Masken der Macht – Gesichter der Ohnmacht (V)

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Über den unsterblichen Einzelnen muss ich mich nicht weiter auslassen; er wird dazu manchmal in der informellen Dimension der Nachwelt. Zu Lebzeiten mag er obendrein reich werden, noch so viel Macht auf sich vereinen: der Gevatter unterscheidet nicht zwischen Habenichtsen und Nabobs. Doch es gibt dynastische Erbfolgen, die Ruhm und Ansehen über Generationen fortschreiben. Politische Parteien wünschen nichts sehnlicher, aber die Halbwertszeiten all dieser Korporationen bleiben so überschaubar wie die untergegangener Reiche.

Die Macht der französischen Königin Marie-Antoinette fußte auf der des Hauses Habsburg zur Glanzzeit der Kaiserin Maria Theresia. Wie fast jede Hochzeit europäischer Fürstenhäuser diente die zwischen der Prinzessin aus Wien und dem französischen Thronfolger dynastischen Interessen, persönliche Neigungen waren unwichtig. Was damals in den Augen vieler keineswegs unwichtig war: Marie-Antoinette war einen Tag nach dem furchtbaren Erdbeben von Lissabon zur Welt gekommen, ein böses Omen. Zum Ende ihrer Hochzeitsfeier in Versailles starben in Paris 139 Menschen infolge einer Panik beim Feuerwerk, sie zeigte sich eigensinnig in der Wahl ihrer Freunde, vergnügungssüchtig und wenig geneigt, den Ritualen am französichen Hof zu folgen – kurz: Die Vorurteile gegen sie als „l’autrichienne“ (die Österreicherin) wurden quer durch alle Schichten der Bevölkerung genährt; kurzzeitig gewann sie Ansehen, als sie einen Thronfolger gebar, aber die „Halsbandaffäre“, eine Betrügerei, in die sie unschuldig verwickelt wurde, ruinierte jeden Kredit bei der Bevölkerung. Es kursierten die boshaftesten Karikaturen von ihr, Verbündete ließen sie fallen. Auf die Revolution reagierte sie hilflos und unbesonnen; sie wurde guillotiniert und in ein Massengrab geworfen. Ihre informelle Macht war lange vorher erloschen, aber Zeugen berichten, dass die würdevolle Haltung, mit der sie die letzten Schritte vom Henkerskarren zum Schafott hinter sich brachte, die wütenden Pöbeleien und Flüche der Menschenmenge verstummen ließ.

Die Königin von Frankreich wird guillotiniert
17. Oktober 1793. Die Menge ist verstummt, als das Beil fällt. Erst als der Kopf der Königin gezeigt wird, erschallt „Vive la Revolution!“

Unvermeidlich gerate ich an eine schwer fassbare, notwendige Qualität informeller Macht: Das Vertrauen. Es gründet nur zum Teil auf sachlichen Erwägungen: Intuition und Antizipation bestimmen die Entscheidung des Einzelnen, wem er es schenken, wem verweigern will. Dabei ist er sehr stark von „Herdenimpulsen“, von seiner Zugehörigkeit und Stellung in der Gruppe beeinflusst – und doch ist es eine zutiefst subjektive Entscheidung, wem einer vertraut und wem nicht.

Die Funktionsmechanismen der modernen Medien orientieren sich fast ausschließlich an Quantitäten: Quoten, Reichweiten, Klickzahlen. Sie sind darin genuin kollektivistisch. Die scheinbare Freiheit des Internets, der sozialen Medien insbesondere, jedem eine eigene Stimme zu geben, geht einerseits in der vom Einzelnen erheischten Bestätigung durch Gruppen („Blasen“, „Echokammern“), andererseits in der harten Konkurrenz um Aufmerksamkeit unter, deren Dynamik den politischen und wirtschaftlichen Zielen verschiedenster Korporationen – Konzerne, Parteien, NGO – unterworfen ist. Den Wunsch nach möglichst großem Echo mag der Benutzer durch Verwenden von Bildern, Videos etc. ebenso kräftig unterstützen wie durch das Zeigen von „Emojis“ – also Surrogaten der Mimik -: Die Praxis der „Cancel Culture“, der modernen Form von Ächtung, Pranger, Zensur und sozialer Isolation von Personen mit missliebiger Meinung, kann ihn fast jederzeit und überall zum Schweigen bringen.

In heutigen Oligarchien mit ihren elaborierten, weltumspannenden Netzwerken erreicht die Dynamik sozialer Systeme zugleich höchste Komplexität. Ihr Streben geht immer noch dahin, stabil zu werden bis zur Unangreifbarkeit. Die Zeit und das Universum lassen sich jedoch nicht kontrollieren, der Kosmos im Kopf jedes Menschen nur sehr begrenzt und vorübergehend. Denn um auf zahllose, sich unablässig ändernde und im Fluss befindliche Aufgaben seiner Umwelt vorbereitet zu sein, sie antizipieren zu können, bedarf es einer Informationsverarbeitung von wahrhaft astronomischen Ausmaßen. Hirnforscher wissen das.

Das tägliche Geschehen in den „Sozialen Netzwerken“ bezeugt, wie stark die Gier nach Aufmerksamkeit ist – also nach einem Platz an der Sonne informeller Macht. Mag sein, dass der Ruhm von „YouTubern“ und viralen Kurznachrichten nur kurze Zeit währt: Wie sehr und intensiv sie von Politik und herkömmlichen Medien in Dienst genommen werden, beweist ihre Eignung als Instrumente im Kampf um die Köpfe der Massen. Geld und Ansehen erwirbt damit nur ein winziger Bruchteil der im Netz verbundenen Nutzer. Die Megakonzerne der „Aufmerksamkeitsökonomie“ indessen bewegen die Welt und häufen Milliarden auf Milliarden. Sind sie andererseits, was ihre informelle Macht anlangt, nicht verwundbarer als Stahl- und Automobilfabriken? Ihre Stärke ist die Masse, die Quantität. Wie steht es um die Qualität?

Dieser Artikel ergänzt die zuerst veröffentlichte Fassung im Globkult-Magazin

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Trolle, Fakenews, Hatespeech und die Realität

LiuXiaobo

Der Friedensnobelpreisträger von 2010 ist seit Dezember 2009 in China inhaftiert

Das Selbstverständnis jeder Gesellschaft lebt nicht zuletzt von ihren Außenseitern. Sie fürchtet, verfolgt und bestraft sie bisweilen, um ihre Vorstellung von sich selbst zu konsolidieren. Ist facebook ein Schauplatz solcher Prozesse? Oder ist es nur ein Sammelpunkt für Klatsch und Tratsch, wie es seit jeher etwa Waschplätze waren? Das vor allem den Frauen eigene unsichtbare Beziehungsmanagement lebt von dem ununterdrückbaren „sozialen Rauschen“ der Gerüchte, Anekdoten, Horrormeldungen und Beziehungsdramen, anhand derer allgemeine Wertvorstellungen und individuelle Haltung durchgehechelt werden. Das Ziel der Klatsch- und Tratschenden ist ambivalent: Nicht jede(r) erhofft sich beim Auftritt im fb oder bei anderen „Social Media“ allgemeine Aufmerksamkeit. Die Mehrheit dürfte sich des wohligen Gefühls vergewissern wollen, in sozialem Einvernehmen zu schwimmen.

Zu jedem verbalen Austausch gehört der Versuch, sich in der Welt zurechtzufinden. Manche Leute sind allerdings darauf trainiert, mittels apriorischer „höherer Moral“ – also religiös, wissenschaftlich oder von Mehrheiten zementierter Glaubenssätze – den Dialog zu dominieren; aus so gewonnener Deutungshoheit leiten sie einen allgemeineren Anspruch auf Führung ab. Sie bezeugen damit tiefe Unsicherheit sowohl den Wechselfällen des Lebens als auch den eigenen Möglichkeiten gegenüber. Dagegen braucht Mut und Selbstvertrauen, wer wie Liu Xiaobo die Grenzen der Ideologie und eigener Bedürfnisse und Ängste überwindet. Trollen fehlt dieses Verständnis. Ihnen liegt nur und ausschließlich an der Selbstdarstellung. Sie wollen Aufmerksamkeit um jeden Preis. Sie schleimen, giften, faseln, salbadern, beleidigen, biedern sich an, kriechen, prahlen, lügen, schmähen, verleumden, heucheln – kurz: sie steigern sich ins ganze von Molière im „Tartuffe“ beschriebene Repertoire der Strategien, mit denen sie sich zu Herren im fremden – öffentlichen – Haus machen wollen. Es bleibt ein ihnen fremdes Haus, aber sie lassen sich gern von jeder Macht – sei’s Religion oder Staat – in Dienst nehmen, die ihnen gesteigertes Selbstgefühl und das Recht der Inbesitznahme verspricht. Sie scheitern, weil sie keinen Zugang zu  wirklichem Vertrauen haben. Sie neiden uns das Vertrauen in die Freiheit, deshalb versuchen sie, es zu paralysieren.

Es gibt relativ wirksame Gegenwehr: Sie ihre Suada singen lassen, ohne darauf zu reagieren, kein Futter für ihre Häme, keines für ihre Geltungssucht. Natürlich kann, wer ’s mag, Trollgefechte als Spiel nehmen – falls nichts besseres zu tun und Sucht halbwegs ausgeschlossen ist. Trolle haben dabei gute Karten. Sie sind darin geübt, „Soziale“ Medien zu strapazieren: Imponiergehabe, Beleidigungen und Drohungen für Gegenspieler, üble Nachrede, Verleumdungen, Unterstellungen, Rufmord, Greuelpropaganda, Hetze, Rassen- und Klassenhass, Geschichtsklitterung, Gerüchte, Klatsch und Tratsch – kurz: Das ganze Repertoire der Sünden gegen das achte Gebot („Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“) erscheint ihnen gerechtfertigt, um ihr Ego zu ertüchtigen. Am liebsten mit korporativer Rückendeckung von Parteien, NGO oder Regierungen. Der Troll taugt zum perfekten Kontrolleur und Denunzianten: Das Übel liegt immer bei den anderen.

Das ist nicht schön. Leider ist es menschlich, denn es gibt keine Belege dafür, dass Menschen ihre selbstgewisse Wahrnehmung massenhaft kritisch reflektierten: Der Balken im eigenen Auge wird gewohnheitsmäßig über dem Splitter im Auge des anderen übersehen. So steht ‘s in der Bibel, die vielleicht nicht direkt göttliche Wahrheiten verkündet, aber beachtliches Erfahrungswissen versammelt. Und ja, der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Dafür gibt es meines Wissens keinen seriösen Gegenbeweis. Neuere Erkenntnisse einschlägiger Disziplinen (Anthropologie, Ethnologie, Psychologie, Neurologie…) sprechen eher dafür.

Jeder und jede unterliegt den naturgesetzlichen Bedingungen eigener – subjektiver – Wahrnehmung. Überlassen wir dem Leben – der Realität – die Entscheidung, was wahr ist. Vertrauen wir vor allem nicht auf „letzte Wahrheiten“: „Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer“, sagt Erich Kästner. Misstrauen wir allem, was auf Feindbilder und Sündenbockrituale hinaus will. Entmutigen wir die Trolle und ihre staatlichen, ideologischen, religiösen Scharfmacher durch Schweigen, wo es ihnen nicht passt – und Widerspruch, wo sie ihn nicht erwarten.