Wozu Freiheit – warum nicht?

Bundesarchiv Bild 183-1986-0813-460, Berlin, Parade von Kampfgruppen zum Mauerbau

Die Freiheit, sich mitmarschierend in Gefangenschaft wohlzufühlen

Egal ob sich Einer (oder Eine) Hilfe von Angela Merkel, Donald Trump, Erdogan, Xi Jinping, der UNO oder dem lieben Gott erhofft: Diese Hoffnung gründet sich auf einem den Menschen ebenso gemeinsamen wie unausrottbaren Missverständnis. Die Gattung war ungemein erfolgreich, weil sie sich mit Hilfe der Frage „Warum?“ ertüchtigte, Geschehenes aus dem Gedächtnis abzurufen, daraus musterhafte Abläufe zu konstruieren und sich für vergleichbares künftiges Geschehen zu wappnen. Die Methode funktionierte prima, so lange sie sich immer wieder an der Realität messen musste, im Fall des Versagens zum Lernen und verbesserten Konstruktionen führte.

Spätestens seit dem Siegeszug von Relativitätstheorie und Quantenphysik ist der systematische Fehler der Frage „Warum“ offensichtlich. Wer sich des Geschehens vergewissern, wer halbwegs brauchbare Szenarien für die Zukunft haben will, muss fragen „Wozu?“ – und er muss die treibenden Impulse aller am Geschehen Beteiligten erkunden, nicht nachdem etwas geschehen ist, sondern bevor oder während es geschieht. Ein erster, wichtiger Schritt: Er muss alle nach dem „Warum“ Fragenden daraufhin betrachten, mit welchem Ziel sie fragen und welche dem Einzelnen oder einem Kollektiv (Sippe, Stamm, Religion, Nation, Korporation) nützlichen Zwecken das Konstrukt aus vermeintlichen Ur-Sachen dient. Dann wird es spannend, und dann beginnen Konflikte.

Merkel, Trump, Putin, Erdogan, Xi Jinping… beanspruchen nämlich wie alle massenhaftes Heil Versprechenden, allein im Besitz sicherer Gewissheiten von Ur-Sachen zu sein. Wissenschaft, die den Namen verdient, würde das nicht tun. Für sie gibt es keine Gewissheiten – außer bei Gott, dessen Existenz sie für unbeweisbar hält. Damit lag sie in der Konkurrenz zu allen Religionen, was den praktischen Nutzen für das Gedeihen der Gattung anlangt, meist vorn. Freilich, wie gesagt nur dann, wenn sie den Namen verdiente, und die Kriterien dafür haben sich in der Geschichte der Menschheit ziemlich überzeugend herausgebildet: anhand ihrer Verifizierbarkeit. Davon handeln und das belegen die Annalen der Gattung. Man kann sie in Frage stellen, allerdings nicht, ohne die Ziele des In-Frage-Stellens ihrerseits kritisch zu prüfen. An dieser Stelle fallen Religionen ebenso durch, wie der Marxismus-Leninismus, Rassentheorien, Metaphysik und neuere Spielarten wie der Genderismus. Ihre Ziele sind erwiesenermaßen erkenntnisfeindlich, weil sie ihre Falsifizierbarkeit a priori nicht zulassen. Zu erkennen ist das an der mehr oder weniger ausgeprägten Brutalität, mit der sie Widerspruch und abweichende Meinungen verfolgen, bis hin zur Denunziation, zur Hexenjagd auf „Abweichler“ und Ungläubige. Allzu oft haben sie Herdenimpulse, tribalistische Reflexe des seit je kollektiv gebundenen Menschen-Wesens auf ihrer Seite. Die modernen Medien beweisen es ebenso wie die Kulturgeschichte.

Die Wissenschaft selbst gerät immer wieder unvermeidlich in diesen Konflikt: Welchen Zielen folgt sie? Wem dient sie? Vergewissert sie sich ihrer Fehler und Grenzen? Ist sie bereit zu lernen? Lässt sie dem Individuum die Wahl, Für und Wider abzuwägen? Nimmt sie qualifizierten Widerspruch auf? Ist sie geduldig genug, Unwägbares in Rechnung zu stellen? Oder strebt sie den „Godmode“ einer Objektivität an, die wähnt, sich aus eigener Machtvollkommenheit jeder Subjektivität entschlagen zu können? Dann wäre die Deutungshoheit einer Quasi-Religion ihr eigentliches Ziel – der unmündige Mensch. Also eine Religion der Un-Menschlichkeit.

Die demokratischen, rechtsstaatlich verfassten Gesellschaften des Westens müssen sich daran messen lassen, ob sie dem Einzelnen eine Wahl lassen, dazu Nein zu sagen. Sollen Menschen frei und auf eigene Verantwortung – Risiko und Haftung inklusive – handeln, oder als verantwortungslose, quotengesteuerte Herdentiere in der Vormundschaft von Politbürokraten, die sie der Verantwortung entheben? Dann sieht ihre Zukunft chinesisch aus.

Lechtsrinks auf dem Vormarsch

Wahlrecht_-_Das_Illustrierte_Blatt_-_Januar_1919Dass ehemalige Anhänger der Linkspartei im Berliner Osten ebenso wie in Meckpomm massenhaft zur AfD überlaufen, ist vollkommen verständlich. Ebenso wie – schon fast vergessen – Wählerwanderungen von bürgerlichen Parteien (dazu gehörte die SPD) in Richtung „Protest“ bei den absterbenden „Piraten“. Glaubte ich daran, dass der Staat gefälligst für mein Wohlergehen zu sorgen habe, wählte ich vermutlich auch eine Partei (oder schlüge mich einer stellvertretenden NGO zu), die mir verspricht, den Staat und die Gesellschaft dahingehend zu ändern, dass er seine Fürsorge vor allem meinen Interessen angedeihen ließe. An dieser subjektiven Wahrnehmung, zum Herdenimpuls verdichtet, starb nicht nur die Weimarer Republik.

Demokratie und Rechtsstaat sind ein verdammt schwieriges Geschäft. Leute, die gern Probleme im Interesse des Gemeinwesens – relativ unabhängig vom eigenen Vorteil – lösen, lassen sich darauf ein, aber auch Karrieristen. Für sie kommt dann selten ein schneller Profit des Typs "Mir nützt, was anderen schadet" in Sicht. Mit solcher Erwartung ist indessen das Wesen des Menschen tief imprägniert. Manche Kulturen bewahren es sorgsam, indem sie ihren Anhängern die Überzeugung vermitteln "Du bist erhaben, die anderen minderwertig". Sie haben eine beinahe unwiderstehliche historische Wucht auf ihrer Seite, schneller, massenhafter Zulauf war stets garantiert. Vernunft und Logik spielen einfach keine Rolle, wenn jeder blutige Depp sich gebenedeit fühlen darf, vielleicht sogar Führer werden. Religionen – natürlich auch Ersatzreligionen – rekrutieren so ihre Anhänger und Aktivisten.

Der säkulare Staat wandelt solche überkommenen, tief verwurzelten Gefühle von eigener Höchstwertigkeit ab. An ihre Stelle tritt die staatlich garantierte Anspruchsberechtigung. Der Bürger des fürsorglichen Staats erwartet, dass er jedem anderen gegenüber zumindest gleiche, gern etwas privilegierte Ansprüche hat – und die „Staatsdiener“ leben ihm das vor. Wer weniger brav ist, hat weniger zu beanspruchen, meint der Wähler, und macht sein Kreuz dort, wo ihm seine private Werteskala nicht durcheinander gerät. Im günstigsten Fall – bei wirtschaftlicher Prosperität und persönlichem Wohlstand – kommt dabei eine Demokratie liberaler Prägung unter dem Motto „Leben und leben lassen“ heraus.

Keine Gesellschaftsordnung hat indessen vermocht, elementare Strebungen wie Neid, Missgunst, Eifersucht, Argwohn, Machtgier und Habsucht zu eliminieren. Demokratie und Rechtsstaat ziehen Grenzen und lassen menschlichen Regungen wie Großmut, Hilfsbereitschaft, Zuwendung, Vertrauen, Demut, Bescheidenheit einigen Raum, sich zu entfalten. Das sind Rettungsanker noch in schlimmsten Formen der Gewaltherrschaft, sie sind gleichwohl keine Selbstverständlichkeit, wenn Meinungsfreiheit gerade nicht durch Folterkeller und Sippenhaft bedroht ist. Die Wahl der Mittel bleibt jedenfalls subjektivem Empfinden anheim gestellt, und wo Konkurrenz und Anpassung den Alltag bestimmen, werden sie manchem Anspruchsberechtigten einfach lästig. Wenn der öffentliche Diskurs obendrein vom Nachdenken über individuelle Verpflichtungen aufs Gemeinwohl entbindet, der Staat zwar Vieles verspricht, aber in unvermeidlichen Krisen und Konflikten immer weniger halten kann, dann kommt die Stunde der Rebellen, der Revolutionäre und charismatischen Führer. Der Anspruchsberechtigte macht sein Kreuz dort, wo seine Ansprüche vermeintlich wahrgenommen werden. Der Staat, den er will, soll gefälligst zu ihm passen.

In der Art hat das Houellebecq in seiner „Unterwerfung“ zugespitzt erzählt. Was Demokratie gefährdet, lässt sich ziemlich genau beschreiben. Was massenhaft erwünscht ist, auch. Mit Blick auf IOC, FIFA, EU, UNO, die meisten NGO, ihre medialen Hilfstruppen frage ich mich: Wer will eigentlich noch Demokratie und Rechtsstaat? Wer will mehr als die Freiheit der eigenen "Bedürfnisbefriedigung" und "Anspruchsberechtigung?