Opas Tabakspfeifen (3)

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Die Wirkung schlug schon nach wenigen Minuten durch: Mir wurde kotzübel, mein Darm entlud sich explosiv, die Zeitungsseiten wurden knapp. Falls Ihnen Einsteins Formel „Energie ist gleich Masse, multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit“ geläufig sein sollte, können Sie gern mal überschlägig berechnen, wieviel Megawattstunden auch nur ein Pfund Fäces bei annähernd Lichtgeschwindigkeit einer Abortgrube zuführen. Na gut, das 200 Jahre alte Fachwerk überlebte die Attacke, ich kroch danach, klapprig wie ein Gespenst aus dessen Gründerjahren, die Treppen hinauf ins Bett meines Jugendzimmers. Dort erfuhr ich wenig später Hohn und Spott meiner Mutter. Der Tabubruch war – dank der wirklich schauderhaften Note von Onkel Walters Resteknaster – unüberriechbar. Als Urheber kam nur ich in Frage. Meine berufstätige Mama, selbst starke Raucherin von ca. 20 filterlosen Zigaretten täglich, amüsierte sich königlich über den schwächelnden Einfaltspinsel, der gern ein großer Mann mit Pfeife sein wollte.

„Wenn der Oppa wüsste, was für einen Dreck du geraucht hast, würde er sich im Grab herumdrehen. Hättest dir ein paar von meinen Zigaretten nehmen sollen statt den alten Geizhals zu beklauen.“

„Das sagst du jetzt. Beim nächsten Mal frage ich dich.“

„Fang den Quatsch gar nicht erst an. Dass ich mir‘s abgewöhnen will, weißt du.“ Natürlich fiel mir sofort die verlorene Wette zu meinem fünften Geburtstag ein. Es ging darum, dass ich mir endlich den Schnuller abgewöhnen sollte. Meine Mutter gelobte, keine Zigaretten mehr anzufassen, falls ich auf den Nuckel verzichtete. Wetteinsatz war ein Roller. Ich bekam ihn. Womöglich war der Griff nach Opas Pfeife die späte Rache für den Entzug wohliger Nuckelei – darüber sollte ein Psychoanalytiker befragt werden. Der Dreizehnjährige erwiderte seiner Mutter jedenfalls hämisch:

„Wir könnten zu meinem Geburtstag um ein Fahrrad wetten, dann lasse ich‘s.“ Nur für einen winzigen Moment blieb ihr die Spucke weg.

„Hör zu, Freundchen. Du wirst dem alten Geizhals noch sehr oft um den Bart gehen müssen, bis du sechzehn bist. Wenn er bis dahin nicht abgekratzt ist und genug rausrückt, dann darfst du dir ganz offiziell einen genießbaren Tabak kaufen. Genießbaren. Rauchen ist nämlich eigentlich ein Genuss. Abfall zu verbrennen ist eine Sauerei, das wusste sogar Tante Martha. Die frigide Schachtel war zwar genauso geizig und bösartig wie ihr Herr Gemahl, dieser Schweinigel, aber eben darum: Kein Rauch im Klo!“

„Dass er bösartig und geizig ist, merke ich beim Schach spielen, aber wieso Schweinigel?“

Meine Mutter kicherte und zündete – das hatte sie vorher nie getan – direkt neben meinem Bett eine Zigarette an.

„Der alte Knabe war hinter allem her, was Röcke trug. Frag deine Großmutter. Als sein kleiner Bruder gestorben war, konnte er sich gar nicht oft genug nach dem Befinden seiner Schwägerin erkundigen. Und da lebte seine Martha noch.“

„Hm. Na ja, wenn sie doch frigide war. Eine Schönheit war sie wirklich nicht.“

„Sie war sogar fünf Jahre älter als er. Aber eine gute Partie. Ihr Vater hat ein großes Mietshaus in Berlin samt komplett ausgestatteter Herrschaftswohnung in der Beletage als Mitgift auf den Hochzeitstisch gelegt.“

„Rechnen kann Onkel Walter. Das habe ich beim Schachspielen gemerkt.“

Jetzt lachte meine Mutter lauthals los.

„Dieses tolle Schachspiel. Echt Elfenbein. Gehörte auch zur Mitgift. Er hat mit allen gespielt und immer gewonnen — soweit ich weiß. Weiß ich was? Mein Vater hat behauptet, Walter und Marthas Vater hätten die Konditionen für die Ehe beim Schachspielen ausgehandelt. Vermutlich war’s wirklich so. Eine weiße Ehe. Als Martha gestorben war, hab ich sie gewaschen. Dein Onkel Walter stand daneben und hat gesagt: ‚Ja, meine gute Martha, du bist nun also wirklich als Jungfrau gestorben’. Ich dachte, ich höre nicht recht. Die haben fast vierzig Jahre zusammen gelebt und er hat sie nicht angerührt, nur um an die Mitgift zu kommen. Dann ist er jeder anderen Frau in Reichweite nachgestiegen. Dieser Lustmolch!“

Meine Mutter zerdrückte Onkel Walter – zusammen mit ihrem Ex-Mann – im Aschenbecher. Hätte sie mich nicht zur Welt bringen müssen, wäre aus ihr vielleicht eine berühmte Malerin geworden – aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Die Sache mit der weißen Ehe und das verkniffene Gesicht von Tante Martha am Fenster, wenn sie uns Kinder ankeifte, weil wir ihren Mittagsschlaf störten, gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.

In der Folgezeit unternahm meine Mutter einiges, Opas Pfeifen zu entsorgen und mir das Rauchen auszureden. Es hat nichts genützt. Ich wollte sein wie Einstein. Als ich sechzehn wurde, befugt, in dieser Angelegenheit selbst zu entscheiden, kaufte ich mir eigenes Gerät und anständigen Tabak – soweit das in der DDR möglich war. Einer von Opas alten Knastermeilern hat als Andenken überlebt, während meine Lust an friedlich glimmenden, duftenden Mischungen aus aller Welt niemals schwand. All die schauderhaften, Schrecken erregen sollenden Bildchen auf Zigaretten- und Zigarren-Verpackungen, alle Mahnungen auf Tabaksdosen, dass Rauchen tödlich sei, bewirken bei mir nur zweierlei: Ich stelle mir Leute, die so viel Missvergnügen in die Welt setzen, unvermeidlich wie Tante Martha vor. Und ich frage mich, was alles ihnen fehlt, um wenigstens ab und zu mal so sympathisch zu wirken wie der Raucher Einstein.

Ende

Opas Tabakspfeifen (1)

OpasPfeife

Student in Stuttgart ca. 1906

Dass ich an Opas Tabakspfeifen geriet, war unvermeidlich. Sie hatten sein ganzes Leben lang zu ihm gehört, immer hatte er sich Tabak verschafft und geraucht, sogar in Kriegsgefangenschaft, in den Baracken eines Camps in der australischen Wüste. Das ist über hundert Jahre her. Mit dem Krieg traf er nur zusammen, weil 1914 ein britischer Kreuzer im Indischen Ozean das deutsche Handelsschiff „Rappenfels“ aufbrachte, in dessen Maschinenraum er als Ingenieur Dienst tat. Danach saß er 5 Jahre hinter Stacheldraht, weit genug weg vom Stacheldraht der Fronten und Schützengräben, er hatte Glück im Unglück. Viele seiner Mitgefangenen starben noch 1919 auf See an der spanischen Grippe, als sie auf einem heruntergekommenen russischen Dampfer namens „Kursk“ in die Heimat expediert wurden. Dort gab es für den Schiffsingenieur Karl keine Zukunft, denn die Handelsflotte hatten die Briten als Entschädigung übernommen.

Den zweiten Krieg überlebte er, zu alt und zu krank für den Heldentod, daheim in Thüringen. Aber er hatte von seinen früheren Seereisen außer einigen exotischen Pfeifen aus Ton, Meerschaum und Tropenholz das Fernweh mitgebracht. In Bücherschränken, auf Regalen, in Vitrinen standen die Blickfänge meiner kindlichen und jugendlichen Sehnsüchte: hauchdünnes Porzellan aus Japan, Buddhafiguren aus Singapur, ein Ebenholztisch aus Indien. Ein ausgestopfter Kugelfisch und ein Haifischgebiss waren von Hand beschriftet: „Madras 1911”.

Mit diesen geheimnisvollen Utensilien bin ich aufgewachsen. Kaum dass ich lesen konnte, verschlang ich „Köhlers Deutschen Flottenkalender”, von 1906 bis 1913 jährlich erschienen, ich bestaunte die Panzerkreuzer, bedauerte, dass diese Riesenschiffe, auf deren Decks sich Matrosen reihten, befehligt von würdig dreinblickenden Backenbärten über Uniformbrüsten voller Orden, dass all diese Pracht und Herrlichkeit mit dem Kaiserreich untergegangen war. Die deutschen Ingenieure – waren ihre Schiffe, Zeppeline, Automobile nicht die besten? Hatten sie nicht immer wieder Land und Leute emporgebracht, ganz nach vorn? Nur im Krieg hatten sie kein Glück – das beschäftigte den kaum Zehnjährigen. Was es damit auf sich hatte, erfuhr ich weder von der Mutter noch von der Großmutter; was letztlich entschieden hatte über Sieg oder Niederlage, blieb ein dunkles Geheimnis, blieb Pech, das an den Deutschen klebte, mit den Russen ins Land sickerte, die Thüringer Familie von den Verwandten im Westen isolierte und das Reden über Verlorenes, über Reisen, Freiheit und Fernweh in rigide politische Fesseln zwang.

Opa war längst tot und begraben, als ich lesen lernte, aber seine Tabakspfeifen waren übriggeblieben, ebenso wie die Zutaten: Tabaksbeutel, Tabaksdosen, Reinigungsgerät und ein bleiernes Gefäß mit bleiernem Deckel, um den Stoff zu pressen, aus dem der alte Mann die schönsten Kringel zauberte, wenn er eine der Pfeifen entzündete. Damit hatte er die Augen des Kindes zum Leuchten gebracht, als er es unterm Weihnachtsbaum auf dem Schoß hielt. Eigentlich nur ein einziges Mal, im Jahr vor seinem Tod und meinem dritten Geburtstag, 1953.

Dass einer sich an etwas erinnert, was vor dem dritten Geburtstag geschah, halten Entwicklungspsychologen für ausgeschlossen. Beschäftigten meine Phantasie also nur die herumliegenden Pfeifen und Utensilien, die Erzählungen und das sichtbare Beispiel meines Onkels, Karls Bruder, der ebenfalls rauchte, allerdings billige Zigarren? Deren abgeschnittene Enden hob er in einer Schachtel auf, um sie schließlich in der Pfeife zu rauchen. Ja, er war geizig, aber tolle Kringel produzieren konnte er auch.

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„Wir sind Gedächtnis“ – und Konflikt

Korte_MWir_sind_Gedaechtnis_177610Wollte ich alle Informationen aufzählen, die mir bemerkenswert erschienen beim Lesen dieses Buches – womit sollte ich beginnen? Und wieviel wird meine Erinnerung bewahren können von der Fülle angebotenen Materials aus der Hirnforschung, aus der Theorie des Lernens, der Psychologie und last but not least Verbindungen zur Literatur, Kunst, Musik? Es wird jedenfalls – und der Experte Martin Korte erklärt auch, wieso – ein Bruchteil dessen sein, was ein Experte zu verdauen in der Lage wäre. Immerhin habe ich Fachleuten das Vergnügen voraus, viel mehr Neues und Unbekanntes zu erfahren, oder Bekanntes in überraschenden Zusammenhängen zu entdecken.  Mit etwas Kreativität sollte es möglich sein, vielen am Thema Interessierten die Lektüre von “Wir sind Gedächtnis” nahezubringen.

Kortes Reise durch den „Kosmos im Kopf“ beginnt beim „autobiographischen“ Gedächtnis, und wie in den folgenden Kapiteln erstaunen sogleich die Leistungen unseres Gehirns, verblüfft aber auch, wie wenig von seinen Prozessen uns bewusst wird. Stillstand kennt es nicht, darin gleicht es dem Universum und dem Mikrokosmos der Elementarteilchen. Astronomische Zahlen beschreiben die Dimensionalität der Vernetzung, der Signalwege, der chemischen und energetischen Abläufe. In Raum und Zeit konfiguriert sich das Gedächtnis fortwährend neu – der größte Teil dieses Eigenlebens bleibt uns verborgen. Immerhin hat die Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten viel Neues über Strukturen und Funktionen herausgefunden. Korte erläutert das anhand zahlreicher Abbildungen, er kommt auf den Erkenntnisfortschritt seit der Antike und dem Hl. Augustinus zurück, benennt wichtige Stationen bis in die Gegenwart und Beiträge bedeutender Forscher. Seine Fähigkeit, souverän das große Forschungsfeld zu überblicken, verbindet sich mit Freude am Erzählen. Wenn er etwa über neue Erkenntnisse zur Rolle des Schlafs beim Lernen spricht, ist die Begeisterung des Lernforschers zu spüren. Zitate aus der Fachliteratur sind ebenso wie solche von Ovid über Shakespeare bis zu Nietzsche, Freud, Marcel Proust und Homer Simpson als „Gedankenflüge“ passend zum Titelbild typographisch eingebunden: So macht Lesen Spaß.

Das Kapitel über die „Auslagerung“ individuellen Wissens in die weltumspannenden digitalen Netzwerke weckte meine Aufmerksamkeit. Korte referiert das Für und Wider, die Grenzen und Defizite des „Multitaskings“, die Vorteile des „Learning bei doing“. Er stellt die Bedeutsamkeit kultureller Kontexte gegenüber schierem Vermitteln von Fakten heraus und befürchtet, dass Internetgewohnheiten das Denken selbst verändern. Dazu führt er „eine nicht zu vernachlässigende Deprivation unseres Stirnlappens“ an, „der eben vor allem damit beschäftigt ist, die Gefühle, Einstellungen und Empfindungen unserer Mitmenschen im sozialen Kontext zu erahnen…“. Leider beleuchtet er die Bedeutung der nonverbalen Signale – der Mienen, Gesten, Laute – für die Kommunikation nur allzu kurz, obwohl er ihnen 70 bis 80% des Geschehens zuordnet. Sie bilden sich schon im Mutterleib, werden zwar abhängig von der Lernumgebung nach der Geburt individualtypisch ausgeprägt, bleiben aber lebenslang tief im Unbewussten des Gedächtnisses verankert. Sie sind menschenallgemein, wenn auch kulturell überformt. Fast jeder versteht sie – unabhängig von der Sprache – richtig: Wer kein Deutsch kann, wird kaum freundlich auf ein aggressives „Du Depp!“ reagieren. Er würde sich aber kaum beleidigt fühlen, wenn ich ihm mit von Herzen kommender Bewunderung und einem Lächeln sagte: „Du bist ein Depp ohnegleichen!“. 

In Grenzen sind – etwa bei Schauspielern – solche emotionalen Signale trainierbar,  sie formen gleichwohl zwar stabile, vor allem aber kaum zu beeinflussende Persönlichkeitsmuster. Und sie können enorme gruppendynamische Kraft entfalten – im Jubel der Stadien, in Rührung und Gelächter des Theaterpublikums, im Johlen des Mobs, im Kriegsgeschrei. Die vielbegackerten Echokammern und Filterblasen des World Wide Web erscheinen als Surrogat solcher Interaktionen und aller möglichen sozialen Rituale und Rollen. Aber auch in virtuellen Beziehungen zwischen Menschen steuern Emotionen und Impulse tief im Gedächtnis das Verhalten. Korte streift den Zusammenhang noch einmal im Kapitel über das Vergessen, wenn er auf „Narben der Erinnerung“ – meist in der Kindheit erlittenener Verletzungen – zu sprechen kommt, und im vorletzten Kapitel die Zerstörung des „kollektiven Gedächtnisses“ durch Kriege und totalitäre Systeme anspricht, aber er lässt Fragen nach Wut, Hass, Ekel, Aggressivität, Machtgier, Habsucht, Rachedurst… außen vor – auch die nach Liebe, Altruismus, Empathie – und beschränkt sich alles in allem auf kognitive Aspekte. Ein umfänglicher Abschnitt über die Alzheimer-Krankheit und das Schlusskapitel mit Tipps, wie einer sein Gedächtnis fit hält, ließen mich an jene konfliktscheue Wissenschaft denken, die von wohlmeinenden Medien gern „eingekauft“ und als „trinkbare Information“ (die Formulierung stammt von einem ehemaligen Fernsehdirektor) dem vermeintlich minder verständigen Publikum verabreicht wird.

Wen schließlich meint das „Wir“ im Titel? Alle Menschen? Eine wohlversorgte, aufgeschlossene Leserschaft? Letztere wünsche ich dem Buch, falls sie weitergehende Fragen stellt, ist das ganz im Sinne des sympathischen Autors und seiner Lernforschung. Die von ihm kurz angedeutete Idee, man könne Vorurteile – also womöglich Feindbilder – aus dem Gedächtnis mittels Workshops ausräumen, erscheint mir gleichwohl so lächerlich wie gespenstisch. Kürzlich schlugen – so war in Medien zu lesen und zu hören – Bonner Wissenschaftler vor, das Hormon Oxytocin gegen Fremdenfeindlichkeit zu verabreichen. Solange derart mechanistisch mit dem – auch für das Lernen – unvermeidlichen Konfliktgeschehen der realen Welt kalkuliert wird, bleibt das kollektive Gedächtnis der Menschheit – also unseres – bedroht.

Martin Korte “Wir sind Gedächtnis”, DVA Sachbuch 2017, 384 Seiten, 20 €

Ein Friedhofsjahrgang – ein Zeitalter

Recherchen zu einem Buch nehmen manchmal seltsame Umwege: Meine Erinnerungen an das Jahr 1976 sind ziemlich präsent, trotzdem vergewissere ich mich bisweilen – etwa darüber, was gerade in der Welt geschah, während Gustav Horbels Regiestudium knapp vor einem abrupten Ende stand.

Als schritte ich eine lange Reihe von Gräbern entlang, so ist mir bei Betrachtung dieses Jahres 1976, und vor jedem Stein oder Kreuz muss ich verweilen, weil mein eigenes Leben auf besondere Weise mit den Toten verbunden ist: jetzt, 35 Jahre nach ihrem Tod sogar intensiver als damals. Komme ich selbst dem Tod immer näher, da ich mich nun schon jahrzehntelange mit den Hingeschiedenen befasse? Oder zeigt sich an diesem Phänomen die Ganzheit der Welt, in der jeder mit allem verbunden, womöglich in einem die Zeiten übergreifenden Sinn “verschränkt” ist?

Werner Heisenberg verdanke ich meine Vorstellungen von der Quantenphysik; die Frage, ob er den Nationalsozialisten zur Atombombe verhelfen wollte, hat mich lange beschäftigt – zu seinem 100sten Geburtstag habe ich 2001 einen Film gemacht. Die Gedankenwelt des Philosophen Martin Heidegger lernte ich erst in den 80er Jahren kennen; er war in der DäDäÄrr nicht geschätzt, aber für mein Buch “Der menschliche Kosmos” war sein Blick auf die Technisierung der Welt eine Hilfe. Gustav Heinemann, der Bundespräsident der Ära Brandt,  hatte 1950 aus christlicher Überzeugung die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik abgelehnt, war als CDU-Innenminister zurückgetreten, weil er fand, dass Adenauers Politik die deutsche Spaltung vertiefte.

Ein folgenschweres Erdbeben in China 1976 sahen manche als Vorzeichen für den Tod Mao Zedongs, das folgende politische und wirtschaftlich Beben hat die Welt erfasst, auch wenn manche es immer noch nicht merken wollen. In Deutschland starben vier “Überzeugungstäter” in jenem Jahr; ihre Motive könnten gegensätzlicher nicht sein, ihre Schicksale weisen – jedes für sich – auf bis heute unbewältigte Konflikte: Michael Gartenschläger wird von einem Stasi-Kommando erschossen, als er mörderische Sprengfallen an der Innerdeutschen Grenze abmontiert, Flüchtlinge aus dem Osten – so beschrieb es ein hoher NVA-Offizier – “verarbeiteten sich selbst zu Hackfleisch”, wenn sie diese Todesautomaten auslösten. Ulrike Meinhof, von der Gustav Heinemann gesagt hatte: „Mit allem, was sie getan hat, so unverständlich es war, hat sie uns gemeint.“, erhängte sich in ihrer Gefängniszelle, ihrem Tod folgte eine Welle von Terrorakten. Anneliese Michel, 24jährige Pädagogikstudentin, wird Opfer eines Exorzismus – religiöser Wahn im idyllischen Mainfranken. Die Evangelische Kirchenführung im Osten sieht tatenlos zu, wie der Pfarrer Oskar Brüsewitz an seinen Konflikten mit dem SED-Staat zerbricht, er verbrennt sich vor der Zeitzer Michaelskirche.

Da wären noch die Erinnerungen an Max Ernst, Fritz Lang, Man Ray, André Malraux, Benjamin Britten und – ja! – auch an den Miterfinder der sowjetischen Düsenjäger der MiG-Serie, Michail Gurewitsch.

Am Ende des Spaziergangs zwischen den Gräbern von 1976 ist große Dankbarkeit: irgendwo wartet die eigene Reihe, wer Glück hat, muss nicht zu lange ausharren, und Vergessen kann auch eine Gnade sein.