“Masken der Macht …

… Gesichter der Ohnmacht” heißt ein Workshop, in dem das untergegangene System und der in Vergessenheit geratene Alltag der DDR zu erleben ist – für alle, die im Westen aus sicherer Entfernung zusahen, für alle die zu jung sind für eigene Erfahrungen mit SED und Stasi, mit Schulen, Arbeitswelt, Karrieren und Konflikten des Ostens.

Die meisten können sich nicht vorstellen, dass Ärzte, dass Krankenschwestern nicht mehr den elementaren Verpflichtungen ihres Berufsstandes folgen und Patienten als hilfsbedürftige Menschen behandeln.  Sie können sich nicht vorstellen, dass Ziel einer Behandlung nicht Heilung ist, sondern nur und ausschließlich die Fortsetzung von Verhören, der Erfolg von Maßnahmen des Ministeriums für Staatssicherheit “im Dienste der Arbeiter- und Bauernmacht” gegen vermeintliche Staatsfeinde, deren einziges Vergehen meist darin bestand, dass sie nicht länger DDR-Bürger sein mochten, dass sie der Heilslehre der Kommunisten nicht folgten.

Der Workshop verschafft jedem, der sich darauf einlässt, einen Eindruck davon, wie aus Menschen nummerierte Objekte, wie aus Angestellten Folterknechte, wie aus Therapien Verhörmethoden werden.

Im November ist ein Buch erschienen, das historische Fakten dazu aufarbeitet.

Peter Erler und Tobias Voigt haben die Geschichte des Stasi-Haftkrankenhauses in Berlin-Hohenschönhausen untersucht. Sie zeigen eindringlich, wie aus Ärzten Hilfskräfte psychischer und physischer Folter werden, wie Mediziner aus Karrieregründen den Hippokratischen Eid brechen, Psychologen helfen, den seelischen Widerstand von Gefangenen zu zerstören, Krankenschwestern mittels kollektivem Druck dazu gebracht werden, jegliche Regung von Mitleid zu blockieren. Sie alle legen die Masken der Macht an, sie treten den Leidenden als anonyme Vollstrecker eines Machtwillens gegenüber, der jeden Widerstand ersticken soll, der den Gedemütigten die medizinische Behandlung als gnadenhalber verabreichte Notration für sozial Geächtete erscheinen lässt.

Die Autoren haben genau recherchiert; sie lassen Menschen zu Wort kommen, die unheilbar verletzt sind an Leib und Seele. Jeder Einzelne hätte verdient, gehört zu werden – stattdessen dröhnen in den Medien, subkutan begleitet durch unterhaltenden Ostalgiekitsch,  die Schwadroneure des Sozialismus: als sei nicht das rechte und linke Handwerk der Menschenverachtung in diesen Krankenstationen zwischen Hohenschönhausen, Workuta, Sachsenhausen, Santiago de Chile, ein für alle Male in Beton, Stacheldraht, Überwachungs- und Zersetzungstechnik verewigt.

Die Täter, Täterinnen schweigen – bis auf wenige. Sie wollen gesichtslos bleiben, sie wollen die Masken der Macht nicht abstreifen. Sie dürfen sich leider darauf verlassen, dass ihre Rechte mehr zählen als das Anrecht der Opfer auf Offenbarung, auf Reue, auf einen sozial heilsamen Kniefall. Wer Reue verweigert, ohne Gesicht leben will, den schützt der Rechtsstaat. In den Kulturen Asiens ist Leben mit verlorenem Gesicht eine furchtbare Strafe.

“Medizin hinter Gittern” ist mehr als ein Bericht über den Missbrauch medizinischer Kompetenz durch den SED-Staat. Das Buch fragt eindringlich – nicht nur Ärzte – wohin sich unsere Aufmerksamkeit richtet: auf die Gesichter der Ohnmacht oder auf die Masken der Macht.

Zukunft, Panzer und Moral

Bald 500 Jahre alt ist Thomas Morus’ Roman von der Insel Utopia.

Ob sie als Satire, Albtraum oder Zukunftsvision einer moralisch geläuterten Nation gelten darf, ist die Frage

Insel_UtopiaZu bestimmten Terminen wird der sowieso weitgehend homophone Journalismus in seinem Gleichklang besonders penetrant. Einer ist – falls sich seiner überhaupt jemand erinnert – der 17. Juni. Über die plattgewalzten Gefechtsfelder der Quotenmedien “walzen die Panzer des SED-Regimes” oder “der Sowjets”,  “den Aufstand der ostdeutschen Arbeiter nieder”, oder so ähnlich. In der Abgasfahne verwehen noch ein paar pflichtgemäße Hinweise auf Stasi, den Bau der Mauer, das politische Personal und das Ende der DäDäÄrr – auf zur nächsten Agenturmeldung.

Über eigentlich Wichtiges wird kein Wort mehr verloren, denn aus Geschichte, lernt sowieso niemand etwas, schließlich gibt es Statistiken, mit deren Hilfe sich Zukunft präzise vorhersagen lässt, je genauer und umfänglicher Daten erhoben worden sind, desto besser. Nun ja.

Ein Blick auf die Zukunftsprognosen des Jahres 1953 – die in den am meisten konsumierten Kanälen, die am weitesten verbreiteten, am innigsten geglaubten und brachial gegen abweichende Meinungen durchgesetzten, lassen ahnen, dass es um die gesicherten Weisheiten von heute nicht besser steht als um die “wissenschaftliche Weltanschauung”, kremlastrologische Vorhersagen oder vermutete Trends in Technik und Wirtschaft von damals. Das einzige, was sich damals wie heute dauerhaft bewährt, ist die Fähigkeit menschlicher Wahrnehmung, unangenehme Tatbestände auszublenden.

Zu diesen unangenehmen Tatbeständen gehört, dass eine überwältigende Masse der Bevölkerung in Deutschland der Machtübernahme der Nazis 1933 zujubelte, bei der Ausrufung der DäDäÄrr 1949 die Köpfe einzog und nickte, am 17. Juni 1953 mit eingezogenem Kopf und eingeschaltetem RIAS zu Hause blieb. Sie hätte die Köpfe auch 1989 und darüber hinaus eingezogen, hätte nicht die politische Großwetterlage – vor allem die Situation in der Sowjetunion, in Polen, in Ungarn – hätten nicht Massenflucht, der Präzedenzfall von Leipzig und der Aufwind der Opposition den Impuls “Ich auch” zum Mitmarschieren in die neue Richtung ermutigt. Der Marsch schwenkte rasch und deutlich in Richtung “erst kommt das Fressen, dann die Moral”. Fast alle, auch die strammsten SED-Mitmarschierer waren dabei.

Es wäre nicht Deutschland, verliefe der Marsch unter dem Banner “Ich will das jetzt auch” anders als in Richtung der just am mächtigsten Erscheinenden, jener, deren Heilsversprechen mit dem größten Verdrängungsvermögen gegen die Konkurrenz einhergehen. Manche nennen das hinterher Revolution.

Wenn alle – auch Katzen, Hunde, Meerschweinchen etc. satt genug sind, die Frage nach dem Fressen also nur noch hinsichtlich der Details “Bio oder nicht?”, “Fleisch oder nicht?” unbeantwortet, dann ist’s in Deutschland Zeit, die Moralfrage zu stellen.

Führerinnen und Führer finden sich alsbald, die Freispruch von allen Sünden, die Zugehörigkeit zum Strom des Guten verheißen. Linksrotgrünen, tier- und naturschützerischen, esoterischen Populationen, Glaubensrichtungen aller Art verkündigen sie eine bessere, saubere, moralischere Welt vollständiger Gleichberechtigung für alles und jeden, sie werden zur Avantgarde für all jene, sich zu kurz gekommen, von der Demokratie enttäuscht fühlen. Eine neue Zukunft muss her: Utopia.

Tatsächlich bedienen sich die Künder der neuen Zukunft einer wohlbekannten politischen Kraft: des “kleinen Mannes”, manchmal im Journalistenrotwelsch auch “der kleine Mann auf der Straße” genannt, inzwischen viel deutlicher als “der kleine Mann auf der Datenautobahn” auszumachen. Er will sich dort nicht allein fühlen, er will mitlaufen. Schon strömt in Communities zusammen, was nichts so sehr fürchtet, wie nicht dabei zu sein, wenn es Machtgefühl wie Freibier zu saufen gibt. Das könnte man aus der Geschichte lernen.

Die nicht mitmarschieren wollen in den moralischen Feldzügen deutscher Duckmäuse gegen den Rest der Welt, werden allerdings nicht die Köpfe einziehen: Damit der 17. Juni 1953 ebenso Geschichte bleibt wie der 13. August 1961, der 30. Januar 1933 und der 9. November 1938.