt zu werden?

Der Vandalismus korrespondiert mit Pöbeln, Diffamieren, Verleumden, Hetzen in der informellen Sphäre – also mit Angriffen aufs Ansehen, auf den Ruf des Attackierten. Die liberale, freiheitlich und rechtsstaatlich verfasste Öffentlichkeit lässt hier große Spielräume im Sinne des Wortes. Doch zielen diese ideologischen Kriege allzu oft auf Vernichtung. Genaues Hinsehen lohnt: Soll niemand mehr den Gegenspielern vertrauen, ihre Gedanken aufgreifen und verbreiten? Werden obendrein alle, deren Denken, gar geäußerte Meinung sich mit ihnen in Verbindung bringen lässt, verdächtig und ebenso attackiert – ohne Rücksicht auf Qualitäten und Leistungen? Diese Form der „Kontaktschuld“ hat in den „Social Media“ Konjunktur. Werden die je aktuell erwünschten Vorstellungen von Gut und Böse radikal in die Vergangenheit ausgedehnt, egal wie unsinnig sie aus historischer Perspektive erscheinen? Das führte dann genau zu den Alpträumen von Geschchtsklitterung in George Orwells „1984“.

Die Welt der Menschen, mit denen jeder von uns zusammenleben muss, ist von einer nie dagewesenen Komplexität. Sie wandelt sich zugleich in nie zuvor erlebter Rasanz. Die Massen an Materialien und Informationen, die in jedem Augenblick umgeschlagen werden, sind unvorstellbar, auch wenn allgegenwärtige Statistiken ihre Beherrschbarkeit suggerieren. Wer sind die wahren Herrscher? Welches sind ihre Paläste, Tempel, Kathedralen, Moscheen, Denkmäler, Bibliotheken für die Ewigkeit? Besonders Wagemutige stellen anheim, dass künftige Besucher – „Aliens“ – anhand dessen, was sie vorfinden werden, unsere Zivilisation sollten rekonstruieren können.

Ohne mich weiter auf derlei Science Fiction – nicht mehr als einen Aufguss religiöser Wunschvorstellungen – einzulassen: Die Herrscher sind nur in der von Routinen, Ritualen und Gesinnungskitsch einer quotenfixierten Aufmerksamkeits-Ökonomie befangenen Wahrnehmung der Medien überlebensgroße Persönlichkeiten. Politiker wie Milliardäre sind in der zeitlichen Relation zu Pharaonen, Propheten, Päpsten, Feldherren, Kaisern und Königen eher Zwerge.

Stalin, Hitler, einige Größen der Film-, Literatur- und Musikwelt sind immerhin im Gedächtnis mehrerer Generationen präsent – also in der Sphäre flüchtiger Gedanken von bislang 100 Jahren, weil sich an ihnen bis heute verdienen lässt. Das Negativ-Denkmal Hitler dürfte als Goldesel unübertroffen sein. Ob es Bill Gates oder Jeff Bezos so weit bringen werden? An welchen von den Nachfolgern des kommunistischen Kaisers Mao erinnern Sie sich? Gut, Sie sind kein Chinese. Aber wie ist’s mit englischen, französischen, spanischen Staatsoberhäuptern? Vergleichen Sie einfach spaßeshalber die Beatles mit japanischen Popstars, die 2000 Jahre seit dem Beginn des Jesus-Mythos mit den 200 der Marx-Engels-Lenin-Stalin-Mao-Religion und fragen Sie ruhig, wer auf wessen geistigen Schultern steht.

Die Herrscher von heute sind riesige Korporationen, viele global aufgestellt. Sie nahmen berühmte Architekten in Dienst für ihre Paläste, der Aufwand, sie medial aufs Spektakulärste, schier unwiderstehlich zu inszenieren, sprengt das Budget etlicher Nationen. Gerne profitierten die ärmeren Staaten von ihrer Macht, aber egal wo und von welchen Staaten oder Konzernen sie dominiert werden: Die Herren der Welt marginalisieren auf jeden Fall ihre Kultur.

Dominanz im Reich des Flüchtigen, die informelle Macht, war noch nie so entscheidend wie heute, und das lässt sich nicht nur anhand des Aufwandes, also der Quantität der dafür eingesetzten Mittel, sondern vielmehr auch am Verschleiß menschlicher Qualitäten erahnen. Die schaurigen Entwürfe von Aldous Huxleys „Schöner Neuer Welt“, Kafkas „Prozess“, Orwells „Farm der Tiere“ oder „1984“ sind – was Subalternität, Überwachung, devotes Verhalten, massenhaften Konsum verblödender Unterhaltung und die weltweit an ihrer Unangreifbarkeit arbeitenden Organisationen von Politik, Wirtschaft, Medien anlangt, längst überflügelt.

Und doch… Wer die Lebensdauer moderner Monumente – Banken, Hotels, Konzernzentralen, Sportstadien, Spielkasinos, Brücken, Bürokomplexe anschaut, wird sie vergleichsweise kurz finden. In den USA darf sich eine Firma rühmen, Weltmeister in einigen Disziplinen des Sprengens solcher Bauwerke zu sein, darunter größte, besonders komplizierte, höchste. Es gibt einen Film darüber; er ist sehenswert, nicht nur wegen der erstaunlich sorgfältig geplanten und vollzogenen Zusammenbrüche und der gescheiten Fachleute im Familienunternehmen, sondern auch wegen der Zuschauer. Es waren alles in allem Hunderttausende, oft die ehemalige Kundschaft, die mit Applaus und Feuerwerk das Ende einstiger Vergnügungsstätten und Denkmäler der Ingenieurskunst feierten.

Immer wieder komme ich ins Staunen, wie schnell berühmte Namen verblassen, politische Strömungen, Markennamen, Bücher und Filme vergessen werden. Die Impulse bleiben erhalten, und sie lassen sich nicht ersticken: Das Flüchtige treibt alle – auch die von den Mächtigen am wenigsten erwünschten Gedanken, Wünsche, Absichten, weiter. Womöglich in immer größerem Tempo? Das subjektive Zeitempfinden lässt mich ahnen, wie eine dunkle Energie das Zeitmaß des Universums bestimmen könnte. Gott sei Dank ahne ich aber nicht einmal, wieviel Zeit mir noch bleibt, geschweige, wie lange es bis zum nächsten Urknall ist.


2  Für Interessierte: In der Quantenphysik entspräche das dem „Zusammenbruch der Wellenfunktion“


1  Brian Greene: „Die verborgene Wirklichkeit, Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos“, Pantheon 2013

Der Beitrag erweitert den Artikel im „Globkult“-Magazin vom 16. August 2021

Geschichte trifft Gegenwart: Ein Buch für Demokraten

Schroeder, Der Kampf ist noch nicht zu Ende.inddMassenmörder, Auftragskiller, Folterer, Schreibtischtäter: Sie sind Lieblingsfiguren der Geschichtsschreibung, in Filmen und Literatur – sei es als Monster, unheimliche Doppelexistenz oder gottgleich verehrtes Leitidol. Und wenn eine Lichtgestalt auftritt, bedarf sie solcher Gegenspieler zum Sieg, zur Machtübernahme – das heißt dann „Happy End“.

Die Realität kennt weder makellose Lichtgestalten noch Happy End. Das Ende der Gewalt ist der Beginn einer nächsten – Gewalt ist eine Konstituante menschlichen Handelns. Der Unterschied zwischen Leitidol und Schreibtischtäter, Lichtgestalt und Massenmörder liegt nur in der Wahrnehmung des Geschehens durch verschiedene Betrachter und in der Deutung, die aus ihr folgt. Gleichwohl ist es möglich, aus Deutungsmustern einer politischen Richtung auf deren Rechtsverständnis und Demokratietauglichkeit zu schließen: Wie beschreibt sie Konflikte, Motive und Ziele der Beteiligten? Gesteht sie eigenes Fehlverhalten ein? Korrigiert sie sich? Übt sie gar tätige Reue? Hält sie Spielräume fürs Verhandeln mit Gegnern offen? Oder versucht sie jedenfalls die Deutungshoheit zu gewinnen, indem sie Feindbilder schafft und verschärft; spricht sie Konkurrenten – egal ob Individuen oder Gruppen – die Menschlichkeit ab und sich selbst das Recht zu, Gewalt anzuwenden, womöglich schrankenlos?

Die langjährigen Forschungen von Monika Deutz-Schröder und Klaus Schröder fußen auf solchen Fragestellungen, und ihr Blick auf die Geschichte linker Gewalt ist nüchtern und sachkundig. Das Buch, in dem sie wissenschaftliche Ergebnisse zusammenfassen, geht tiefer und ist trotzdem spannender als jede filmische Doku. Es enthält sich weitgehend der Deutung, es beschreibt seinen Gegenstand akribisch und lässt dem Leser Raum zur Prüfung zahlloser Quellen und eigener Erfahrungen. Deshalb eignete es sich trefflich als Lehrbuch für den Geschichtsunterricht – und ist zugleich spannende Lektüre für einschlägig Interessierte. Ob es sich in der zunehmend polarisierten und pausenlos mit Strömen „geframter“ – also auf eine erwünschte Wahrnehmung hin gefärbter, häufig manipulativer – Informationen zu politischen, wirtschaftlichen, kulturellen Themen wird behaupten können?

Einer, der das DDR-Regime von Geburt an erlebt hat, der in Schulen, Hochschulen und Alltag indoktriniert und desinformiert wurde, der zugleich lernte, sich dagegen zu wehren, gleichwohl sozialistische Gedanken nicht ablehnte, sondern lange für reformierte staatliche Verhältnisse eintrat, einer, den seit dem 14. Lebensjahr eine im Hintergrund mitwandernde Stasi-Akte verfolgte – so einer nimmt fast jede politische Publikation von im Westen sozialisierten Wissenschaftlern nicht ohne Skepsis zur Hand. In diesem Fall wusste ich seit langem um die fachlichen Qualitäten der Autoren, umso mehr schätze ich dieses historisch grundierte, kluge und verständige Buch über die unterschätzte Gefahr des Linksextremismus für die Gegenwart.

Für die Verbindungen zwischen linken Gruppen verschiedenster Ausprägung, RAF und Stasi etwa gibt es verlässliche Beweise, und dass sich seit den 60er Jahren internationale Netzwerke von Extremisten bildeten, war erst kürzlich wieder in einem Fernsehbericht zu verfolgen. Gern unterstützen Despoten jeglicher Sorte linksextreme (auch als NGO getarnte) Organisationen, um demokratische Staaten zu destabilisieren – das wäre beunruhigend genug. Schlimmer, wenn sich hierzulande herrschende oder als Opposition etablierte Parteien samt medialer Anhängerschaft solcher Gruppierungen bedienen, um unerwünschte Konkurrenz oder auch nur einzelne kritische Stimmen einzuschüchtern, womöglich zu ersticken.

Bürgerliche Parteien der Weimarer Republik ließen Hitlers NSDAP gewähren, gaben sogar medialen Begleitschutz für den Kampf gegen die Linke. Das war politischer Selbstmord. Die Ermächtigung der Nazis bedeutete auch ihr Ende. Ähnlich erging es nach 1945 jenen Teilen der SPD, der Liberalen und Nationaldemokraten, die sich unter dem Schlagwort “Antifaschismus” aufs Bündnis mit Ulbrichts Kommunisten einließen. Sie waren fortan wenig mehr als Handlanger.

Dieses Buch beweist, dass heutige Schläger, Brandstifter und Maulhelden von “Antifa” & Co. eben keine Helden sind. Wer Linksextreme ideologisch pampert, wer ihre Straftaten verklärt oder verharmlost, zeigt mindestens historische Unkenntnis, jedenfalls aber sein unreflektiertes Verhältnis zu totalitärer Macht. Wähler sollten das wissen. “Der Kampf ist nicht zu Ende” macht sie mit guten Argumenten vertraut: Damit sie künftig ihre Stimme nicht ein für alle Male abgeben.

Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder

Der Kampf ist nicht zu Ende

Geschichte und Aktualität linker Gewalt
1. Auflage, 2019
320 Seiten, Verlag Herder
ISBN 978-3-451-38298-7
€ 26,00

Wendehälse im Gestell

KosmosTitel

Was treibt einzelne Menschen – und wohin treiben Staat und Gesellschaft?

„Die Erschaffung des An-Gestellten“ ist ein besonders wichtiges Kapitel in „Der menschliche Kosmos“. Es handelt u.a. davon, weshalb Bürokratien ungehemmt wuchern, Unternehmen von Managern, Staaten von Regierungen in schwere Krisen gesteuert werden –  und am Ende fast nie Verantwortliche dingfest zu machen sind.
Angestellter ist ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsaufgaben überwiegend aus geistiger Arbeit bestehen.“, sagt die Wikipedia. Die Unterschiede zu Arbeitern verschwinden indessen mit fortschreitender Automatisierung, die zu Beamten bestehen in deren besonderer Bindung an den Staat, weniger in ihren Funktionen innerhalb der Organisation. Ich verwende den Begriff hier für „abhängig Beschäftigte“ in allgemeinerem Sinn.

Angestellt zu sein ist in den entwickelten Industrieländern fast zur einzig möglichen Lebensform geworden. Es gilt als Katastrophe, seine Anstellung zu verlieren und „arbeitslos“ zu werden. Das ist eine verräterische Ausdrucksweise, die „Arbeit“ mit „Anstellung“ gleichsetzt und das Leben außerhalb der Anstellung abwertet − als ob man nicht auch als Selbständiger oder einfach als Hausfrau und Mutter vollwertig arbeiten könnte.
Das System, Einkommen als Angestellter zu erwerben – nennen wir es mit Martin Heidegger einfach „das Gestell“ – sichert großen Massen von Menschen die Existenz, es strukturiert fast allgegenwärtig die Arbeitswelt und fast jede Arbeitsorganisation setzt auf dem Gestell auf. Wer an-Gestell-t ist, muss Unwetter und Missernten kaum noch fürchten, auch nicht, dass er als selbständiger Handwerker mit seiner Werkstatt wegen neuer Produktionsverfahren Pleite geht. Er verfügt über relativ sicheres Einkommen, Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung (die eigentlich eine Versicherung gegen das Nicht-angestellt-Sein ist), kurz: er hat mehr gegen all die vielen Existenzängste und für die Sicherheit getan als irgendeiner der in Jahrtausenden verblichenen Vorfahren.
Am Ende bleibt eigentlich nur eine – neue – Angst: aus dem Gestell herauszufallen.
So wie der Günstling des Königs dessen Zorn muss der Angestellte fürchten, gegen die Maßgaben seiner Firma, gegen die ihm zugewiesenen Rolle in der Hierarchie – im Gestell – zu verstoßen. Das Schicksal eines einzelnen Unternehmens braucht ihm dabei nur so lange wichtig zu sein, als ihm seine Dienste hinreichend vergolten werden und nicht ein komfortablerer Platz in einem anderen Unternehmen, einer Behörde oder sonst einer Organisation winkt.
Der schnelle Zusammenbruch der DDR 1989 und die unaufhaltsame deutsche Vereinigung unter den „Wir sind ein Volk“ – Rufen der Bevölkerung des hinfälligen „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ haben weniger mit nationaler Sehnsucht – umso mehr mit der Tatsache zu tun, dass die DDR ein fast perfektes Gestell war. Spätestens 1972 waren im Osten Deutschlands die Unternehmer als soziale Schicht eliminiert. Freiberufler waren fast bedeutungslos. Im „real existierenden Sozialismus“ (zu diesem Begriff wird später noch einiges zu sagen sein) gab es praktisch nur Angestellte. Deren Loyalität gegenüber dem Großkonzern DDR mit seinen vielen Tochterunternehmen – den Kombinaten der Industrie, den Produktionsgenossenschaften in Handwerk und Landwirtschaft, den Heerscharen von Behördenangestellten – war durch nichts leichter und zugleich nachhaltiger zu erschüttern, als durch die Aussicht auf viel bessere Anstellungsverhältnisse in den Unternehmen und Organisationen des Westens. Deren marktwirtschaftlicher Erfolg erschien via Werbefernsehen und Intershop zum Greifen nah und zugleich unerreichbar fern.
Tatsächlich trägt die deutsche Vereinigung Züge der „feindlichen Übernahme“ eines bankrotten Unternehmens durch einen starken Konkurrenten. Besonders deutlich wird das im jahrelangen, von Korruption, Schiebungen, Erpressungen begleiteten Agieren der „Treuhandanstalt“.

NVAWappen

Treueschwüre sind befristet – der Opportunismus nicht

Und nicht zuletzt die „Staatsdiener“ in Polizei, Armee und Verwaltung verhielten sich in der Mehrheit vollkommen anpassungsbereit gegenüber einer Gesellschaft, die ihrer alten Unternehmensführung als schlimmster Feind galt, als „Klassenfeind“ – in der quasireligiösen Ideologie der totalitären Parteien also als der Teufel. Das schmälerte selbst bei hohen Offizieren, die bis zum Herbst 1989 glaubwürdig ihre Bereitschaft zum Atomschlag gegen den Klassenfeind bekundeten, nicht die selbstgewisse Bereitschaft, sich bei Militär, Polizei oder Geheimdienst der fusionierten Deutschland AG – eben des Teufels – anstellen zu lassen.
Solchen Figuren – stramm linientreu, bereit, Nachbarn und Kollegen anzuschwärzen, auszubooten, bei Partei und Stasi zu denunzieren, wenn es der eigenen Karriere nützte, nach der politischen „Wende“ servil gegenüber der ehemaligen „Konkurrenz“ – verlieh der Volksmund den Namen „Wendehals“, was ungerecht gegenüber dem netten Vogel ist. Der Erfolg gab vielen Recht.

Politbürokraten, Meutenmut und Populismus

Porträtfoto von Immo Sennewald 1983

1983 in Ostberlin: Der Autor kurz vorm Berufsverbot

Was Vera Lengsfeld, Monika Maron, Henryk M. Broder, Uwe Tellkamp und anderen Unterzeichnern der „Erklärung 2018“ widerfährt, erinnert deutlich an die Spaltung der Kulturlandschaft in der DDR nach der Ausweisung Wolf Biermanns durch das SED-Regime. Die parteitreuen Medien entfesselten eine Hetzkampagne gegen alle, die sich dem Protest zugunsten Biermanns anschlossen. Zu besichtigen war der Meutenmut besinnungsloser Mitläufer ebenso wie die Infamie von „Kunst- und Kulturschaffenden“ die aus der Hetzkampagne Vorteile für ihre Karriere gewannen. Die Ausreisewelle prominenter Autoren wie Günter Kunert, Jurek Becker, Hans-Joachim Schädlich, von Stars wie Manfred Krug und Armin Müller-Stahl, von Musikern, Malern, Regisseuren ebbte bis zum Zusammenbruch des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ nicht ab. Sie war Signal und Triebkraft für das Scheitern des „real existierenden Sozialismus. Die Politbürokratie West scheint inzwischen denselben Weg gehen zu wollen.

Brecht hat einmal das Problem von Leuten beschrieben, die auf absterbenden Ästen sitzen: Sie können nichts anderes als Sägen erfinden. Abgesehen davon, dass die DDR schon 1977 wirtschaftlich und moralisch dem Bankrott entgegentrudelte: Ihre politische Führung – das „Politbüro des ZK der SED mit dem Generalsekretär Genossen Erich Honecker an der Spitze“ blendete die Realität mit Hilfe der linientreuen Presse und des Staatsrundfunks sowie zahlloser „Massenorganisationen“ fast vollständig aus. Ob „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ), „Freier Deutscher Gewerkschaftsbund“ (FDGB), „Demokratischer Frauenbund Deutschlands“ (DFD), „Kulturbund“, „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ (DSF), in deren mindestens einer fast jeder Erwachsene Zwangsmitglied wurde: Sie alle bekräftigten in normiertem SED-Jargon ergebenst, dass Biermann verdientermaßen ausgewiesen worden sei. Wochenlang füllten parteifromme Journalisten die Zeitungsspalten, die Kanäle des DDR-Fernsehens und Rundfunks mit solchen Bekenntnissen. Wer sich dem zu verschließen suchte, gar eine abweichende Meinung äußerte, kam am Arbeitsplatz, in Schulen oder Hochschulen unter Druck. Nur mit Glück entzogen sich manche – im „Raketenschirm“ habe ich eine solche Szene festgehalten.

In Kneipen, Cafés, Zugabteilen, Kleingärten, Familien und unter Freunden konnte jeder, dem die Informationen über den äußerst zahmen, fast unterwürfigen Protest der „Dissidenten“ einigermaßen vollständig vorlagen, sich ein eigenes Bild vom Geschehen machen. Es war keineswegs „die Stimme des Volkes“, die täglich landauf, landab über die Zeitungen der SED, der Blockparteien, der Massenorganisationen guthieß, was Honeckers Politbürokraten anrichteten. Der Riss zwischen der Wahrnehmung von Herrschenden und Beherrschten wurde immer tiefer. Natürlich schrieben das SED und Stasi sogleich der „ideologischen Diversion“ zu, die von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten jenseits des „Antifaschistischen Schutzwalls“ betrieben werde. Es sollte sich bald zeigen, dass im Gegenteil die Kluft umso tiefer wurde, je mehr die Apparatschiks wirtschaftliche, politische und moralische Konflikte tabuisierten. Wer sie beschrieb, zur Diskussion und zu Reformen aufforderte, wurde schnell zum „feindlich-negativen Subjekt“, verdächtig der „politischen Untergrundtätigkeit“ (Stasi-Kürzel PUT), und riskierte die berufliche Existenz, gar die Inhaftierung.

Es ist bizarr, wenn heute ausgerechnet ARD und ZDF – seinerzeit einigermaßen glaubwürdige Quelle fürs zunehmend des Sozialismus überdrüssige Staatsvolk der DDR – einer selbsternannten „Antifa“ helfen, Schutzwälle gegen den „Populismus“ zu errichten – also gegen kritische Stimmen, die im Staatsvolk verbreitete, höchst brisante Fragen stellen. Die Kontrollstellen, die Autoren und Interviewpartner dort passieren müssen, sondern erbarmungslos alles aus, was „rechts“ ist. Wer Glück hat, geht als „umstritten“ durch, wer Pech hat, wird mit dem Stempel „Nazi“ versehen und ausgegrenzt. Der antipopulistische Schutzwall verweigert ohne Ansehen des Ranges auch ausländischen Wissenschaftlern, Künstlern – Politikern sowieso – den Zugang zum Reich der einzig reputierlichen Meinung, wenn sie einmal den Stempel „Rechtspopulist“ im Pass haben. Als hätten nicht dieselben Anstalten über Jahrzehnte – verstärkt durch das Aufkommen privater Sender und des Internets – mittels einer alle Programme dominierenden Quotenmechanik einem Populismus gehuldigt, der von „Medienforschern“ unter dem Schlagwort „Publikumsnähe“ durchgesetzt wurde. Gesendet wird, was gefällt, nicht was Fachjournalisten für mitteilungswürdig im Sinne des Grundgesetzes halten. So sehen die Programme aus. „Boulevardisierung“ und „Infantilisierung“ prägen die Vorabend- und Abendprogramme. Für Anspruchsvolleres bleiben Nachtstunden und Spartenkanäle. Zugleich wuchs bei der Anstaltsbürokratie die einigermaßen verwegene Überzeugung, im alleinigen Besitz des Wissens darüber zu sein, was „die Menschen da draußen“ verstehen, und wie man ihr Verständnis von der Welt – bei gleichzeitiger Versorgung mit Bundesliga, jeder Art sportlicher Mega-Events, Kriminalserien und -filmen, volkstümelnden und Talkshows – in Bahnen lenkt, die der politischen Stabilität dienen. Es ist ziemlich genau das Konzept, dem auch der DDR-Staatsfunk folgte. Allfälligen Ärger über das Agieren der Mächtigen durfte auch dort das Kabarett auffangen – redaktionell sorgsam betreut, versteht sich. Rechte Kabarettisten wollen „unsere Menschen“ nicht.

Gleichwohl schafften die Politbürokraten Ost es nie, den Zufluss unerwünschter Informationen über den erbärmlichen Zustand des Staatswesens gänzlich zu unterbinden. Das werden nicht einmal Putin und die Chinesischen Kommunisten schaffen. Jede Zensur, jedes NetzDG erschafft beim Volk, dem großen Lümmel, eine unstillbare Gier nach neuen, unkontrollierbaren Kanälen. Ja, es scheut sich nicht, „Fake News“ und „Hate Speech“ zu verbreiten, schon um die Mächtigen zu ärgern. Man könnte das als Folge gelungener Infantilisierung sehen. Um das Spiel offen zu halten, brechen Unterlegene (Kinder zumal) erfahrungsgemäß umso häufiger und drastischer die Regeln, je weniger sie noch zu verlieren haben. Daran lassen sie sich durch Zurufe wie „Loser“, „Pack“, „Abgehängte“ ebenso erfahrungsgemäß nicht hindern.

Politbürokraten in ihrer auf maximale Sicherheit programmierten, statistisch untermauerten Fixierung aufs Ziel des Machterhalts um jeden Preis (sie müssen ja nicht zahlen) verstehen das nicht. Gewohnt, Fehler möglichst niemals zuzugeben, bemerken sie am Ende nicht einmal den Übergang in den Verfolgungswahn. Sie können nur neue Stempel, Redeverbote und Schutzwälle erfinden, und sie rekrutieren und armieren fortwährend neue Hilfstruppen, gern aus dem Medien- und Hochschulprekariat, für den ideologischen Endsieg. Dank enger personeller Netzwerke insbesondere zu den Anstalten wachsen die Schutzwälle. Die ideologischen sind oft haltbarer als die aus Beton: Was der SED die Stasi und an der Innerdeutschen Grenze die SM-70 war, ist heutigen Propagandakräften das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Facebook, Twitter und andere „Soziale Netzwerke“ sollen dafür sorgen, dass sich digitale Grenzverletzer selbst liquidieren. Kein Bürokrat hat hier den Finger am Abzug, große Konzerne organisieren die Verantwortungslosigkeit für Sperren, gelöschte Profile und erstickte Meinungsäußerungen. Wenn diese Waffen gelegentlich nach hinten los gehen, trifft das nur als Kollateralschäden abrechenbare Hilfskräfte: Übereifrige Aktivisten der eigentlich guten Sache.

Es geht voran. Wer riskiert schon seine berufliche Existenz, seine Reputation als Autorin oder Kameramann, seine Reichweite als „Freier“, wenn er auf die ideologischen Grenzbefestigungen trifft, die das Scheitern von Politbürokraten und ihrer medialen Gefolgschaft etwa in der Flüchtlings-, Energie- oder Europapolitik ummauern?

Aber „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ erwies sich schon für die Politbürokratie Ost als Strategie zum Absturz. Gerade im Reich der Ideen sind Vorstellungskraft und Vermehrung der „Grenzverletzer“ enorm. Das beginnt schon da, wo die Bezeichnung „Experte“ volkstümlich Schwätzer bedeutet, und „umstritten“ mutig. Ja, die politischen Witze aus dem Volksmund sind auch in „Sozialen Medien“ nicht selten unflätig. Gerade deshalb lohnt es sich, Peter Rühmkorfs Buch „Über das Volksvermögen“ nach fast 50 Jahren wieder zu lesen – eine brillante Verteidigungsschrift für das Recht auf freie Meinungsäußerung, wie es das Grundgesetz bestimmt.

 

 

 

Wozu Freiheit – warum nicht?

Bundesarchiv Bild 183-1986-0813-460, Berlin, Parade von Kampfgruppen zum Mauerbau

Die Freiheit, sich mitmarschierend in Gefangenschaft wohlzufühlen

Egal ob sich Einer (oder Eine) Hilfe von Angela Merkel, Donald Trump, Erdogan, Xi Jinping, der UNO oder dem lieben Gott erhofft: Diese Hoffnung gründet sich auf einem den Menschen ebenso gemeinsamen wie unausrottbaren Missverständnis. Die Gattung war ungemein erfolgreich, weil sie sich mit Hilfe der Frage „Warum?“ ertüchtigte, Geschehenes aus dem Gedächtnis abzurufen, daraus musterhafte Abläufe zu konstruieren und sich für vergleichbares künftiges Geschehen zu wappnen. Die Methode funktionierte prima, so lange sie sich immer wieder an der Realität messen musste, im Fall des Versagens zum Lernen und verbesserten Konstruktionen führte.

Spätestens seit dem Siegeszug von Relativitätstheorie und Quantenphysik ist der systematische Fehler der Frage „Warum“ offensichtlich. Wer sich des Geschehens vergewissern, wer halbwegs brauchbare Szenarien für die Zukunft haben will, muss fragen „Wozu?“ – und er muss die treibenden Impulse aller am Geschehen Beteiligten erkunden, nicht nachdem etwas geschehen ist, sondern bevor oder während es geschieht. Ein erster, wichtiger Schritt: Er muss alle nach dem „Warum“ Fragenden daraufhin betrachten, mit welchem Ziel sie fragen und welche dem Einzelnen oder einem Kollektiv (Sippe, Stamm, Religion, Nation, Korporation) nützlichen Zwecken das Konstrukt aus vermeintlichen Ur-Sachen dient. Dann wird es spannend, und dann beginnen Konflikte.

Merkel, Trump, Putin, Erdogan, Xi Jinping… beanspruchen nämlich wie alle massenhaftes Heil Versprechenden, allein im Besitz sicherer Gewissheiten von Ur-Sachen zu sein. Wissenschaft, die den Namen verdient, würde das nicht tun. Für sie gibt es keine Gewissheiten – außer bei Gott, dessen Existenz sie für unbeweisbar hält. Damit lag sie in der Konkurrenz zu allen Religionen, was den praktischen Nutzen für das Gedeihen der Gattung anlangt, meist vorn. Freilich, wie gesagt nur dann, wenn sie den Namen verdiente, und die Kriterien dafür haben sich in der Geschichte der Menschheit ziemlich überzeugend herausgebildet: anhand ihrer Verifizierbarkeit. Davon handeln und das belegen die Annalen der Gattung. Man kann sie in Frage stellen, allerdings nicht, ohne die Ziele des In-Frage-Stellens ihrerseits kritisch zu prüfen. An dieser Stelle fallen Religionen ebenso durch, wie der Marxismus-Leninismus, Rassentheorien, Metaphysik und neuere Spielarten wie der Genderismus. Ihre Ziele sind erwiesenermaßen erkenntnisfeindlich, weil sie ihre Falsifizierbarkeit a priori nicht zulassen. Zu erkennen ist das an der mehr oder weniger ausgeprägten Brutalität, mit der sie Widerspruch und abweichende Meinungen verfolgen, bis hin zur Denunziation, zur Hexenjagd auf „Abweichler“ und Ungläubige. Allzu oft haben sie Herdenimpulse, tribalistische Reflexe des seit je kollektiv gebundenen Menschen-Wesens auf ihrer Seite. Die modernen Medien beweisen es ebenso wie die Kulturgeschichte.

Die Wissenschaft selbst gerät immer wieder unvermeidlich in diesen Konflikt: Welchen Zielen folgt sie? Wem dient sie? Vergewissert sie sich ihrer Fehler und Grenzen? Ist sie bereit zu lernen? Lässt sie dem Individuum die Wahl, Für und Wider abzuwägen? Nimmt sie qualifizierten Widerspruch auf? Ist sie geduldig genug, Unwägbares in Rechnung zu stellen? Oder strebt sie den „Godmode“ einer Objektivität an, die wähnt, sich aus eigener Machtvollkommenheit jeder Subjektivität entschlagen zu können? Dann wäre die Deutungshoheit einer Quasi-Religion ihr eigentliches Ziel – der unmündige Mensch. Also eine Religion der Un-Menschlichkeit.

Die demokratischen, rechtsstaatlich verfassten Gesellschaften des Westens müssen sich daran messen lassen, ob sie dem Einzelnen eine Wahl lassen, dazu Nein zu sagen. Sollen Menschen frei und auf eigene Verantwortung – Risiko und Haftung inklusive – handeln, oder als verantwortungslose, quotengesteuerte Herdentiere in der Vormundschaft von Politbürokraten, die sie der Verantwortung entheben? Dann sieht ihre Zukunft chinesisch aus.

Demokratie ohne Demokraten – war da was?

Bundesarchiv Bild 102-08215, Berlin, Verfassungsfeier im Stadion

Die Weimarer Republik feiert noch sich selbst – Lechtsrinks schaufelt ihr das Grab

Das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ – schon das Wort ist als bürokratisches Monstrum kenntlich – erweist sich als das, wofür Heiko Maas und die Seinen es erfanden: Als Mittel, die Meinungsfreiheit organisiert und automatisiert abzuschaffen. Der Trick: Staatliche Zensur wird an private Unternehmen von kartellartiger Macht ausgelagert, schönes Beispiel politischer Falschmünzerei.

Anhand der von Facebook und Twitter geübten Praxis zeigt sich schon jetzt: Auf lange Sicht erledigte die Politbürokratie gern jede Opposition – anders kämen solche Gesetze nicht zustande, denn es gab von dort vernehmlichen, anhaltenden Protest. Das Schlimme: Die Wahrnehmung eines großen Teils der Bevölkerung ist dank Quotenmechanik und Umfrageverblödung derart auf konforme Mediokratie konditioniert, dass sich für Krisen immer passende Sündenböcke finden, dass Konflikte als störend, Auseinandersetzungen um Demokratie als Angelegenheit der Parteien betrachtet werden. Nachdem diese und ihre mediale Gefolgschaft die Leute zum Stimmvieh und sich gegenseitig unangreifbar gemacht haben, was ein aberwitziges Wachstum der Bürokratie mit sich brachte, scheinen sie jetzt mit den Mitteln der Digitalisierung den letzten Schritt zur chinesischen Harmonie à la KPCh gehen zu wollen. Sie sperrt alles, was nicht nach ihrem Geschmack ist, und wem solche Harmonie – oder Gleichschaltung – nicht schmeckt, der landet – wie der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo hinter Gittern, bis der Tod Harmonie herstellt, oder wie der Schriftsteller Liao Yiwu im Exil, wenn er Glück hat.

Mit der Gleichschaltung hat Deutschland reichlich Erfahrung. Ich lese gerade Kästners „Notabene 45“ – und möchte über die ewige Wiederholung Desselben schier verzweifeln, denn der DDR-Bürger richtete sich mit der nämlichen Indolenz unter der geistigen Hoheit des Politbüros der SED ein, wie seine Eltern bei den Nazis. Die erkennbar zur Katastrophe führende Realitätsferne herrschender Ideologen hinderte die Eifrigsten in der Masse der Mitläufer nicht, jeden Oppositionellen als Quertreiber, Störenfried, gar Verräter zu denunzieren – bis zum bustäblich allerletzten Moment vor dem Knall. Und danach gab es kaum eine Schamfrist, ehe den Dissidenten wieder leidenschaftlich am Zeug geflickt wurde.

Hier wirkt ein Herdenimpuls, dem mit noch so guten Argumenten und historischer Erfahrung nicht beizukommen ist, es gibt eine speziell deutsche Ausprägung, sie ist literarisch, filmisch in all ihren Scheußlichkeiten dokumentiert, ohne an Wirkung zu verlieren.

Was bleibt? Sich auch künftighin von der Herde fernzuhalten, dem medialen Einverständnis mit Argumenten zu begegnen, Schützengräben zu meiden und der einzig unwiderlegbaren Wahrheit gefasst zu begegnen.

Kernkraft Wellness Punk – eine deutsche Komödie (I)

tellerVon Rekorden schwingender und fliegender Teller und weshalb der Westen den Untergang des Sozialismus noch vor sich hat.

Zeit und Ort: Zwischen 1989 in Berlin, in den USA zur Jahrtausendwende und in Deutschland heute


1

Musik (Punk)

Marion: (Vor einem Foto, das sie als Punkerin mit 18 zeigt, leichthin) Für Sie hab ich das vorgekramt, das Foto und dieses Ding (zeigt einen großen Porzellanteller, lacht.)

Wie waren Sie damals, Ende der 80er Jahre? Und wo? Ost, West? Ihre Welt: russisch, … ääähh sowjetisch, kommunistisch unterworfen oder frei dank Amerika seit über vierzig Jahren? Oder waren Sie einfach nur Bundesbürger – jenseits von Gut und Böse? Wussten Sie schon, was wird? (lacht) Ich bin jetzt … die Endform von erwachsen, längst aus den Kinderschuhen. Kinderkrankheiten – alle überstanden, die Hörner abgestoßen, lange her. Nichts wächst sich mehr aus, schief bleibt schief, Träume eingekeilt in Wirklichkeit, Erinnerung zurechtgebogen, nichts wird mehr, wie’s war – aber wie war’s?

Komisch – was niemals altert, sind doch Träume. Mädchenträume … so fing meiner an: (Sie stellt den Teller auf den Rand, dreht ihn mit kräftigem Schwung, so dass er kreiselt, das Geräusch wird immer lauter, während sie abgeht, dabei wird aus dem Foto die echte Punkerin Marion, die hin und her über die Bühne hetzt. Aus dem Hintergrund brüllt Lehrer Beitler)

Lehrer Beitler Bleiben Sie stehen! Halt! Stehenbleiben, Sie kommen doch nicht weg!

Anton (steht plötzlich vor Marion, hält sie auf) Was ist denn los?

Marion Punk O Scheiße. Idiot, lass mich los!

Lehrer Beitler Halten Sie sie fest! Das ist ein Vorkommnis mit Folgen, Grosse, Marion! Dacht ich’s doch! Danke, Anton, gut gemacht, man sieht doch gleich, was ein Genosse ist.

Anton Ich bin nur Kandidat.

Lehrer Beitler Klassenbewusst, diszipliniert, wie’s einem künftigen Wissenschaftler ansteht, nehmen sie sich ein Beispiel, Grosse, das heißt: sowieso egal, Ihr Abitur können Sie sich (beginnt zu lachen) buchstäblich abschminken, na, davon wenigstens versteh ’n Sie was, von Schminke. Ich sehe Sie um eins dann beim Direktor. (ab)

Anton Tut mir leid.

Marion Punk Wieso? Du bist doch gleich eins rauf mit Mappe, Streber. Fühlt sich gut an, nicht?

Anton Was du da grad gemacht hast …

Marion Punk … das Vorkommnis: Sabotage, vorsätzlich den Unterricht gestört …

Anton war toll! Der Teller wollte gar nicht aufhören zu tanzen. (hebt den Teller auf) Ich hab sowas noch nie gesehen. Und gehört. Eigentlich habe ich dich gesucht, weil …

Marion Punk (lacht) Möchtest du nochmal? Kommt sowieso nicht mehr drauf an.(sie dreht den Teller ein zweites Mal. Ehe er lärmen kann, fängt Anton ihn ab)

Marion Punk Und nun?

Anton Ich habe dich gesucht, weil ich dich fragen wollte: Würdest du mit mir zum Abiball kommen?

Marion Punk (lacht) Was fürn Angebot, na schön, komm du mit mir heut Abend an den See, dann kannst du meiner Clique mal zeigen, wie toll du meine Tellerdrehung findest. Und deinen Einstand geben, der mein Ausstand wird von dieser Schule: „Freundschaft!“ liebe Freunde, macht euern Sozialismus ohne mich! (Black, Musik)

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(Spot)

Marion Mein See, Kies-See, ich darin als Nixe und kiese mir den Streber für mein Herz. Ach Anton! (lacht) Er hat wirklich den Direktor bequatscht, mir noch ’ne Chance zu geben, macht aus dem Teller ein Experiment, hängt gleich ’ne Hausarbeit dran: Physik, das wirklich Letzte von letzter Chance! Wie war ich verliebt – und eifersüchtig! (Die Bühne wird von einem Lagerfeuer erleuchtet, darum sitzt die Punkerclique. Musik aus einem Kassettenrekorder) So lange her, so kurz die Zeit. Die Kinder groß geworden, unsere, fahren in der Welt herum. Wir auf Mopeds damals durch den Osten. Ziellos zerstreut unterm Diktat der fremden Ziele, voll Sehnsucht aufeinander zu, erschrocken voneinander weg, wenn wir’s nur spürten: der – ein Spitzel auch, will alles wissen, horch und guck und Lug und Trug. Wissen stank nach dem Mief der Macht, Träumen war Halt, Freiheit ein glühender Schmerz vor tausend Zäunen. (geht ab, während die Musik lauter, die Bühne hell wird, Anton und Marion Punk, abgeschminkt und mit „zivilisierter“ Frisur treten auf)

Marion Punk Hey Jungs, das Bier schon warm?

Basti Wie siehst du aus? Wo sind die Würste, und was für ‘n Würstchen schleppst du an?

Anton Ich bin Anton, hätte zwei Granaten anzubieten.

Basti Hey, echter Whisky. Stasi oder Westler?

Marion Punk Er ist okay, Basti, hält mir Ärger vom Hals. Musste mich leider etwas entschärfen, sonst kein Abi.

Tina Wegen dem Typ da machst du dich zur Tussi?

Basti Trink ein Bier, Genosse, auf die Freundschaft.

Tina Und den Abschied, weil’s einer wird, nicht nur von der Schule diesen Sommer, vom See auch. Er wird eingezäunt. Nur das Strandbad bleibt. Gegen Eintritt.

Marion Punk Woher weißt du…

Tina Ordnung, Sicherheit und Disziplin, Genossen! Die sozialistische Datschenbewegung braucht Platz, da müssen schon mal ein paar Hektar Wildwuchs weg. Und Basti zieh‘n sie ein. Er geht drei Jahre zur Asche.

Marion Punk Bist du bekloppt?

Basti Fürs Studium. Mit meinen Noten krieg ich den Studienplatz nur nach drei Jahren Fahne. Prost!

Marion Punk Auf die Anpassung. Danke, Anton, dass du mir hilfst mich anzupassen. Los, braten wir die Würste. Das Feuer braucht Nachschub. Jungs, schafft Holz, sonst kriegt ihr nix zu futtern. (Anton, Basti, 2 Punker ab)

Tina Du hast ein Schwein.

Marion Punk Wegen Anton? Du bist nicht eifersüchtig auf die Speiche – oder? Du hast Basti, den Muskelmann. Dazu den Basti Senior mit Gemüseladen (lacht) aus Ostkohl und Südfrucht wird Westauto.

Tina Nicht komisch. Basti ist längst abgemeldet und ich bin schwanger von ‘nem Italiener.

Marion Punk Du bist …

Tina Genau. Mit Basti schlaf ich schon ein halbes Jahr nicht mehr. Nur Show. Mein Vater bringt mich um.

Marion Punk Wegen der Schwangerschaft?

Tina Wegen dem Italiener. Kanake, Westler, Klassenfeind: ‚Ich kann nicht glauben, dass du uns das antust, unser Vertrauen gröblichst hintergehst!‘ Gröblichst! So redet der. Und schlägt.

Marion Punk Dann schlag zurück. Hau ihm den Schädel ein. Oder was willst du?

Tina Na was schon, Klinik. Nächste Woche. Haste mal ’ne Lulle? (Sie rauchen)

Marion Tina, die Superbraut treibt ab. Kein Land in Sicht, wo die Zitronen blühn.

(Hermann kommt)

Marion Punk Was willst du hier?

Hermann Ich hätte ein paar Fragen. An dich. Nicht im Beisein dieser jungen Dame. Lassen Sie uns allein?

Marion Punk Tina bleib, der Typ hat nichts zu sagen. (Sie dreht den Punk lauter, singt) Hermann, mein roter Bruder schleicht nächtens um den See. Ist dir zu kalt in Moskau, Held der SED? Oder schickt Gorbatschow dich heim? Darauf mach ich mir einen Reim, Der deutsche Musterschüler wird zum Keim … (Geräusch von brechendem und splitterndem Holz, Gejohle der jungen Männer, die Bauholz heranschleppen, ins Feuer werfen).

Hermann Du solltest wenigstens ab und zu an die Familie denken. Deine Mutter ist…

Marion Punk Meine Mutter schuftet sich in der Klinik ab, den Haushalt besorge ich, okay? Und was ich mit meiner Freizeit mache, geht dich gar nichts an.

Hermann Du treibst dich rum, das sehe ich. Schule hört man, ist dir ein Ort zu provozieren, statt dankbar zu sein für Bildung, die du dem Staat verdankst.

Marion Punk Bildung zum Nicken. Mitmach-Training. (Sie ahmt Honeckers Fistelstimme nach) ‚Meine Liebe, meine Treue dem soschelschischen Vatrland!‘ Freundschaft! von Honis Gnaden. Wo nichtmal mehr die ‚Freunde‘ unverdächtig sind, Gorbatschow geht als Gespenst in Osteuropa um, während die ‚Brudervölker‘ Polen, Ungarn euch den Hintern zeigen, soll ich Margots Parolen wiederkäuen, Honi sei Dank, ich glaub mein Schwein pfeift.

Hermann Halt den Mund! Das muss ich mir nicht anhörn. Feindlich-negativ die Einstellung, das zeigst du dreist vor diesen Leuten. Du machst uns Schande, mir und Deiner Mutter.

Marion Punk Lass gut sein, roter Bruder. Deine Karriere ist mir scheißegal.

Hermann Das hat ein Nachspiel. (ab)

Marion Punk Du feiges Bonzenschwein.

Basti Ärger? Soll ich ihm hinterher?

Marion Punk Bloß nicht.

Anton Wer war das?

Marion Punk Mein idiotischer roter Stiefbruder, demnächst Diplomat in Diensten der DäDäRÄäää nach erfolgreichem Studium w unwersisitetje imjeni Lomonossowa.

Tina Nette Familie. Was ist mit Whisky? Los, saufen wir auf unsere tolle Zukunft! Auf den Punk! (alle trinken)

Marion Punk Als in Peking Panzer über Studenten walzten, hat Hermann applaudiert. Ein treuer Fan von Egon Krenz „Hoch die internationale Solidarität! Hoch die internationale …“ (alle außer Anton stimmen in den sarkastischen Sprechchor ein)

Anton Sie machen wirklich alles kaputt. Sogar die Physik.

Tina Hoppla Marion, was hat dein neuer Freund?

Anton Ich meine ja nur. Solidarität ist doch eigentlich gut. Die Naturkräfte … sind doch zum Guten da, nicht für Atomraketen. Und … ach, Scheißpolitik. Trinken wir.

Punker 3 Atomkraft ist überhaupt Scheiße, siehst du doch an Tschernobyl.

Tina Keiner will das Zeug mehr. Macht kaputt, was euch kaputt macht! Scheiß auf Kernkraftwerke! Macht kaputt, was euch kaputtmacht! (wieder nehmen alle den Rhythmus auf, skandieren, brechen Holz, werfen es ins Feuer)

Marion Punk Na los, Anton, was ist, mach mit und fang die Scheibe. Hier geht der Punk ab! (Musik wird extrem laut, alle grölen, singen durcheinander, spielen Frisbee mit Plastiktellern. Von fern ist ein Martinshorn zu hören, kommt näher)

Basti Scheiße die Bullen, nichts wie weg!

(Blaulichter, Suchscheinwerfer, Rufe „Halt, stehenbleiben, Volkspolizei!“, hektisches Gerenne der Punks gegen Zäune, Teller fliegen, in einer Slapstickszene entwischen alle nach und nach, nur Anton und Marion werden festgenommen, das geschieht mit brutaler Härte. Black oder Tableau.)