Denkmäler stürzen – eine Lust?

Manche Denkmäler fielen im Sozialismus, andere in Kriegen und Revolutionen – fast immer, weil sie Ideologen störten

Der Tod gehört zum Leben: Was für manche eine Binsenweisheit ist, können andere schwer hinnehmen, vor allem wenn es nächste Angehörige, womöglich gar sie selbst anlangt. Die Todesfurcht ist eine anthropologische Konstante. Während weltweit die Angst vor der Ansteckung mit dem Corona-Virus grassiert, Regierungen und internationale Organisationen, bestärkt durch eine Sintflut medialer Alarmrufe mit Maßnahmen hantieren, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, bedarf das keines Beweises.

Eine mindestens ebenso starke Konstante ist der Wunsch des Menschen nach Unsterblichkeit, oder wenigstens nach einem möglichst langen Leben bei guter Gesundheit. Beides wird gewöhnlich den Göttern zugeschrieben – sie sind ewig, manche durch den Verzehr ihnen vorbehaltener Obstsorten auch ewig jung und gesund. Der Mensch vermiede gern Krankheit und Altern; den Tod überlistet er nur im Reich des Mythischen oder im Märchen. Was ihn von allen anderen ihm bekannten Lebewesen unterscheidet ist, dass er über solche Dinge nachdenkt. Mehr noch: Göttern gleich möchte er in Worten und Werken über sein zeitlich begrenztes Dasein hinaus fortleben, ersatzweise „sich verewigen“.

Falls er das mit größeren Bau- oder Kunstwerken, nicht nur mit grob in Bäume gekerbten Initialen, irgendwo als Tags aufgesprühten Insignien oder anderen eher banalen Memorabilia tun will, muss er dazu die Macht haben – oder die besondere Gunst der Mächtigen. Monumente kosten. Notwendig ist, dass er über hinreichend großes Ansehen verfügt. Nur in beiden Dimensionen der Macht – in der materiellen wie der informellen – außergewöhnliche Ereignisse und Personen werden bedenkmalt, Schlachten und ihre Lenker, Eroberer, Diplomaten, bedeutende Reformer, außerordentliche Wissenschaftler und Künstler.

Reichtum allein schützt nicht vorm Vergessen werden, ein tadelloser Ruf allein ebensowenig. Fügt sich beides in den Augen der Entscheider, so finden sich Mittel in der Kultur: an Bauten, in Malerei, Skulpturen, Sprache und Schrift. Möglichst resistente Materialien verschaffen dem Geschehen und seinen Protagonisten Überlebensgröße und -dauer, ein Denk-Mal im weitesten Sinn.

Herausragende Leistungen zum Wohle des Stammes, einer Dynastie, Religion, Ethnie, Nation, des Berufsstands, der „Bewegung“ verhelfen zur Nachhaltigkeit in deren Gedächtnis. Auch exorbitante Schandtaten. Wer ein Denkmal für etwas oder irgendwen er-richtet, wird das Gedenken in seinem Sinn aus-richten, Erinnerung reinigen von unpassenden Eigenarten, menschlichen Schwächen, etwaigen Verbrechen des Bedenkmalten.

Das Gedenken beruft sich allerdings meist auf Erinnerungen vieler, so werden überaus zähe und zugleich plastische, schillernde Mythen überliefert, wie im Falle Alexander des Großen oder des römischen Kaisers Nero. Bildwerke oder – mit Aufkommen von Schriftsprachen – in dauerhafte Materialien geprägte Zeugnisse bewahrten Ruhm und Ansehen, zugleich bildeten sich Mythen und wucherten unkontrolliert in alle Richtungen. Mythos und Monument sind so komplementär wie informelle und materielle Macht.

Das Flüchtige und das Träge – ein Exkurs

Lassen sie mich hier auf biologische, womöglich gar physikalische Hintergründe – vielleicht besser „Untergründe“ – schauen. Schließlich basiert das Leben auf einer universellen Geschichte, und bis heute gehört der Streit über Gestalt und Geschehen des Urknalls zu den heftigsten, denen selbst das gemeinhin eher ausgeglichene Gemüt eines Physikers sich auszusetzen bereit ist. Ob mit dem Entstehen unseres Universums – also dem, was wir mittels menschengemachter Instrumente über dessen Fortgang herausgefunden zu haben meinen – zugleich ein anderes unterging, ist gänzlich ungeklärt. Auch darüber gibt es wirklich hochinteressante, allerdings meist nur für einschlägig Vorgebildete verständliche Theorien.1

Ein ebenso unerklärtes und umstrittenes Phänomen ist die „Dunkle Materie“. Dass es sie geben muss, leiten Kosmologen aus nicht zu bestreitenden Messungen der Gravitation ab. Obwohl dieser rätselhafte „Stoff“ unsichtbar ist, sich jeder direkten Beobachtung entzieht, folglich nur mittelbar, etwa aus Beobachtungen von Galaxienhaufen, als existent erweist, hat er die sechsfache Gravitation der sichtbaren Materie. Es kommt noch schlimmer: Die „Dunkle Energie“ nimmt in kosmologischen Modellen sogar 72% des Materie- und Energiegehaltes, die Dunkle Materie 23%, die Atome des heutigen Universums nur 4,6% ein. Das Ausmaß an Ungewissheit ist schlechterdings überwältigend.

Mehr zu solchen „Welträtseln“ findet sich in Enzyklopädien wie der Wikipedia; ich will hier nur mit der Frage schließen, ob es sich dabei um ungelöste oder womöglich unlösbare Probleme bei der Frage nach dem wichtigsten Stoff handelt, aus dem wir Menschen gemacht sind: aus Zeit.

Augustinus im Lateran – Phantasieporträt aus dem 6.Jahrhundert

Spätestens hier endet – nicht von ungefähr – der neuerdings viel beschworene „Konsens in der Wissenschaft“, und die Religion betritt die Bühne. Von dem Kirchenvater und Bischof Augustinus (*13. November 354 in Tagaste, einer Stadt im heutigen Algerien, + 28.August 430 in Hippo Regius) stammt der weithin bekannte Ausspruch

„Was also ist ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“ (Confessiones XI, 14)

Er weist auf die Kluft zwischen subjektivem Zeitempfinden und dem unerbittlichen, unbeeinflussbaren Gang der universalen Zeit hin, die jeden von uns werden und vergehen lässt. Woher kommen wir? Wohin (ver-)gehen wir?

Auch Religion ist eine anthropologische Konstante, vielen missfällt das, insbesondere Leuten, die „Wissenschaft“ gern in den Rang der Unfehlbarkeit erhöben und sie damit der Religion gleichstellten – im Zeitalter der Gleichstellung mögen manche das als Fortschritt sehen, aber hinter diesem Calauer steckt natürlich der Wunsch, Wissenschaft wie Religon politisch zu instrumentalisieren. Da hört der Spaß auf.

Spaß beiseite also, dafür noch einmal: Was den Menschen von allen anderen ihm bekannten Lebewesen unterscheidet ist, dass er über solche Fragen nachdenkt. Genauer gesagt: Er investiert immer mehr Zeit und Energie, sie zu beantworten. Ein Megaprojekt wie der Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider in Genf verschlingt Unsummen – Jahresbudget 1 Milliarde € – und die Zahl der am Projekt und der Auswertung von Experimenten direkt oder indirekt beteiligten Forscher und Mitarbeiter in aller Welt geht in die Hunderttausende. Hier geht es um den Mikrokosmos, die kleinsten Elementarteilchen, aber letzten Endes soll ihr Verhalten auch erklären, was das Universum ausmacht. Inmitten des unvorstellbar Winzigen und Flüchtigen und des unvorstellbar Großen und Trägen bewegt sich die seltsame Spezies Mensch. Seltsam, weil jeder Einzelne wieder – das erstaunt und beschäftigt die Hirnforscher – eine Qualität dynamischer Wechselwirkungen zwischen seinem Körper, Gehirn und der Lebensumgebung ins Universum einbringt, die astronomische Dimensionen hat und nicht weniger ungelöste Fragen aufwirft, als das Weltgeschehen insgesamt. Vielleicht auch unlösbare?

Existiert nur, was messbar ist? Was genau ist eigentlich Information? Erlangen und gebrauchen wir sie ausschließlich in Gestalt der uns bekannten Medien – also an irgendein Material oder eine Energieform gebunden? Ist ihre Qualität nur anhand ihres praktischen Nutzens zu bewerten? Was entscheidet über das Erscheinen von Persönlichkeiten, die alle vergleichbaren ihrer Zeit in den Schatten stellen und Schicksale von Völkern, Kulturen, Zivilisationen prägen, und zwar sowohl als Zerstörer wie als Erfinder, Erbauer, Schöpfer beispielloser neuer Werke? Und andererseits: Welche Impulse des Einzelnen oder von Kollektiven höchst unterschiedlicher Größe bis hin zu ganzen Nationen, Weltanschauungen, Kulturen treiben Menschen dazu, immer wieder tödliche Risiken einzugehen? Handelt es sich auch dabei um eine anthropologische Konstante? Verbindet nicht gerade dieses Risikoverhalten den Menschen mit allem Existierenden, weil es ohne fortwährende Bewegung auf dem unendlich schmalen Grat des Ereignishorizonts eben nicht existierte?

Diese Frage möchte ich mit Ja beantworten. Dass die Grundimpulse Erlangen und Vermeiden die Welt jederzeit bewegen, dass so beständig Zukunft entsteht und Vergangenheit hinterm Ereignishorizont verschwindet, unerreichbar wird, dass dabei aber genügend träge Masse – mit uns – im Ereignishorizont „gefangen“ bleibt, um daraus Hypothesen über das Vergangene aufstellen zu können, ist ein interessanter Gedanke. Den Grundimpulsen fiele dabei die Rolle des Flüchtigen zu. Wo sie sich im Geschehen materialisieren, verschwinden sie2 zugleich, ohne je aufzuhören. Kosmologen sehen in der Dunklen Energie das „Auseinanderfliegen“ des Universums begründet; eines der vielen unbegriffenen – unbegreiflichen? – Phänomene. Im Gedankenexperiment will ich dort einmal das Flüchtige vermuten. Das Träge ist sein Komplement. Und damit schließe ich den Exkurs.

Die Ewigkeit des Flüchtigen

Falls Sie den Eindruck haben, dass es sich bei mir um einen Feld-, Wald- und Wiesenphilosophen handelt: Das stimmt. Nicht unbescheiden genug, fügte ich gern noch den Luft-, Feuer- und Wasserphilosophen hinzu. Und Ja! ich überschätze mich. Das sehe ich allerdings als normales Risikoverhalten. Menschen auf der Jagd, Menschen, die Kinder zeugen, brauchen es ebenso wie Mauersegler, die 10 von 12 Monaten fliegend in der Luft verbringen, zehntausende Kilometer zwischen Europa und Afrika zurücklegen, dabei eine besondere Art zu schlafen entwickelt haben und – wenn ich’s richtig verstanden habe – sogar kopulieren. Menschen können das inzwischen auch, mehr noch: sie können sogar als einzige Lebewesen im Flug eine warme Mahlzeit zu sich nehmen. Konstatierte der unvergessene Philosoph Loriot.

Otto von Lilienthal 1894 – kein weiter Weg mehr bis zum Fliegen.

Um so weit zu kommen, mussten sie allerdings enormen Aufwand an Technik treiben. Viele starben beim Versuch, es den Vögeln gleich zu tun; die meisten hatten sich überschätzt, viele sterben immer noch, weil sie Risiken unterschätzen. Dasselbe galt und gilt für Bergsteiger, Tiefseetaucher, Langstrecken- und Skiläufer, Autofahrer… Vor allem für Krieger. Spätestens hier stößt einer auf einen wichtigen Unterschied: Wird der Impuls, ins Risiko zu springen, freiwillig ausgelöst, die (Todes-)Gefahr bewusst ignorierend – oder wird er erzwungen? Handelt einer selbständig oder getrieben? Sucht er gar den Tod? Welche Informationen sind ihm zugänglich, welche ausschlaggebend?

Keine Entscheidung – ich rede hier nicht von „rein rationalen“, die es nur als Sonderfälle in der Spieltheorie gibt – erfolgt aufgrund absolut verlässlicher und vollständiger Informationen. Jede Situation überforderte mit der Menge und Komplexität ihrer Einflussfaktoren die Fähigkeiten des Menschen und seiner Instrumente, sie wahrzunehmen und in angemessener Weise zu reagieren. Stattdessen verfügt er über ein im Hinter- (oder Unter-)grund wirkendes System der Intuition und Antizipation. Man kennt es als „Sechster Sinn“, aber das greift zu kurz. Die beteiligten Faktoren sind nur teilweise bekannt, und alle Versuche, einer „Künstlichen Intelligenz“ etwas auch nur Vergleichbares zu verpassen, scheitern – für den Physiker vorhersehbar.

Die Grundimpulse – Erlangen und Vermeiden – sind doch offenbar stark an gedankliche und sprachliche Partikel wie „Gut und Böse“ gekoppelt; auch sie sind komplementär. Könnte es sein, dass jeder Entscheidung, logisch in ein Ja oder Nein gefasst, Impulse des Flüchtigen vorauslaufen – Interaktionen zwischen Bewusstem und Unbewusstem?

Unter zahllosen Beispielen seien zwei bekannte herausgegriffen, bei denen historisches Geschehen statt eines katastrophalen einen glimpflichen Verlauf nahmen:

Als am 26. September 1983 ein Softwarefehler in der Satellitenüberwachung der Roten Armee einen Angriff der USA auf die Sowjetunion mit Atomraketen signalisierte, hätte dies den Beginn des 3. – nuklearen – Weltkrieges bedeuten können. Verhindert wurde er nur durch den diensthabende Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow. Er stand vor der Wahl, strikt nach den ihm verfügbaren Informationen und entsprechenden Anweisungen zu handeln, oder – in der Sprache subalterner Ordnung „eigenmächtig“ – die verfügbaren Informationen als Fehlalarm zu interpretieren. Das bedeutete für ihn und sein Land ein unvorstellbares Risiko. Er nahm es auf sich – und lag richtig. Es trug ihm zunächst keinen Dank bei den Apparatschiks ein; erst Jahrzehnte danach wurde er dafür geehrt, vor allem in den USA.

Am 9. November 1989 löste die – vom Informationsstand der Führung seiner Partei sowenig wie von dem der bewaffneten Grenzorgane und der Stasi gedeckte – Aussage des SED-Politbüro-Mitglieds Günter Schabowski während einer internationalen Pressekonferenz über das „unverzügliche“ Inkrafttreten eines neuen „Ausreisegesetzes“ der DDR am selben Abend einen Massenansturm von Ostberlinern auf den Grenzübergang an der Bornholmer Straße aus. Der dort verantwortliche Oberstleutnant Harald Jäger musste sich entscheiden, dem Druck der Masse nachzugeben, oder als Subalterner das „Grenzregime“ nötigenfalls mit Waffengewalt durchzusetzen. Er handelte – nach eigenem Bekunden – ohne Zustimmung seiner Vorgesetzten „auf eigene Faust“, was eine Befehlsverweigerung bedeutete. Die Folgen sind Geschichte.

Es gäbe zahllose Beispiele dafür, welche massenhaften Opfer befehlsgemäßes, subalternes Verhalten in der Vergangenheit forderte und bis heute fordert. Sie weisen auf ein für autokratische, gar totalitäre Gesellschaften typisches Muster hin: Die organisierte Verantwortungslosigkeit. Keinem der – später nur ausnahmsweise als Massenmörder und Kriegsverbrecher verurteilten – Subalternen war mit Vernunftgründen hinsichtlich ihrer Schuld beizukommen. Sie beriefen sich allesamt auf das Informationssystem von Befehl und Gehorsam. Strikt rational begründet. Niemand weiß, wieviele von ihnen doch unter „Gewissensbissen“ handelten, wieviele Reue empfanden. Es gibt davon aber Zeugnisse. Natürlich auch Beweise für erheuchelte Reue mit dem Ziel, eine härtere Strafe zu vermeiden.

Noch unübersichtlicher, noch unschärfer wird das Bild, will man herausfinden, ob, wann und unter welchen Umständen ein Kollektiv aus Vernunftgründen innegehalten hätte, wären nur die Argumente gegen ein im Nachhinein als mörderisch oder selbstmörderisch erkanntes Verhalten rechtzeitig zur Stelle gewesen. Nein, ich will hier nicht nur von jenen Fällen reden, in denen sich Sekten bis heute immer wieder einmal selbst auslöschten, sondern auch von absehbar nicht zu gewinnenden Kriegen – vor allem über den letzten, ganz großen Krieg, bei dem über die Weltherrschaft entschieden wird. Mit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine, befohlen von Wladimir Putin und seiner Gefolgschaft in Politik und Militär – gerechtfertigt und propagandistisch bestärkt nicht nur von russischen Medien – ist die Bedrohung für Europa wieder gegenwärtig. Dass genügend Kernwaffen existieren, die Erde in eine kaum mehr bewohnbare Trümmerwüste zu verwandeln, weiß der eine; ob, wann und von wem dieser Schritt getan wird, ist ungewiss. Wer immer ihn unternimmt, überzeugt, dass er über genügend Räumkommandos gebietet, die auf Schutt und Bergen von Leichen eine seinen Dominanzwünschen gemäße Gesellschaft begründen: Er kann nie ganz sicher sein, dass nicht auch in den eigenen Reihen ein paar seiner Gegner überleben – womöglich statt seiner. Den totalen (End-)Sieg gibt es gegen Viren und Bakterien so wenig wie gegen anderes (in der Propaganda gern auf Menschen gemünztes) „Ungeziefer„.

Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin
Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Im vergrößerten Bild sind Besucher zu sehen: winzigklein

Ein Monument der gegen tödlichen Größenwahn versagenden Vernunft steht in Berlin. Es soll an den Holocaust, den organisierten Massenmord an den europäischen Juden erinnern, sein Bau war nicht nur wegen der Kosten umstritten. Wer genauer hinschaut und das Treiben von Touristen zwischen den 2710 Betonstelen beobachtet, wird sich vielleicht wundern, wie gedankenlos manche die Sehenswürdigkeit durchstreifen, um sich schließlich mit einem „Selfie“ zu verewigen.

Peter Eisenmann, der Architekt, sah dies bei der Eröffnung durchaus vorher:

„Wenn man dem Auftraggeber das Projekt übergibt, dann macht er damit, was er will – es gehört ihm, er verfügt über die Arbeit. Wenn man morgen die Steine umwerfen möchte, mal ehrlich, dann ist es in Ordnung. Menschen werden im dem Feld picknicken. Kinder werden in dem Feld Fangen spielen. Es wird Mannequins geben, die hier posieren, und es werden hier Filme gedreht werden. Ich kann mir gut vorstellen, wie eine Schießerei zwischen Spionen in dem Feld endet. Es ist kein heiliger Ort.“ äußerte er 2005 in einem Interview mit dem „Spiegel“.

Die zuständigen Verwalter sehen das anders. Gegen Schmierereien ließen sie die Stelen mit einer abweisenden Schicht überziehen. Auch dem Zahn der Zeit – da er sich nicht ziehen lässt – trotzen sie etwa mit Metallbandagen gegen Risse, die sich seit 2008 infolge von Hitze, Kälte, Wind und Regen im Beton ausbreiteten. Ist es der Rang des Kunstwerkes, der – wie etwa bei Kathedralen – die fortwährende Instandhaltung erheischt? Worin stünde andererseits der mythische Rang von Tempelruinen dem intakter Bauwerke nach?

Vielleicht ist die Frage erlaubt, ob die Erbauer – neben dem rühmlichen Gedenken für die unvorstellbar vielen vernichteten Menschenleben – nicht auch der eigenen gesellschaftlichen Stellung, dem moralischen Ansehen einiges Gewicht geben wollten. So weit, so legitim. Jeder, der Wert auf eine ehrenvolle Bestattung seiner Angehörigen legt, tut das. Sepulkralkultur dient den Lebenden, nicht den Toten.

Gräberfelder und Stolpersteine, mit denen der Opfer massenhafter Morde und Selbstmorde gedacht wird, haben allerdings kaum je Nachgeborene gerettet. Sie haben auch den nächsten Krieg, den nächsten Führer und die nächsten seriellen Zerstörungen menschlicher Errungenschaften nicht verhindert. Ich wage zu behaupten, sie haben sie nicht einmal gebremst.

Gibt es irgendeinen wissenschaftlichen Beleg dagegen? Natürlich gibt es sie ohne Zahl. Jedenfalls in der Wahrnehmung jener Politiker, Journalisten und „Wissenschaftler“, die von „No Covid“, „Klimarettung“ oder der „großen Transformation“ schwadronieren. Obwohl es an begreiflichen wie berechtigten Einwänden gegen die Ermächtigung von Kommunisten und Nationalsozialisten nie gefehlt hat, war und ist der Größenwahn weltweit gültiger moralischer Überlegenheit, von der Herrschaft der Guten, vom ewigen Frieden und Glück im Glanz letzter Erkenntnis nicht ausgeträumt, egal welche Opfer er kostet. Die Farben, Symbole, Uniformen aus Stoff oder im Geiste wechselten, das Ziel – Weltregierung, absolute Hoheit über Deutung, Recht und Verteilung der Güter – blieb. Wer Bedenken vorbringt, kann heute bereits wieder vom Glück reden, wenn er nur ausgelacht, für verrückt erklärt, sozial isoliert oder ins Exil getrieben wird.

So elementar wie allgegenwärtig ist der Impuls zur Dominanz. Sein Ziel ist, Macht zu erlangen und deren Verlust zu vermeiden. Dominanz bedarf der Unterwerfung, der Subalternität – ohne Subalterne ist niemand mächtig. Das begründet eine wechselseitige Abhängigkeit beider Seiten: Sie sind komplementär, sie brauchen einander bis zur paradoxen Rollenumkehr. Wer Kinder aufzieht, erlebt das vom ersten Schrei des Säuglings an. Der vermeintlich Unterlegene kann – der elterliche Instinkt gebeut’s – andauernd, ausdauernd Fürsorge erzwingen. Eine Frau, die ihren Säugling aussetzt, ist nicht mehr Mutter, ihr drohte früher soziale Ächtung. Mit Glück fanden und finden sich passende Pflegeeltern – so weit, so auch im Tierreich geläufig und für das Fürsorgeverhältnis unerheblich. Was ich sagen will: Der Subalterne kann Fürsorge erpressen solange der „Herr“ seiner bedarf, und zwar nicht nur als Arbeitskraft, sondern auch als Zeuge seiner sozialen Stellung. Je mehr Sklaven, Soldaten, Angestellte er hat, desto größer sein Ansehen: seine informelle Macht.

Verhungernde Sklaven, zu Tode erschöpfte Zwangsarbeiter, sieglos sterbende Soldaten beenden fast jede Herrschaft nicht nur materiell sondern auch informell: König Ohneland wird zum Gespött ohne Denkmal, der größte Führer aller Zeiten wird zum Scheusal, der Firmenchef meldet Privatinsolvenz an… Soweit beliebte Dramenkonstellationen, in deren Folge manchmal ein „Negativ-Denkmal“ übrig bleibt wie der Teufel in den Mythen. Auch das kann unsterblich machen. Was da in legalen oder illegalen Überlieferungen weiter west, ohne es zu mehr als verschwörerischen Signets und Schriften zu bringen, tut’s vor allem in der Dimension des Flüchtigen.

Was im Alltag meist funktioniert: beide Seiten wissen, dass Fürsorge sie erhält, sie werden immer wieder in Konflikte geraten und Kompromisse aushandeln – mit unsicherem Ausgang. Hier ist das Flüchtige, das Volatile in seinem Element, keineswegs nur deshalb, weil die Ratio alles regelt. Im Gegenteil: Eine Einbuße an Spontaneität, Inspiration, Freiheit beim Spiel der Kräfte schwächt erfahrungsgemäß jede Beziehung. Zukunft braucht Spielräume für alle Beteiligten, das bedeutet nicht Regellosigkeit. Nur die „sichere Zukunft“ ist ein Oxymoron.

Nur der Tod ist sicher. „Mors certa, hora incerta“: In diesem lateinischen Sprichwort löst sich Augustinus‘ nachdenkliche Formulierung auf: Nur der Lebende hat Zeit, sie stirbt mit ihm. Das letzte, was er sieht, ist seine von fremden Zielen und Impulsen verstopfte Zukunft: Sei’s vom Killerinstinkt eines Feindes, dem Auto eines Geisterfahrers oder von Krankheiten, die sein Immunsystem überwältigen.

Andere können beim Sterben zuschauen, es wird Teil ihrer Erinnerung, ohne dass es als Erfahrung vermittelbar wäre. Menschen töten Menschen seit je, weil sie etwas erlangen oder vermeiden wollen, z. B. getötet zu werden. Letzteres gilt in der Gesetzgebung der meisten zivilisierten Gesellschaften als nicht zu bestrafende Notwehr. Richter müssen entscheiden, ob die subjektiv erlebte Todesfurcht begründet war. Eine unlösbare Aufgabe. Die komplexen, zeitlich und gesellschaftlich determinierten Umstände sind nie „objektiv“ zu bestimmen. Rebellen, Mörder, Totschläger, psychisch Gestörte, Polizisten, Soldaten – wer darf fremdes Leben ungestraft auslöschen? Die Chancen auf Freispruch stehen für Täter umso besser, je höher ihr Rang in den Kategorien von Kollektiven ist, die – womöglich von Staats wegen ermächtigt – die Deutungshoheit haben, und je größer dank moderner Waffentechnik ihre Entfernung zum realen Geschehen des Tötens ist.

Die organisierte Verantwortunglosigkeit moderner ökonomischer und politischer Systeme, vollendet ausgeprägt im Totalitarismus, stellt die Verursacher von nach Millionen zählenden Massakern fast immer frei, meist auch die gewalttätigsten Schergen und Handlanger. Die Urteile der Nürnberger wie der Auschwitz-Prozesse und des einen oder anderen vor internationalen Gerichtshöfen haben daran wenig oder nichts geändert. Mao Zedong, seine Gehilfen und Nachfahren in der KPChinas gelten in der Ära Xi Jinpings wieder als Vorbilder, ein rigider Nationalismus lässt jeden Dissidenten als Feind des chinesischen Volkes erscheinen, Denkmäler, Porträts, die „Mao-Bibel“ haben Konjunktur.

In etlichen Gegenden dieser Welt droht Zweiflern am Kurs der Mächtigen der Tod. Manche nehmen ihn in Kauf. Sie wollen sich „ums Verrecken nicht“ den vielen gesellen, die sich mit den je herrschenden Verhältnissen arrangieren. Kollektiver Druck mit Argumenten wie „Wer gibt dir eigentlich das Recht, dich querzulegen?“, „Willst du was Besseres sein als alle anderen?“, „Du arbeitest den Feinden der Gesellschaft in die Hände!“ schrecken sie nicht ab; dafür werden sie von Mitläufern denunziert, verleumdet, bekämpft, exekutiert – noch im vermeintlich sicheren Exil.

Was tut einer, dessen Aussicht nichts anderes als „eine See von Plagen“, ein unausweichliches, grausames Leiden mit sicherem, qualvollem Ertrinken ist – oder ein paar Schritte bis zur Gaskammer, zum Galgen, zur Guillotine? „Lever dood as Slav“, war das überlieferte Motto friesischer Freiheitskämpfer, schwimmen bis zum letzten Atemzug, strampeln, bis die Kräfte verbraucht sind, „kämpfend untergehen“, sei’s nur mit letzten Worten dem Henker die Stirn zu bieten. Der wenigsten wurde – wird – bis heute mit Ehrfurcht gedacht. Sie waren und bleiben Einzelgänger.

Unübersehbar ist das Heer jener, die sich ohne Gegenwehr ergeben, angsterstarrt, hoffend, dass „hora incerta“ vielleicht das Wunder bedeuten kann: Rettung in letzter Sekunde durch himmlische oder irdische Mächte. Schlimmer noch: manche helfen den Henkern, letzte Schreie der Verzweiflung abzuwürgen, wie es vor den Gaskammern der Shoah geschah.

Das Holocaust-Monument auf dem ehemaligen Gelände der mörderischen Mauer in Berlin ist wie für diese Masse Namenloser gemacht. Wenn es einen komplementären Mythos gibt, ist es der des anonym Untergetauchten, Geflohenen, hilfsbereiten Außenseiters in der KZ-Gesellschaft. Das Mahnmal sagt eigentlich: „Wehr‘ dich, bevor es zu spät ist!“

Damit komme ich endlich wieder auf die Überschrift zu sprechen, denn immer standen am Anfang kollektiver Selbstmorde – und jeder Griff nach der Weltherrschaft riskiert ihn – überlebensgroße Führungsfiguren und eine Ideologie. Nicht selten wurden ihnen schon frühzeitig mit ersten Erfolgen, jedenfalls wenn sie anhielten, Monumente errichtet. Die der Architektur – Tempel, Kathedralen, Moscheen, Paläste, Wallfahrtsorte – überlebten Jahrtausende ebenso wie die „Heiligen Bücher“ der Juden, Christen, Muslime. Der Begriff „Buchreligion“ sagt es. Die Schriften eines Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao Zedong begründeten eine Ersatzreligion von nicht weniger suizidaler Potenz. Nach vorübergehendem Sturz infolge massenhafter Gräuel unter ihrer Führerschaft kommen sie wieder zu Ehren, und architektonische Monstrositäten des Sozialismus sind Sehenswürdigkeiten wie die Marx-Statue in Trier, ein Geschenk von Xi Jinping.

All das sind Versuche, flüchtiges, vergängliches Leben und Denken – gekoppelt an besondere materielle und informelle Macht – unvergänglich zu machen. Flüchtige Zeit wird mit einem auf Ewigkeit zielenden Gewicht beladen, die Erinnerung mit einem Höchstmaß an Trägheit beschwert, auf dass die Ideen und Handlungen der Großen fortwirken, wenn die Nachwelt sich darüber verständigt, was zu erlangen, was zu vermeiden ist. Dabei gerinnt die Sprache, erstarrt in Phrasenritualen, wird in Stereotypen gestanzt, zu Worthülsen gedrechselt, wird ihres Sinnes und ihrer Sinnlichkeit beraubte verbale Uniform versteinernder Verhältnisse. „Kaderwelsch“ nannte Bertolt Brecht das. Auf die Politbürokraten der DDR gemünzt passt dieses Wort heute auf all jene doktrinären Bewegungen, die – mehr oder weniger staatlich geduldet oder gar gefördert – Kriege um die Deutungshoheit führen. Ihnen allen ist gemeinsam der kollektivistische, korporatistische, etatistische Impetus. Das freie Individuum, dessen Recht, seine Meinung zu äußern und den Verfall unter Fundamenten und hinter Fassaden der je herrschenden Ordnung bloßzulegen, eigene, selbständige Wege zu gehen, ist ihr größter Feind.

Führungsfiguren werden – fast wie Gottheiten – Stoff künstlerischen Schaffens. Bisweilen nehmen sie gottähnliche Züge an. Wer Bauten, Porträts, Standbilder, Lobpreisungen jeder medialen Form in die Welt setzt, darf darauf vertrauen, selbst ein wenig in der Aura zu glänzen, die er in Denkmälern materialisiert. Das kann schiefgehen wie bei Leni Riefenstahl, Arno Breker und literarischen Apotheosen der Tyrannei, aber selten sind die Folgen für Schöpfer und Produkt so irreparabel wie der Tod jener, die in den kollektiven Selbstmord mitmarschierten.

Manche Mythen verorten seltsame Schatten in einem besonderen Reich: Dort sind Schuld, Unrecht aller Art, aber auch Versagen, Furcht und Schrecken, Lug und Trug, Neid, Missgunst, Untreue – kurz: all jene dunklen Kräfte – beheimatet, von denen Heldendenkmäler gereinigt erscheinen. Als wolle man die Kräfte des Todes, des ewigen Wandels, das Ungreifbare und Flüchtige dort bannen. Wer errichtet ein Denkmal, das den Verfall feiert: von der Witterung zermürbt, verrostend, dahinbröckelnd, bald verschwunden? Es mag einzelne geben – vielleicht angeregt von Joseph Beuys –, durchgesetzt haben sie sich nicht.

Keines der Reiche in der menschlichen Geschichte konnte überdauern. Manche blieben an Denkmälern ihrer Tätigkeiten, Führer, Kriege erkennbar, auch sie vom unvermeidlichen Verfall gezeichnet, manche kaum mehr zu identifizieren. Die Grundimpulse der Herrschaft aber blieben mitten im materiellen und ideellen Wandel erhalten, sogar Herrschaftsformen und -methoden finden sich fast überall – zeitlos – wieder, nur neue Technik kam hinzu.

All das folgt dem Drang des Menschen zum Erobern ebenso wie Seefahrten, das Bauen von Fluggeräten und die zahllosen Konflikte, Kämpfe, Kriege, geführt um die Macht und ihren Erhalt. Das Denken muss sich dabei den beiden Grundimpulsen – Erlangen und Vermeiden – fügen: Es will in der Dimension flüchtiger Ideen dominieren, lässt Risiken geringer oder größer erscheinen, bevor über Handeln oder Zögern, Einlenken oder Durchsetzen rational entschieden wird. Man sollte meinen, dass je bedeutsamer ein Unternehmen, desto robuster das Theoriegebäude sein sollte, auf dem ein Entschluss beruht.

Das Dilemma besteht aber darin, dass über die Zukunft – also den Erfolg oder Misserfolg – niemals volles Wissen zu erlangen ist. Egal ob jemand allein oder in einem Kollektiv agiert: die Kraft elementarer Impulse triumphiert immer wieder über komplexe Erwägungen des Für und Wider. Und ein besonders schwer zu kontrollierender Impuls ist „Gewalt – Macht – Lust“.

Die "Alexanderschlacht" - 333 v.Chr. - 1528 von Albrecht Altdorfer imaginiert, weist auf die Allgegenwart von Konflikten in der Geschichte
Die „Alexanderschlacht“ – 333 v.Chr. – 1528 von Albrecht Altdorfer imaginiert, weist auf die Allgegenwart von Konflikten in der Geschichte

Natürlich lässt sich eine Elementarstrategie, wie die Gewalt es ist, nicht einfach abschaffen. Sie hat zum Überleben der Gattung beigetragen wie die Paarung zur Fortpflanzung. Menschen erleben andauernd, welches Glücksgefühl entsteht, wenn ein „Befreiungsschlag“ gelingt, wenn Fesseln gesprengt werden, wenn das Übermächtige und Bedrohliche zu Boden stürzt und zerschmettert werden kann – wie Hitlers Führerbunker und der Stacheldraht um die Arbeitslager Stalins, wie die Berliner Mauer, wie der israelische Panzer oder die Taliban–Basis, die in die Luft fliegt, wie der Kinderschänder, der einer rächenden Meute in die Hände fällt. Gewalt macht Lust, wenn sie „das Böse“ austilgt, und dieser Lust überlassen sich tagtäglich, zu jeder Stunde und Minute, in jedem Augenblick Millionen Menschen im Fernsehen, im Kino, im Theater, im Stadion oder im Panzer, mit der Steinschleuder in der Hand, im Düsenjäger, mit dem Messer oder der Maschinenpistole – oder im Bordell bei einer Minderjährigen. Oder auch mit dem Federhalter überm Papier, dem Mikrofon vor der Nase, der Kamera auf der Schulter, dem Text- und Bildverarbeitungsprogramm oder dem 3-dimensional animierten Killerspiel auf dem Monitor. GEWALT MACHT LUST.

Das steht im Vorwort zu „Der menschliche Kosmos“. Ich will hier nur auf den speziellen Aspekt des Niederwerfens und Zerstörens verhasster Feinde „in effigie“ zu sprechen kommen, also auf das Vernichten von Bildwerken, Symbolen, Büchern und anderen Medien, die anstelle der (unerreichbaren) Originale zum Ziel eines Mobs, einer Bewegung, eines Heeres werden. Linke Ideologen erfanden dafür den beschönigenden Begriff „Gewalt gegen Sachen“. Sie täuschen damit eine humane, moralisch kaum anfechtbare Zielsetzung vor, da sich ihre Brutalitäten angeblich nicht gegen menschliches Leben richten.

Tatsächlich richten sie sich nur scheinbar ausschließlich gegen materielle Zeugnisse des Daseins feindlicher Götter, Herrscher, Denker, Künstler. Die Medienwelt, auf spektakuläre Aktionen fixiert, greift dankbar nach Bildern des Vandalismus, des Schändens und Zerschmetterns, macht aber die Ziele dahinter nur dann sichtbar, wenn sie sich politisch passend einordnen lassen. Je nach Gesinnung empören sich Journalisten über den Frevel oder beschönigen, verteidigen die „Aktivisten“ und forschen nach – möglichst akzeptablen – Gründen der Täter. Sie billigen insofern deren ideelle Attacken auf das Ansehen von Personen und Werk, die nicht dem eigenen Lager zuzurechnen sind. Manchmal sondern sie ein paar Phrasen der „Betroffenheit“ über den Sachschaden ab.

Dabei toben sich „in effigie“ Mord- und Rachegelüste gegen Menschen so ungehemmt aus wie sadistische Neigungen. Schänden und Verwüsten zielt immer auf diejenigen, in deren zivilisatorischem Wertesystem Denkmäler und gesellschaftlicher Rang verankert sind. Die Täter testen spielerische Vorformen, Simulationen des Terrors. „Wie weit kann ich gehen?“ ist das Muster. Bleibt es folgenlos, wenn ich die Wände eines restaurierten Gebäudes, wenn ich ein Standbild mit meinen „Tags“ beschmiere? Wieviele Autos kann ich anzünden ohne erwischt zu werden?

Der Vandalismus korrespondiert mit Pöbeln, Diffamieren, Verleumden, Hetzen in der informellen Sphäre – also mit Angriffen aufs Ansehen, auf den Ruf des Attackierten. Die liberale, freiheitlich und rechtsstaatlich verfasste Öffentlichkeit lässt hier große Spielräume im Sinne des Wortes. Doch zielen diese ideologischen Kriege allzu oft auf Vernichtung. Genaues Hinsehen lohnt: Soll niemand mehr den Gegenspielern vertrauen, ihre Gedanken aufgreifen und verbreiten? Werden obendrein alle, deren Denken, gar geäußerte Meinung sich mit ihnen in Verbindung bringen lässt, verdächtig und ebenso attackiert – ohne Rücksicht auf Qualitäten und Leistungen? Diese Form der „Kontaktschuld“ hat in den „Social Media“ Konjunktur. Werden die je aktuell erwünschten Vorstellungen von Gut und Böse radikal in die Vergangenheit ausgedehnt, egal wie unsinnig sie aus historischer Perspektive erscheinen? Das führte dann genau zu den Alpträumen von Geschchtsklitterung in George Orwells „1984“.

Die Welt der Menschen, mit denen jeder von uns zusammenleben muss, ist von einer nie dagewesenen Komplexität. Sie wandelt sich zugleich in nie zuvor erlebter Rasanz. Die Massen an Materialien und Informationen, die in jedem Augenblick umgeschlagen werden, sind unvorstellbar, auch wenn allgegenwärtige Statistiken ihre Beherrschbarkeit suggerieren. Wer sind die wahren Herrscher? Welches sind ihre Paläste, Tempel, Kathedralen, Moscheen, Denkmäler, Bibliotheken für die Ewigkeit? Besonders Wagemutige stellen anheim, dass künftige Besucher – „Aliens“ – anhand dessen, was sie vorfinden werden, unsere Zivilisation sollten rekonstruieren können.

Ohne mich weiter auf derlei Science Fiction – nicht mehr als einen Aufguss religiöser Wunschvorstellungen – einzulassen: Die Herrscher sind nur in der von Routinen, Ritualen und Gesinnungskitsch einer quotenfixierten Aufmerksamkeits-Ökonomie befangenen Wahrnehmung der Medien überlebensgroße Persönlichkeiten. Politiker wie Milliardäre sind in der zeitlichen Relation zu Pharaonen, Propheten, Päpsten, Feldherren, Kaisern und Königen eher Zwerge.

Stalin, Hitler, einige Größen der Film-, Literatur- und Musikwelt sind immerhin im Gedächtnis mehrerer Generationen präsent – also in der Sphäre flüchtiger Gedanken von bislang 100 Jahren, weil sich an ihnen bis heute verdienen lässt. Das Negativ-Denkmal Hitler dürfte als Goldesel unübertroffen sein. Ob es Bill Gates oder Jeff Bezos so weit bringen werden? An welchen von den Nachfolgern des kommunistischen Kaisers Mao erinnern Sie sich? Gut, Sie sind kein Chinese. Aber wie ist’s mit englischen, französischen, spanischen Staatsoberhäuptern? Vergleichen Sie einfach spaßeshalber die Beatles mit japanischen Popstars, die 2000 Jahre seit dem Beginn des Jesus-Mythos mit den 200 der Marx-Engels-Lenin-Stalin-Mao-Religion und fragen Sie ruhig, wer auf wessen geistigen Schultern steht.

Die Herrscher von heute sind riesige Korporationen, viele global aufgestellt. Sie nahmen berühmte Architekten in Dienst für ihre Paläste, der Aufwand, sie medial aufs Spektakulärste, schier unwiderstehlich zu inszenieren, sprengt das Budget etlicher Nationen. Gerne profitierten die ärmeren Staaten von ihrer Macht, aber egal wo und von welchen Staaten oder Konzernen sie dominiert werden: Die Herren der Welt marginalisieren auf jeden Fall ihre Kultur.

Dominanz im Reich des Flüchtigen, die informelle Macht, war noch nie so entscheidend wie heute, und das lässt sich nicht nur anhand des Aufwandes, also der Quantität der dafür eingesetzten Mittel, sondern vielmehr auch am Verschleiß menschlicher Qualitäten erahnen. Die schaurigen Entwürfe von Aldous Huxleys „Schöner Neuer Welt“, Kafkas „Prozess“, Orwells „Farm der Tiere“ oder „1984“ sind – was Subalternität, Überwachung, devotes Verhalten, massenhaften Konsum verblödender Unterhaltung und die weltweit an ihrer Unangreifbarkeit arbeitenden Organisationen von Politik, Wirtschaft, Medien anlangt, längst überflügelt.

Und doch… Wer die Lebensdauer moderner Monumente – Banken, Hotels, Konzernzentralen, Sportstadien, Spielkasinos, Brücken, Bürokomplexe anschaut, wird sie vergleichsweise kurz finden. In den USA darf sich eine Firma rühmen, Weltmeister in einigen Disziplinen des Sprengens solcher Bauwerke zu sein, darunter größte, besonders komplizierte, höchste. Es gibt einen Film darüber; er ist sehenswert, nicht nur wegen der erstaunlich sorgfältig geplanten und vollzogenen Zusammenbrüche und der gescheiten Fachleute im Familienunternehmen, sondern auch wegen der Zuschauer. Es waren alles in allem Hunderttausende, oft die ehemalige Kundschaft, die mit Applaus und Feuerwerk das Ende einstiger Vergnügungsstätten und Denkmäler der Ingenieurskunst feierten.

Immer wieder komme ich ins Staunen, wie schnell berühmte Namen verblassen, politische Strömungen, Markennamen, Bücher und Filme vergessen werden. Die Impulse bleiben erhalten, und sie lassen sich nicht ersticken: Das Flüchtige treibt alle – auch die von den Mächtigen am wenigsten erwünschten Gedanken, Wünsche, Absichten, weiter. Womöglich in immer größerem Tempo? Das subjektive Zeitempfinden lässt mich ahnen, wie eine dunkle Energie das Zeitmaß des Universums bestimmen könnte. Gott sei Dank ahne ich aber nicht einmal, wieviel Zeit mir noch bleibt, geschweige, wie lange es bis zum nächsten Urknall ist.


2  Für Interessierte: In der Quantenphysik entspräche das dem „Zusammenbruch der Wellenfunktion“


1  Brian Greene: „Die verborgene Wirklichkeit, Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos“, Pantheon 2013

Der Beitrag erweitert den Artikel im „Globkult“-Magazin vom 16. August 2021

Dimensionen und Dynamik der Macht (II)

(Zurück zu Teil I)

Die Gleichung Leben = Materie + Information bedarf genauerer Betrachtung. Zunächst beinhaltet die “Materie” darin nach der Einstein’schen Äquivalenz E = mc² auch die Energie. Die “Information” umgreift die Gesamtheit der Strategien, die im Genom evolutionsgeschichtlich eingeschrieben sind und sämtliche Lebensprozesse steuern – nach außen und innen. Der Anschaulichkeit halber könnte man sie denen im “Betriebssystem” eines Computers vergleichen, nur sind sie um astronomische Größenordnungen komplexer und vielgestaltiger. Nicht von ungefähr ist das Genom ein ebenso unerschöpfliches Forschungsfeld wie die Elementarteilchen und die Kosmologie.

Sich mit der informellen Seite der Macht als sozialem Phänomen zu befassen heißt also: auch unbewusste Prozesse im Verhalten von Individuen und Gruppen einbeziehen. Hier können organische Grundimpulse (Atmung, Ernährung, Schlaf) außer Acht gelassen werden, die so unvermeidlich wie automatisch das Handeln von Individuen bestimmen. Delegieren lassen sie sich – besten- oder schlimmstenfalls – an medizinische Apparate. Schon anders verhält es sich mit der Reproduktion (wie mit der Sexualität allgemein): Es gehören mindestens zwei dazu. Hier erscheinen Dominanz und Unterwerfung als Impulse informeller Macht. Sie setzen keineswegs verständige Überlegung voraus. Gefühle wie Angst, Neid, Missgunst, Hass, Rachedurst, aber auch Schutzbedürfnis, der Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit, Mitleid triggern oder verstärken sie. Und sie lassen sich tatsächlich an andere – Einzelne oder Gruppen – delegieren.

Titel von "Macht und Stellvertretung"

Weshalb Demokratien zur Herrschaft von Wenigen werden

Wolfgang Sofsky hat 2019 dazu einen Essay veröffentlicht. “Macht und Stellvertretung” ist – wie Elias Canettis “Masse und Macht” – eine Phänomenologie politischer Verhaltensweisen und Organisationsformen, obendrein ein wahres Pandämonium sozialer Rollen und zugehöriger Interaktionen. Canettis wie Sofskys Texte vereinen Tiefe, Klarheit und sprachliche Originalität.

Nicht von ungefähr wählt Sofsky in einigen Passagen das Theater als Vergleich: Dort wurden von Anbeginn Fragen der Macht und der Moral öffentlich verhandelt. Fast alle Charaktermasken – der Tribun, der Demagoge, der Statthalter, der Tyrann, der Anhänger, der Parteisoldat, der Schildknappe und viele andere – begegnen uns seit der Antike. Unveränderte Mythen und Handlungsmuster machen die Dramen von Aischylos über Shakespeare, Molière, Tschechow… bis in die Gegenwart aktuell. Zugleich ist Theater – wie alle Medien – Instrument informeller Macht: Das Geschehen hinter der Bühne bleibt fürs Publikum im Dunkeln. „Vertretungsmacht ist nicht zuletzt Theatrokratie“ schreibt Sofsky im Kapitel „Publikum“. Alle seine Gedanken – etwa zu Organisationsformen der Hierarchie oder zur Partizipation – führen immer auf beobachtbare, ganz gegenwärtige und konkrete Erscheinungen und Personen, ich bin ihnen mit größtem Vergnügen gefolgt.

Unvermeidlich geriet ich an eine schwer fassbare, notwendige Qualität informeller Macht, eine notwendige Voraussetzung für Stellvertretung (egal ob durch Delegierte, Anwälte, Vorstände): Das Vertrauen. Es gründet nur zum Teil auf sachlichen Erwägungen. Intuition und Antizipation bestimmen die Entscheidung des Einzelnen, wem er es schenken, wem verweigern will. Dabei ist er sehr stark von „Herdenimpulsen„, von seiner Gruppenzugehörigkeit und  Stellung beeinflusst.

Die Funktionsmechanismen der modernen Medien orientieren sich fast ausschließlich an Quantitäten: Quoten, Reichweiten, Klickzahlen. Sie sind darin genuin kollektivistisch. Die scheinbare Freiheit des Internets, der sozialen Medien insbesondere, jedem eine eigene Stimme zu geben, geht in der Aufmerksamkeitsökonomie unter, deren Dynamik wirtschaftlichen und politischen Zielen verschiedenster Korporationen – Konzerne, Parteien, NGO – unterworfen ist.

Molière als Cäsar, gemalt von Nicolas_Mignard_(1658)

Molière in der Rolle als Cäsar 1658. Als er den religiösen Heuchler Tartuffe spielte, konnte ihn nicht einmal der König vor der Wut des Klerus schützen

Shakespeares Globe Theatre war von buntem Getümmel erfüllt, ein Marktplatz der Meinungen und Gefühle. Wandertruppen bis weit ins 18. Jahrhundert spielten ohnehin auf den Märkten, Aufführungen lebten von Zurufen und passenden Extemporés der Akteure, die Dramen entstanden und veränderten sich im Wechselspiel mit der Menge. Wenige stiegen – wie Molière – auf stehende Bühnen mit barocker, kirchenähnlicher Architektur samt Königsloge empor. Es folgte das bürgerliche Theater mit „vierter Wand“, Spartenteilung und Regie als Beruf, abhängig von behördlicher Förderung. Die Akteure sind allen möglichen informellen Zwängen unterworfen.

Das Publikum darf, ob zur Unterhaltung oder moralischen Reinigung, mitfühlen. Nur ausnahmsweise handelt es: Dann löst ein einzelner, vernehmlicher Zwischenrufer womöglich den Abbruch einer Aufführung aus. Das aber gelingt nur, wenn er „Sprachrohr“ vieler ist, die ihren Unmut delegieren.

Natürlich kann auch er beauftragt sein – von Partei und Stasi wie in der DDR, von einer NGO (etwa der Feministen oder Tierschützer), einer religiösen Gruppierung, einem konkurrierenden Unternehmen. Der Nachweis solcher Interessenvertretung wird immer schwieriger, je komplexer, je weiter ein Medium sich in globale Dimensionen ausdehnt. Um informelle Macht zu erlangen, ist der materielle Besitz des Störers übrigens nebensächlich, sogar die Qualität seiner Einwürfe. Mancher „YouTuber“ profitiert nur sehr kurz von der großen Aufmerksamkeit für seine Aktion. Gewinner sind die, denen er zugearbeitet hat. Sie profitieren, wenn sie dauerhaft Aufmerksamkeit neuer Gruppen gewinnen – am Ende womöglich massenhaftes Vertrauen. Sie machen sich zu Stellvertretern und setzen damit den Prozess der Entfremdung in Gang, den Sofsky eindrücklich beschreibt. Dabei wird informelle Qualität durch Quantität ersetzt. Deutungshoheit über die Wirklichkeit ist nicht mehr im verständigen Diskurs über den Sinn zu erlangen, sondern wird im Machtkampf der Ideologien ausgefochten.

Wenn Stellvertretung hinfällig wird, weil sie an Konflikten der Realität scheitert, und das Vertrauen der Vertretenen verliert, kommt die Zeit der Revolutionen, der Ablösung einer Elite von der informellen Macht. Das Spiel beginnt von Neuem. „Das Drehbuch der Oligarchie und politischen Entfremdung beginnt keineswegs erst, nachdem Ruhe eingekehrt ist. Es war niemals aufgehoben, auch nicht während des Sturzes des alten Regimes. Und es bleibt solange in Kraft, wie die letzte Revolution noch aussteht, die Aufhebung jeder Stellvertretung.“

Wolfgang Sofskys Schlußsatz im Essay lässt keine Zweifel: Der Autor macht sich nicht zum Stellvertreter seines Lesers, sondern verweist ihn auf sich selbst zurück. Das hat mir besonders gefallen. Auch „Der menschliche Kosmos“ gründet auf diesem Verständnis von Freiheit.

Wolfgang Sofsky: Macht und Stellvertretung, Taschenbuch 132 Seiten, Verlag: Independently published 2019, ISBN-10: 1093388749 ISBN-13: 978-1093388749, 9,80 €

Bernd-Olaf Küppers: Die Berechenbarkeit der Welt – Grenzfragen der exakten Wissenschaften Gebunden 194 Seiten, S. Hirzel Verlag 2012, ISBN 978-3-7776-2151-7, 32 €

Dimensionen und Dynamik der Macht (I)

Pyramid_of_Capitalist_System

Die Machtpyramide des Kapitalismus im 19.Jahrhundert

Macht lässt sich in zwei Dimensionen verorten: In der materiellen und der informellen – in Besitz und sozialem Rang. In beiden formt sie sich zu verschiedensten dynamischen Systemen von Wirtschaft und Politik aus. In den zeitgenössischen Oligarchien mit ihren elaborierten, weltumspannenden Netzwerken erreichen diese Systeme höchste Komplexität. Ihr Streben geht dahin, stabil zu werden bis zur Unangreifbarkeit (so wie Individuen wünschen, unsterblich zu sein – aber diesen Gedanken führe ich hier nicht weiter fort). Sind nicht Herrschsucht und Habgier, Missgunst und Neid elementare Treiber der Dynamik aus Erlangen und Vermeiden? Und hängt nicht der informelle Machtanteil womöglich mit der Fragilität von Oligarchien zusammen?

Geschichte und Gegenwart belehren einen fortwährend, wie regelhaft manche Muster im Wechsel von Krise, Absturz, Chaos, Neuordnung immer wiederkehren, sei’s in Familien oder Sozialgebilden unterschiedlicher Größenordnung. Besitz ist offensichtlich bedeutsam für Macht; das Kapital erlangt universellen Zugriff auf Güter und Dienstleistungen aller Art – aber es würde scheitern, wäre es uninformiert. Lassen sich die Wechselwirkungen von „Materie + Information“ in den Lebenszyklen der Macht erkennen, beschreiben, gar modellieren?

Titel von "Die Berechenbarkeit der Welt"

Revolutionen, Krisen, Kriege im Computermodell?

Bernd-Olaf Küppers war Naturphilosoph an traditionsreichem Ort: nach den ideologisch verfinsterten Jahren von Nationalsozialismus und SED-Herrschaft forschte und diskutierte er an Jenas Universität als freier Geist. Küppers hat außer naturwissenschaftlicher Expertise auch gründliche Kenntnis von der Wissenschaftsgeschichte. „Was ist Leben?“, fragt er zu Anfang des dritten Kapitels in seinem Buch „Die Berechenbarkeit der Welt“ und antwortet mit der Gleichung Leben = Materie + Information. Die spröde Formel erläutert er überraschend kurzweilig: auch ein unerfahrener Leser wird verstehen können, was Physiker, Mathematiker, Biologen und Informatiker zu einem solchen Grundgedanken hinführte.  Küppers sagt den Strukturwissenschaften – etwa der Systemtheorie – als Querschnitt und zugleich als Fundament sowohl der Geistes- wie der Naturwissenschaften voraus, dass sie sich der Berechenbarkeit der Welt immer weiter nähern.

Das entspricht wohl dem optimistischen Blick eines Emeritus aus dem Jenaer Universitätsturm. Hinter dem Wunsch nach Berechenbarkeit der Welt verbirgt sich nämlich ganz realer Sprengstoff: der Wunsch, sie zu beherrschen. Das Wissen unserer Zeit wächst gewaltig, die Verhaltensmuster von Steinzeit und Mittelalter wachsen jederzeit mit: gewaltbereit. Umso dringlicher wird die Frage nach den sozialen Strukturen der Zukunft – Küppers‘ Buch wirft sie nicht auf.

kosmosneutitel

Einige Züge von individuellem und Gruppenverhalten habe ich in „Der menschliche Kosmos“ – die Neufassung von 2020 gibt es als E-Book u. a. direkt im Salier Verlag, wo 2006 auch die Erstausgabe erschien – näher betrachtet, und der wichtigste Ansatz dabei war, nicht mehr nur nach Gründen (warum?) sondern nach Zielen (wozu?) im ununterbrochen laufenden Strom von Entscheidungen des Menschen und seiner sozialen Gebilde zu fragen. Das Geheimnis hinter – meist unbewussten, intuitiven – Entscheidungen lässt sich mit dem Begriff der Antizipation fassen. Es ist ein schillernder Begriff, ich verstehe darunter die – meist unbewusste – Vorwegnahme eines Handlungsziels, die Impulse zum Erlangen bzw. Vermeiden steuert. Wie sehr unser Alltag davon abhängt, dass wir unablässig „automatisch“ agieren, können Sie im 6. Kapitel des „Kosmos“ etwas genauer nachlesen.

Dass Macht auf besondere Weise antizipiert wird, dürfte niemanden überraschen. Das tägliche Geschehen in den „Sozialen Netzwerken“ bezeugt eindrucksvoll, wie stark die Gier nach Aufmerksamkeit ist – also nach einem Platz an der Sonne informeller Macht. Es mag sein, dass der Ruhm von „YouTubern“ und viralen Kurznachrichten nur kurze Zeit währt: Wie sehr und intensiv sie von Politik und herkömmlichen Medien in Dienst genommen werden, beweist ihre Eignung als Instrumente im Kampf um die Köpfe der Massen. Geld und Besitz erwirbt damit nur ein winziger Bruchteil der im Netz verbundenen Nutzer. Die Megakonzerne der „Aufmerksamkeitsökonomie“ aber bewegen die Welt und häufen Milliarden auf Milliarden. Sind sie andererseits nicht auch anfälliger als Stahl- und Automobilfabriken? Wie sieht es aus, wen ein solcher Koloss ins Schlingern kommt, gar zusammenbricht?

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Gut aufgeräumte Landschaften

Wir sind immer gern am Bodensee – wir mögen Landschaft und Leute. Bei unseren Besuchen hat uns der Konstanzer Südverlag mehrfach mit interessanten Büchern zum Entdecken angeregt.

AlpsteinKürzlich erschien dort als Katalog zu einer Ausstellung mit Bauernmalerei aus der Ostschweiz ein Bildband, der das Lesen und Anschauen besonders lohnt. Ausgerechnet ein Sachse und ein Preuße kommen darin mehrfach zu Wort, um Besonderheiten der Schweizer in Appenzell zu beschreiben. Sie lebten beide Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts, als sich die Region um den Alpstein, in den Appenzeller Halbkantonen Innerroden und Außerroden und im Toggenburg wirtschaftlich und politisch wandelte. Die Textilproduktion wuchs auf, Bauern kamen durch Viehhandel und Milchprodukte zu Wohlstand, über ihren Stalltüren brachten sie „Sennenstreifen“ an. Es sind Tafelbilder, die stolz und zahlengenau den Viehbestand darstellten.

„Die Kuh im Appenzellerland“, vermerkt dazu der preußische Arzt und Reiseschriftsteller Johann Gottfried Ebel, „genießt mehr der Achtung und befindet sich glücklicher als Millionen Menschen Europas.“ Und in tiefem Respekt für den Freiheitssinn der Appenzeller, den er in der bis heute gepflegten demokratischen Landsgemeinde verkörpert sah, fügte er hinzu, das ganze Benehmen der Appenzeller drücke Selbstgefühl und innere Kraft aus. Den zugewanderten Sachsen Heinrich Tschokke wunderte, wie vertraut Amtspersonen und Volk miteinander umgingen: Der Landamman, höchste Magistratsperson, müsse sich gefallen lassen, wenn er vom geringsten Bauern dieselbe Behandlung empfängt, die er diesem widerfahren lässt.

Appenzeller Markenzeichen sind zweifellos bis heute das demokratische Grundverhältnis zur Politik, die Naturverbundenheit und der Geschäftssinn. Wie sie sich in der „Heimat Alpstein“ über Jahrhunderte herausbildeten, ist in dem von Tobias Engelsing liebevoll und mit sachkundiger Hilfe vieler Unterstützer gestalteten Buch nachzulesen. Historische Urkunden, Karten, Gemälde, Stiche, Fotos illustrieren geschichtliche Wendungen mit allen Härten von Krieg, Pest, Brand und gemeinschaftlicher Kraftanstrengung, sie zu überwinden. Naturschönheit kontrastiert mit mühsamer Arbeit, originäres Brauchtum mit aufkommendem Tourismuskitsch.

Dem stehen naive, bisweilen fast ikonenhaft abstrakte Bilder gegenüber, gemalt nur selten von Bauern, oft von Handwerkern, Textilarbeitern, Knechten, Hausierern oder Taglöhnern. Aus der Hand begabter Dilettanten entstanden Auftragsarbeiten für Wohlhabende, sie idealisieren Besitz und Feste. Alltagsnöte, Schicksalsschläge finden sich in diesen aufgeräumt wirkenden Bildern nicht – aber vielleicht ziehen sie Betrachter genau deshalb an.

Hans Büchler hat zur Entwicklung der Bauernmalerei einen klugen Essay verfasst, eine Auswahl von Bildern nebst Kurzbiographien der Künstler folgt, ein amüsantes „Appenzeller ABC“, Anmerkungen und reichlich Literaturhinweise. Die vergnügliche und anregende Lektüre weckt sofort die Lust auf eine Reise zum Säntis, in die Städte und Dörfer ringsum – vielleicht zum nächsten „Öberefahre“, – also zum Almauf- oder Abtrieb. Abhalten könnte einen einzig der Hinweis des Sachsen Zschokke, der schon 1836 feststellte, Appenzell sei ein wahrer Liebling aller in- und ausländischen Reisenden geworden.

Wer Touristenandrang meiden will, kann das vielleicht in der Sonderausstellung „Heimat Alpstein“ im Konstanzer Rosgartenmuseum, zu der das Buch als Katalog dient. Sie ist noch bis 30. Dezember 2017 zu sehen.

„Heimat Alpstein – Appenzeller und Toggenburger Bauernmalerei“ Südverlag Konstanz 2017, 208 Seiten, ISBN 978-3-87800-106-5, 19,90 €