Lichtzeichen im Labyrinth

igel_terror_su.jpg_1Schon nach kurzem Einlesen erstaunte mich die Recherchearbeit, die Regine Igel für ihr Buch geleistet hat. Ein enormes Puzzle von Zeiten, Orten, Personen tat sich auf, zusätzlich kompliziert durch Lücken und Schwärzungen in den Archivalien aus Stasi-Unterlagen, die man ihr beim BStU herauszugeben bereit war. Die größte Komplikation liegt freilich im Wesen der Sache: „Terrorismus-Lügen“ sind mehr als die gängigen Deckmäntel überm Agieren der Stasi, die einem beim ersten Blick auf den Buchtitel einfallen. Lügen, Fälschungen, Tarnen und Täuschen, kurz: Desinformation sind Methoden des Terrorismus selbst – und der Geheimdienste von Staaten, die dessen Handeln aus dem Untergrund gern und meist skrupellos ihren Interessen dienstbar machen. Insofern müsste die einstige Abteilung XXII des Mielke-Ministeriums nicht „Terrorabwehr“ sondern eigentlich „Terrorlenkung“ heißen.

Markus Wolf, bis 1987 Stellvertreter Mielkes und Chef der „Hauptverwaltung Aufklärung“ gab 1997 „Partnerschaften“ mit der PLO, mit dem berüchtigten „Schakal“ Carlos, mit der RAF zu – unbestimmt und vernebelnd. Fest steht, dass in den Jahren 1989 und 1990 vor allem bei der HVA und der Abteilung XXII sehr gründlich und erfolgreich die „operativ entscheidenden“ Akten vernichtet wurden. So entgingen deren Mitarbeiter möglichen Anklagen wegen der Beteiligung an Morden und Attentaten. Das dort gesammelte Wissen war und ist freilich auch für die westlichen Geheimdienste nützlich, weshalb eine riesige Menge erhaltener Akten im Interesse der „Staatsräson“ bis heute unter Verschluss bleiben, Regine Igel durfte sie nicht nutzen.

Sie erschloss sich Quellen im Ausland – etwa anhand der sehr weitgehenden und genauen Ermittlungen zum Terrorismus in Italien – und durchstöberte Zeitungsarchive, las zahllose einschlägige Bücher, glich mit Dokumentationen und Spielfilmen ab, befragte Zeitzeugen, übersetzte selbst aus dem Italienischen und Englischen. So fand sie heraus, wie unterbelichtet in allen Darstellungen der RAF-Aktionen das Zusammenspiel mit der Stasi erscheint. Die Netzwerke nahöstlicher, italienischer, japanischer und westdeutscher Kommandos waren mit Ostberlin eng verknüpft, fast immer mit Stasileuten infiltriert, einzelne Akteure wurden bezahlt und an geheimen Ausbildungsorten trainiert, tauchten zeitweise in der DDR unter, wurden mit Pässen und Legenden versorgt.

Neben dem frappierenden Gesamtbild, das sich trotz der staatlich verordneten Leerstellen aus dem Puzzle ergibt, erschafft die Autorin ein Panoptikum wichtiger Figuren. Es sind zahlreiche Doppel- und Mehrfachagenten darunter; bis zu Kassenbelegen der Stasi sowie Ein- und Ausreisedaten des Bundesdeutschen INPOL-Systems herunter hat Regine Igel Feinstrukturen untersucht. Wer immer sich mit dem Thema RAF und internationaler Terror befasst, wird ihre Aufschlüsse schätzen. Für mich war die Lektüre zugleich aufregend und mühsam; das Hin und Her zwischen Orten, Figuren, Ereignissen verlangt mehrfaches Lesen, Aufmerksamkeit für zahlreiche Anmerkungen, aber der Gewinn an Einsichten und Hinweisen auf weiterführende Lektüre ist enorm: Obwohl „Terrorismuslügen“ schon 2012 erschien, hat das Buch nichts an Brisanz eingebüßt.

Seine Botschaften könnten – mit den Worten eines ziemlich erfolglosen Innenministers ausgedrückt – „die Bevölkerung verunsichern“. Es zeigen sich Komplementarität und Korrespondenz von Staat und Terror: Die hohe Mobilität von Attentätern und Auftragskillern signalisiert, dass niemand an irgend einem Ort dieser Welt sicher sein kann, so will es der Terrorismus. Er kommuniziert über brutale Gewalt seine Ziele und seine Macht, damit bricht er das Gewaltmonopol des Staates. Er operiert klandestin wie die Geheimdienste, die sich spektakuläre Operationen in der Öffentlichkeit nur selten erlauben können, die aber die Sicherheit des Staates und seiner Bürger schützen sollen. Korrespondenz ergibt sich da, wo Information abzuschöpfen, wo Destabilisierung Dritter beabsichtigt ist, und es entstehen giftige Bündnisse, etwa von Rechts- und Linksextremisten, die auf Antiamerikanismus und Antizionismus gründen. Auch dabei zogen, das deckt Regine Igel auf, Stasi, KGB und andere östliche Geheimdienste jahrzehntelang die Fäden. Ein Blick auf heutige politische Konstellationen der Großmächte lässt erwarten, dass Strategien des „Deep State“ insbesondere mit islamistischem Terror kalkulieren. Deutschland ist für ihn ein logistisches Dorado.

Regine Igel „Terrorismuslügen – Wie die Stasi im Untergrund agierte“, Verlag F.A. Herbig, 2. Auflage Stuttgart 2018, 336 Seiten, 23 €

 

 

Wie ein Krieg Menschen und sich selber frisst

Wilson, Der Dreißigjährige Krieg[3893]Am meisten verblüfft hat mich an diesem Buch seine Aktualität. Sie entspringt nicht einer Absicht des Autors, historisches mit gegenwärtigem Geschehen zu vergleichen, sondern seiner Fähigkeit, in der gewaltigen Menge überlieferten Materials die Handlungsmuster der Beteiligten – also der damals Mächtigen und ihrer Gefolgschaft – zu erkennen und herauszuarbeiten. Peter H. Wilson behält dabei das gesamte europäische Panorama im Blick, führt konfessionelle Konflikte mit als das, was sie sind: Nicht Ursachen, sondern ideologische Stimuli und Rechtfertigungen, wenn Herrscher oder auch nur militärische und zivile Profiteure um die Macht kämpfen – zu Lande und zur See.

Seine Sachkenntnis ist umfassend. Ökonomische, politische, militärtechnische, strategische und geografische Gegebenheiten und Verläufe stellt Wilson plastisch und mit bisweilen erstaunlichen Zahlen dar. Er illustriert mit Hilfe zeitgenössischer Malerei, Grafik und Karten; zu handelnden Personen skizziert er Biographien, sie werden in ihren familiären, konfessionellen und individuellen Koordinaten für den Leser anschaulich. Protagonisten wie Wallenstein und der Schwedenkönig Gustav Adolf sind kontrastreich gezeichnet – viele andere schildert der Autor so pointiert, dass sie als starke Figuren im Gedächtnis bleiben. Mich fesselte die Dynamik der „europäischen Tragödie“ zwischen diplomatischen Bemühungen um den Frieden und immer wieder mit wachsender Grausamkeit ausgetragenen Schlachten, bisweilen mochte ich an der „Torheit der Regierenden“ verzweifeln (wie beim Lesen des gleichnamigen Buches von Barbara Tuchman), fühlte mich an gegenwärtige Konfliktverläufe und die damit einhergehende Ohnmacht erinnert.

Insbesondere das Geschehen nach dem Tod des Schwedenkönigs Gustav Adolf in der Schlacht von Lützen ähnelt heutigen Leiden ganzer Völker in Afrika, im Nahen und Fernen Osten: Der Krieg ist in zahllose Parteien und Schauplätze fragmentiert, Bündnisse wechseln ständig, Flucht und Vertreibung werden alltäglich. Für eine wachsende Zahl junger Männer und für den Tross tauglicher Frauen und Kinder wird Krieg zur Lebensform, es sind genug Waffen da, immer neue Heere unterschiedlicher Größe werden – meist auf Pump – in Dienst gestellt. Sie plündern Landwirtschaft und Handwerk doppelt aus: Anführer holen sich von ihnen das Geld für den Schuldendienst, marodierende Soldaten versorgen sich auf ihren Zügen quer durchs Land. Ihrer Existenz beraubte Bauern werden zu Gesetzlosen, die ihrerseits Söldner überfallen.

Die Serien der Feldzüge und Schlachten ermüdeten mich –  es fiel bisweilen schwer, den Überblick über Personal, Herrschaftswechsel, Finanztransaktionen zu behalten, aber ich habe bei der Lektüre viel über die Verfasstheit des Deutschen Kaiserreiches und seiner Nachbarn erfahren, über dynastische Beziehungen, auch über kulturgeschichtliche Leistungen jener Zeit, etwa die von Hugo Grotius für ein späteres Völkerrecht. Waffensysteme, militärische Ordnung, juristische Reformversuche wurden mir ebenso verständlich wie die konfessionellen Friktionen innerhalb der Reihen vermeintlich unversöhnlicher Katholiken, Lutheraner und Calvinisten. Koalitionen wechselten, häufig liefen Offiziere und Söldner über, einfach um zu überleben. Die  politischen Ziele einzelner Protagonisten in Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Polen, Dänemark, Schweden wirkten auf die der Reichsfürsten, der Reichs- und Hansestädte ein. Wir sehen gekrönte Häupter, Karrieristen, ideologische Einpeitscher die Zukunft ganzer Regionen einem kurzfristigen Gewinn opfern – bisweilen nur, weil sie sich für die Kriegsführung bis zum Bankrott verschuldet haben. Die Habsburger Rudolf II., Ferdinand II. und sein Sohn Ferdinand III. trugen die Krone, lavierten indessen öfter getrieben als entschlossen zwischen dynastischen, konfessionellen und Reichsinteressen.

Wilson folgt auch den Informationskanälen jeder Zeit: den Gerüchten, Botschaften und Briefen. Falschnachricht und Greuelpropaganda sind politische Mittel. Seine kluge Dramaturgie hält  den Wechsel zwischen Detailschärfe und Gesamtschau über lange Strecken durch. Er kommentiert andere Sichtweisen aus der älteren und neueren Geschichtsschreibung – und es wird besonders interessant, wenn der Krieg am Verschleiß seiner eigenen Ressourcen dahinsiecht, wenn Gemetzel, Hunger und Seuchen die Bevölkerung dezimiert haben, die Energie der Militärs aufgebraucht ist. Selbst dann, schreibt er “richtete Krieg Chaos und Verwüstung an, aber er blieb zugleich streng kontrolliert und zielgerichtet. Militärische Operationen waren weiterhin darauf ausgerichtet, politische Ziele zu unterstützen, da die Herrscher ihre Verhandlungs-positionen zu verbessern suchten. Womöglich wurde die Wechselbeziehung zwischen Kriegführung und Diplomatie sogar enger, da offensichtlich wurde, dass niemand seine Ziele ausschließlich mit militärischen Mitteln erreichen konnte.”

Der sterbende Krieg schleppte sich halbwegs geordnet in den Westfälischen Frieden. Wie Wilson ihn im Dritten Teil des Buches analysiert, gehört zu dessen Stärken. „Die Bedeutung des Westfälischen Friedens liegt nicht in der Anzahl der Konflikte, die er zu lösen beabsichtigte, sondern in den Methoden und Idealen, die er dabei anwendete.“ schreibt er. So schuf der Vertrag von Münster und Osnabrück auch Anfangs- und Randbedingungen für die nächsten Kriege – und beeinflusste viele Friedensschlüsse kommender Jahrhunderte.

In den beiden Schlusskapiteln blickt Wilson auf die Entwicklung von Wirtschaft, Politik, Demographie, Kultur während und nach dem Krieg zurück, beleuchtet zugleich bisherige Darstellungen. Sein Wissen ist enzyklopädisch, die Zahlen und Daten sind eindrucksvoll – das belegen auch die ausführlichen Anmerkungen. Mir gefiel indessen besonders, wie er mit seinen Quellen, wie er mit dem Begriff der Erfahrung umgeht. „Der Krieg als Medienereignis“ kam damals in die Welt. Der Zeitungsmarkt boomte. Heute wie damals verkaufen sich Nachrichten über Blutbäder und das Scheitern der Politiker am besten, und das heutige Publikum sieht gebannt und ohnmächtig zu, wie Menschen zu Schlächtern werden, verblendet von Feindbildern, Habgier und Herrschsucht: Gewalt – Macht – Lust.

Wilson hat das Geschehen in seiner Komplexität erfasst, in einer sachlichen, Vorurteile, vorschnelle Verallgemeinerungen und jedes Moralisieren vermeidenden Sprache. Sein historisches Panorama ist ein großes Werk. Es veranschaulicht anthropologische Konstanten: Der Mensch ist hin- und hergeworfen zwischen individueller Freiheit und Verantwortung und den Zwängen sozialer Bindung, die in der Subalternität bis zur Selbstzerstörung verstärkt werden. Ich wünschte dem Buch weiteste Verbreitung über das wissenschaftliche Interesse hinaus – vor allem unter Regierenden. Und ohne mir ein fachliches Urteil anmaßen zu wollen: Tomas Bertram, Tobias Gabel und Michael Haupt haben es vortrefflich aus dem Englischen übersetzt.

Geben wir dem Autor das letzte Wort: „Obwohl sie mittlerweile verstummt sind, sprechen die Stimmen aus dem 17. Jahrhundert immer noch zu uns aus unzähligen Texten und Bildern, die wir glücklicherweise besitzen. Sie warnen uns auch weiterhin vor der Gefahr, jenen Macht zu verleihen, die sich durch Gott zum Krieg berufen fühlen oder glauben, dass ihre Vorstellungen von Recht und Ordnung die einzig gültigen sind.“

„Der Dreißigjährige Krieg – eine europäische Tragödie“ Theiss Verlag, 1160 Seiten, 49,90 €

Aufs Siegen fixiert: Massenwahn und Kriegsgefahr

Reichstag_Giebel2„Du musst steigen oder sinken,
Du musst herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboss oder Hammer sein.”
 


Soweit Goethe. Im  6. Kapitel von “Der menschliche Kosmos” geht es um Dominanz, zugehörige Rituale und Rollenspiele und wie Medien die Massen darauf konditionieren, gebannt auf die Spielchen der Mächtigen zu starren – ohnmächtig.

 


Es ist die klassische Entscheidung. Immer wieder einmal verkürzt sie sich auf die platte, mechanische Frage nach der Macht, die Frage „Wer – wen“ . Damit wird der systematische Fehler unserer Wahrnehmung, die Reduktion komplexer Prozesse auf simple Kausalitäten, total und brutal zum politischen Prinzip erhoben. Leider haben die katastrophalen Folgen solcher Machtpolitik wenig Einsicht bewirkt. Dem systematischen Fehler folgt der Auswertungsfehler. Aber es ist mit dem engen Blick auf ewige Abfolgen von Ursache und Wirkung, Täter oder Opfer sein, Gewinner oder Verlierer, eben noch viel schwieriger als mit dem Sonnenauf- und untergang, der die Kopernikanische Wende um Jahrhunderte überdauert hat: Wir sehen die Erddrehung so wenig wie die Wechselwirkungen von Umgebung, Auge und Gehirn, wir sehen, was uns unser Gehirn sehen lässt. Und an unserem Verhalten erscheint uns nichts so selbstverständlich wie Dominanz.
Vor jedem Handeln liegt eine Entscheidung. In den allermeisten Fällen sind wir uns dieser Entscheidungen nicht bewusst. Wenn wir zurückschauen, ergibt sich fast ausnahmslos, dass einer der Handelnden die Tendenz hatte zu dominieren. Es gab immer einen Sieger, einen „Hammer“ und einen „Amboss“. Unsere Geschichtsschreibung und insbesondere die Massenkultur suggerieren, dass ein Sieg, dass das Beherrschen des Gegners wünschenswert ist: „The Winner Takes it All“. Egal was die Siege kosten – sie sind zunächst und vor allem Siege. Das macht Despoten so gefährlich, denn ihre Legitimität bedarf heute mehr denn je rechtfertigender Feindbilder und bejubelter Siege. Gefolgschaft lässt sich nur mit beidem rekrutieren, mit dem zwei-Komponenten-Kleber des “Wir sind mehr” und “Die anderen sind minder”.

In den Kommentarsträngen des social web tobt sich das mit Bezug zu jeglichem politischen Konflikt unvermeidlich aus. Bliebe es nur dabei, sollte’s mir recht sein. Die Vorstellung, dass sich ideologisch gebenedeite Masse, dass ihr Anführer sich von der Woge massenhafter Zustimmung emportragen lässt, der Welt den Sieger zu zeigen, diese Vorstellung ist mir zu gut vertraut, als dass ich gelassen dem anschwellenden Geschrei lauschen könnte. Noch’n bisschen Goethe gefällig?

„Diesem Amboss vergleich‘ ich das Land, den Hammer dem Herrscher

Und dem Volke das Blech, das in der Mitte sich krümmt.“

Leseempfehlung: Peter H. Wilson „Der 30jährige Krieg“