Wuhan – ein Dokumentar-Roman

Meine Frau ist Chinesin und beteuert, dieses Stereotyp sei von ihren Landsleuten selbst erfunden worden. Es mag albern sein, aber zahllose Hungersnöte mit Millionen Opfern bis in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein verleihen ihm Sinn. Tatsächlich ist die chinesische Küche unglaublich einfallsreich. Zutaten werden auf mannigfache Weise genutzt, zubereitet, mit Kräutern und Gewürzen veredelt, immer neu komponierte und abgewandelte regionale Gerichte kommen auf den Tisch, und der Gesprächsstoff bei Mahlzeiten – ob schmal oder üppig – ist mitgeliefert: das Essen und seine Wirkung auf Leib und Seele. Für Exotisches, möglichst mit wundersamer Wirkung etwa auf Lust und Fruchtbarkeit, werden exotische Preise gezahlt. Chinesische Küche und chinesische Medizin wachsen auf einem Holz – seit Jahrtausenden.

Beide sind auch seit langem Forschungsobjekte nicht nur in China. Was ist solides Erfahrungswissen, was Aberglaube an der traditionellen Heilkunde? Was lässt sich profitabel ins moderne Gesundheitswesen übernehmen? Lässt sich das Holz veredeln, wild wachsender Hokuspokus eliminieren? Eine heikle Aufgabe, nicht weniger heikel als die, wahre von falscher Information zu unterscheiden – und im Handumdrehen stellt sich die Frage nach der informellen Macht: Wer hat die Deutungshoheit? Was ist Wissen, was Glaube? Was ist Gerücht, Fakenews, gar Verschwörungstheorie?

Streitbares Modell: ein Dokumentar-Roman

Die Kommunistische Partei Chinas hat – wie alle, die auf Religionen oder ersatzweise Theorien von Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao gründen – nur eine Antwort. Sie duldet keine abweichenden Auf-fassungen, sie verfolgt gnadenlos alle, die sie vertreten. Zu ihnen gehört Liao Yiwu, ein radikaler Beobachter des Wildwuchses. Seine Romane sind voll davon, das brachte ihn ins Gefängnis, trieb ihn ins Exil. Nun kann er nicht mehr selbst eintauchen in die verschwiegenen Tiefen der Gesellschaft, wie in „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“, das ihn berühmt machte. Er ist auf Tauchgänge im Internet angewiesen. Dort fischt er nach Wahrheiten in Gesellschaft all jener, die sich aus der Stromlinie regierungsamtlicher Informationen, aus den Schwärmen der Nutznießer, Profiteure, Karrieristen lösen, Überwachungssysteme, Schikanen, umgehen, Drohungen missachten: im Trüben.

Das Geschehen der Covid-19-Pandemie ist eine Lektion darüber, wie Regierungen, supranationale Organisationen, Konzerne und ihnen dienstbare Medien den Kampf um die informelle Macht führen, wie sie opake Zonen in Wissenschaft und Kommunikation schaffen, Sprache regulieren, ritualisieren, tabuisieren. Und doch gelingt es immer wieder einzelnen, im Web vernetzten „Querdenkern“, Sach-verhalte und Zusammenhänge aufzuklären. Sie werden – in China zumal – erbarmungslos gehetzt. Kcriss ist einer von ihnen, ein 25jähriger Blogger und V(ideo)logger, ehemals aufstrebender Moderator im Staatsfunk.

„Wuhan“ beginnt mit einer Autojagd von Sicherheitsdiensten, nachdem sich Kcriss einem streng geheimen P4-Labor genähert hat, dem Ort, an dem mit Fledermausviren experimentiert worden war, dem möglichen Ursprung der tödlichen Seuche. Ehe seine Wohnung von Sicherheitsleuten in Schutzanzügen gestürmt und er weggeschleppt wird, gelingt ihm, eine letzte Videobotschaft herauszusprudeln, sie landet auf dem Computerbildschirm von Zhuang Zigui, dem erzählerischen Ich von Liao Yiwu in Berlin.

Um die Geschichte des „Wuhan-Virus“ aufzublättern, erfindet Yiwu ein Gegenüber in China, den Freund und Historiker Ai Ding, der aus Berlin nach China just in den Beginn des Lockdowns hinein geflogen ist, von Frau und Tochter dadurch abgeschnitten wird. Mit allen Mitteln versucht er, nach Hause, nach Wuhan zurückzukehren.

Daraus wird eine Odyssee. Der Leser lernt die schaurig-komischen und brutalen, die lächerlichen und grandiosen Tricks, Winkelzüge, Kraftakte, Schelmenstreiche, Liebesbeweise und Rücksichtslosigkeiten kennen, mit denen Chinesen im Reich der Kommunisten, geführt von Xi Jinping, ums Überleben kämpfen – so sie sich nicht bedingungslos ins System von Überwachung, Kontrollen, Isolation, Desinfektionsorgien fügen.

Während des mehrwöchigen Herumirrens schafft es Ai Ding, aus dem Ozean des Internets brauchbare Dokumente über die Geschichte der SARS-Infektionen und die Forschung an Corona-Viren, über das geheime P4-Labor, die Reaktionen politisch Verantwortlicher bis hinauf zum „Kaiser“ herauszufischen, verlässliche von irreführenden Informationen zu trennen und – von Taucherglocke zu Taucherglocke – mit seinem Freund in Berlin auszutauschen. Keine konfliktfreie Zwiesprache, aber für jeden, der sich mit Politik und Medien in Zeiten von Lockdowns, Kontaktsperren, Maskenpflicht und Erlösung durch Impfen befasst hat, vervollständigt sie kontrastscharf und einleuchtend Karten politischer, medialer, virologischer, epidemiologischer, immunologischer Ströme, Untiefen – auch die verschmutzter und tödlicher Zonen nicht nur in China. Für alle, die an Stereotypen hängen: Nein, das Virus wurde nicht durch Verzehr von Fledermäusen, Schuppentieren, Larvenrollern übertragen, sondern entkam höchstwahrscheinlich dem für absolut sicher gehaltenen, von Franzosen und Chinesen gemeinsam eingerichteten und von Amerikanern wie Anthony Fauci mitgenutzten P4-Labor.

Liao Yiwu schöpft seine erzählerischen Fähigkeiten aus, aber damit nicht genug: Er reflektiert über das bedrohliche Potential des Wahns totaler Kontrolle vom Typ „No Covid“, zweifelt an der Wirkung seines Schreibens, lässt dem eigentlich Mitte 2020 abgeschlossenen Teil einen Epilog mit der „Wuhan-Elegie“ der Bloggerin Zhang Wenfang folgen, die dafür arretiert, zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt worden war, dazu seine bittere Ballade: „Spucke ist meine einzige Waffe“. Er dankt in kurzen Artikeln Helfern, Freunden, Übersetzern, so auch Brigitte Höhenrieder und Peter Hoffmann, die den „Dokumentar-Roman“ ins Deutsche übertragen haben; wie schon bei früheren Büchern des Autors taten sie es brillant.

Ein letztes Nachwort widmet Liao Yiwu der Bürgerjournalistin Zhang Zhan. Auch sie wollte über das P4-Labor berichten, wurde abgeholt, verschwand für Monate, wurde misshandelt, zu jahrelanger Haft verurteilt, trat in Hungerstreik und war im November 2021 dem Tode nah. Das Stereotyp vom deutschen Spitzel, Büttel, Gefängniswärter fällt mir ein. Er erfüllt nur seine Pflicht „zum Wohl des Großen, Ganzen“, unerschüttert durch das Leid im Leben der Anderen. Und dazu der Refrain aus einem Gedicht von Peter Rühmkorf:

Bleib erschütterbar und widersteh‘!

Liao Yiwu „Wuhan“, Übersetzt von Hans Peter Hoffmann und Brigitte Höhenrieder, Verlag: S. FISCHER, Erscheinungstermin: 26.01.2022, 352 Seiten

Hoffnung unter Panzerketten

Titel zu Erich Loests "Sommergewitter"

Loest erlebte das DDR-Zuchthaus als Gefangener. Er kannte auch die Perspektive der Mächtigen

Jahrestage, Jubiläen, Gedenkfeiern bringen selten frische Gedanken, originelle Erkenntnisse hervor, schon gar nicht, wenn sie gemütlich im Mainstream dümpelnden Journalisten anbefohlen werden. Ein kurzer Blick auf Texte zum 17. Juni 1953, zum 13. August 1961, zu den sowjetischen Militäraktionen in Ungarn 1956, in der ČSSR 1968, zur Geschichte der polnischen Werftarbeiter und der Gewerkschaft „Solidarność“ in den 70er und 80er Jahren, zum Massaker der Chinesischen Politbürokratie auf dem Tian’anmen am 4. Juni 1989 und nicht zuletzt zum Mauerfall 1989 genügt meist, mich zu überzeugen, dass ihre Lektüre so aufklärerisch und demokratiefördernd ist wie ein Pfund Toastbrot vom Discounter.

Man könnte einwenden, dass mit ärmlichen, ausgeleierten Fakten und zu nichts verpflichtenden, moralischen Worthülsen die „Chronistenpflicht“ zu erfüllen, immer noch besser sei, als solche historischen Landmarken dem Vergessen zu überlassen. Ich bezweifle das. Banalitäten und ritualisierter Wortgebrauch erzeugen Überdruss und ebensowenig Verständnis fürs historische Geschehen wie das Auswendiglernen dynastischer Erbfolgen.

Titelbild zu György Dalos "1956"

Mit 13 erlebte der Autor russische Panzer in Budapest

Das Erinnern von Zeitzeugen, ihre Ängste, ihre Verzweiflung, ihr Mut und ihre Entscheidung zum Widerstand verschwinden hinter Phrasen und medienpolitsch gleichrichtendem Geräusch. Freilich: Wenn Mitläufer erzählen, ist wenig mehr zu lernen als das Mitlaufen, das langweilt. Jugendliche werden so kaum mehr erreicht. Sie erkennen nicht, welche Verhaltensmuster damals wie heute die Herrschaft des Unrechts begünstigen, und wie sich Einzelne dagegen wehren können. Ihr eigenes Verhalten ist davon entkoppelt. In der auf Sicherheit programmierten Welt der An-Gestell-ten erlabt man sich, wohlig erschaudernd, an den Konflikten, Gewalttaten, Abenteuern, Leiden fiktiver Gestalten in komfortabler, berührungslos Distanz via Leinwand oder Bildschirm, manchmal noch auf Buchseiten.

„Es muss etwas geschehen, aber es darf nichts passieren“, ist das Losungswort der Zeit. Die Realität minimiert Risiken, lässt Abenteuer nur im umzäunten Bereich zu, verdrängt Konflikte. Viele suchen sie dort, wohin das Angebot sie lockt, also gern in bipolaren Gamer-Welten, Serien und Filmen über heilige Kriege vom Mittelalter quer durch die Neuzeit bis in eine Zukunft aus digital aufgedonnerten Mythologemen. Allgegenwärtige Bewegtbilder verhelfen schmerz- und risikolos zum erhabenen Selbstgefühl eines Helden auf der Seite des Guten. Wundert es jemanden, dass der Büchermarkt sich diesen Schemata weitgehend anpasst hat? Verkauft wird, was TV-Quote und Blockbuster nahelegen. Es sind vor allem erfahrungslose Erzählungen. Sie ersticken die Fähigkeit, sich für anderes als das Vertraute und Erwünschte zu öffnen, sie verstellen den Blick in die Geschichte.

In den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts wurde Geschichte innerhalb der kulturellen Gleichschaltung auf bizarre Weise geklittert. Die dagegen aufbegehrten, waren fast immer Einzelgänger, Verfemte, Verlachte. Nur selten gelang es ihnen, sich in Gruppen von Außenseitern zu organisieren, noch seltener konnten sie sich an die Spitze größerer Bewegungen von Unzufriedenen setzen. Den Zusammenbruch eines Systems überlebten sie meist nur, um sich ohnmächtig – bestenfalls oder auch schlimmstenfalls abgefunden – der neuen Politbürokratie und ihrer historischen Selbstbeweihräucherung in den Medien gegenüberzusehen.

Titel von Pavel Kohouts "Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel"

„Die unendliche Leichtigkeit des Seins“ machte ihn berühmt

Im Westen Sozialisierte können das kaum jenen nachempfinden, die totalitäre Gesellschaften an Leib und Seele erdulden mussten. Das wird am Umgang mit den „68ern“ überdeutlich. Die literarischen Zeugenaussagen, oft auch Meinungsäußerungen der Oppositionellen im „real exisitierenden Sozialismus“ sind mit dem Mainstream des Marktes kaum vereinbar. Er entstand mit dem Vordringen sozialistisch gestimmter Kräfte in Führungspositionen von Staat und Gesellschaft infolge der 68er Bewegung. Schlimmer noch: Politbürokaten des Westens und ihre mediale Clacque verweigern Polen, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Balten, Ostdeutschen das Verständnis für die nachwirkende Furcht, ihre Selbstbestimmung an eine „EUdSSR“ zu verlieren. Das offenbart sich am 21. August 2018, da sich der Einmarsch sowjetischer Panzer in der Tschechoslowakei, die Zerstörung der letzten Hoffnung auf Reform des Sozialismus im Herrschaftsgebiet Moskaus, zum 50sten Male jährt, wieder schmerzhaft.

Darum empfehle ich ein paar Bücher, die erzählen, ohne bequeme Distanz zuzulassen. Über Liao Yiwus Gefangenschaft nach dem Protest gegen das Massaker 1989 habe ich berichtet: „Für ein Lied und hundert Lieder“ erschien nach seiner Flucht 2011 ins Exil. Es ist so aktuell wie damals. Der Tod seines Freundes Liu Xiaobo, Friedensnobelpreisträger von 2010, infolge brutaler Gefangenschaft und die endlich mit internationaler Unterstützung gelungene Befreiung seiner Witwe Liu Xia sind beständige Mahnung, den Heils- und Harmonieversprechen kommunistischer Parteien misstrauisch zu begegnen.

Titelbild zu Immo Sennewald "Blick vom Turm"

Zwischen zwei Jahrhunderten – mit dem Blick aus einem dritten

Für mein eigenes Leben war der 21. August 1968 ein wegweisender Tag. Was dem kaum 18jähringen damals widerfuhr, floss in den ersten meiner drei Romane über deutsch-deutsche Geschichte, über die Musik der Jugend, ihre Abenteuer, Lust und Leid, Glück und Abstürze in der DDR zwischen Thüringer Wald und Berlin – und im vereinigten Deutschland ein. Der August 1968 ist 50 Jahre her – und nichts ist vergessen. Aufgeschrieben wurde vieles schon in den 80er Jahren, erscheinen konnte es erst mit dem Abstand weiterer 20 Jahre, 2008. Und das geschah auch aus der Erfahrung, dass im Westen nicht begriffen wird, wie kollektivistische Ideologien den Untergang der DDR überdauerten, und welche Gefahren mit dem bequemen Leben einhergehen, das Politbürokraten und ihre mediale Gefolgschaft versprechen.

Die Abenteuer des kleinen Gustav Horbel in der großen Stadt Berlin im August 1968, als in Prag die Panzer rollten, sind im Salier Verlag Leipzig erschienen.

Links zu den Büchern:

Lesen, Schreiben: Elixiere der Freiheit

Atemlos habe ich über 500 Seiten aufgesogen, wie im Rausch. Darf ein Rezensent das? Vielleicht bin ich gar keiner. Nicht, wenn für das Besprechen eines Buches eine „Objektivität“ verlangt wird, die akademische Gelehrsamkeit zur Voraussetzung hat. Noch weniger, wenn politische, moralische, religiöse Neutralität – wie auch immer sie definiert sei – beim Lesen gefordert wäre. Dem Autor und seinen Texten gegenüber bin ich voreingenommen. Ich habe „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ ebenso verschlungen wie „Für ein Lied und hundert Lieder“ , und „Die Wiedergeburt der Ameisen“; 2011 entstand mein Radiofeature „Für China aus dem Exil“, als Liao Yiwu seiner feindseligen Heimat China entkam. Aus der öffentlich-rechtlichen Mediathek ist es verschwunden, die Redakteurin fand seinerzeit schon Liaos Texte narzisstisch und unappetitlich, war dann vom Live-Gesang, von der Intensität des Gedichts „Massaker“ über den 4. Juni 1989 auf dem Tian’anmen, vom Alltag der Folter im chinesischen Gefängnis so perhorresziert, dass sie  mich gewähren ließ.

Was mir im Interview mit Liao Yiwu auffiel: Der Kontrast zwischen seinem zurückhaltenden und bescheidenen Auftreten und der ungeheuren Anmaßung seines Schreibens:  Er fordert die Politbürokratie Chinas heraus, die nicht nur über ein Milliardenvolk gebietet, sondern auch das Netzwerk globaler Diplomatie fast nach Belieben steuern kann. Die Ameise auf dem Rücken des Elefanten fällt mir ein, und das Heer der Ameisen, die „Würg ihn! Würg ihn!“ rufen. Das Heer sind wir: Autoren aus aller Herren Länder, ältesten und modernsten, technisch hochgerüsteten Despoten ausgeliefert, ein Heer, das Namen aus Jahrtausenden versammelt. Sie haben fast alle Schlachten verloren, noch die bedeutendsten, mutigsten mussten bisweilen zu Kreuze kriechen. Das Bild der zähen Insekten – in der Masse kaum unterscheidbar, reproduzieren sie sich in verborgenen Labyrinthen, kommen aber überall hin – dieses Bild erscheint bei Liao Yiwu öfter. Seine Ameisen haben Gesichter.

Sein neuestes Buch nimmt den Leser mit in die Labyrinthe, auf eine atemlos mäandernde Reise zwischen Peking und Chinas südwestlichen Provinzen Sichuan und Yunnan unter beständigem Verfolgungsdruck der Sicherheitsbehörden. Liao Yiwu schweift dabei immer wieder in die Tiefen der chinesischen klassischen Literatur- und Religionsgeschichte ab, sucht nach Vergleichen zu Fluchtschicksalen von Philosophen – etwa des großen Kong Fuzi – trifft auf Gefährten des Widerstandes. Mit manchen hat er den Folterknast geteilt. Manche haben sich den Zwängen und Verlockungen der Politbürokraten und ihrer „sozialistischen Marktwirtschaft“ ergeben, in der alles, auch Religionen und kulturelle Traditionen von Minderheiten, käuflich und verkäuflich ist. Die meisten überleben in Not und unter abenteuerlichen Umständen, sie saufen, fressen, spielen Versteck mit Spitzeln und Polizei – um den Preis des Lebens. Es ist eine lange Reihe von Namen, prägnanten Charakteren, erschütternden Schicksalen. Auch das von Lao Yiwus Familie gehört dazu. Seine Mutter hilft, obwohl sie die Repressionen mit erdulden muss, dem Sorgenkind immer wieder ins Gewissen redet. Es helfen schließlich viele aus dem Ausland, die seine Bücher schätzen und sie weltweit verbreiten wollen. Zwischen Hoffen und Verzweifeln erleben wir den Weg des Autors in die Freiheit, er balanciert zwischen Abgründen, und obwohl der gute Ausgang bekannt ist, bleibt das spannend bis zum letzten, erlösenden Augenblick im Sommer 2011.

Ja: Auch in dieser Fluchtgeschichte wird es oft unappetitlich, und der Vorwurf narzisstischer Selbstüberhöhung dürfte von jenen ertönen, die harmonisches Dazugehören vorziehen, radikal agierende Schmutzaufwirbler gern am Rand des Pathologischen verorten. Davon wird sich Liao Yiwu kaum beeindrucken lassen, und das ist eine Hoffnung für die Ameisen im Untergrund der „harmonischen Gesellschaft“, wie sie die KP Chinas verkündet. Der Schriftsteller ruht sich in Deutschland ebensowenig aus wie andere Exilanten. 2014 kam seine jüngste Tochter hier zur Welt, und es sieht danach aus, dass sie sein Lesen und Schreiben für die Freiheit weiter anspornt.

Brigitte Höhenrieder und Hans Peter Hoffmann haben bewundernswert übersetzt, sie erarbeiteten schon die deutsche Fassung von „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“. Ihnen sei ebenso Respekt gezollt, wie dem langjährigen Lektor Peter Sillem – seit 2017 ist er Galerist – und dem S. Fischer Verlag, der Liao Yiwu jederzeit den Rücken frei hielt.

Liao Yiwu „Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass – Meine lange Flucht aus China“

S. Fischer Verlag 2018, 528 Seiten, 26,80€

 

 

Kostbare Entfernung

2014-04-26 19.49.38Während ich am Roman “Narbenpuppe” arbeite (erfreulicherweise wird auch das zugehörige Weblog vom Deutschen Literaturarchiv Marbach dokumentiert), werde ich wie ’s unverschämtem Vorsatz geziemt “Der menschliche Kosmos” aktualisieren. Der Anfang von Kapitel 6 ist seit heute online; was dort zu Themen wie “Hate Speech” oder “Fake News” schon 2006 erörtert wurde, bedarf eher geringfügiger Ergänzungen. Dass Gerüchte, Wahnvorstellungen und Propaganda im Zusammenleben von Menschen immer wieder die Wahrnehmung dominieren und den Sinn (vielleicht sollte ich lieber “die Sinne” sagen) für die Realität zur Kapitulation zwingen, ist wahrhaftig nichts Neues. Mundpropaganda taugte für “Fake News” ebenso wie Tontafeln, Inkunabeln, die Erfindung Gutenbergs, noch besser, schneller, massenhafter die von Radio und Fernsehen. Das Internet erfüllt dagegen die von Bertolt Brecht schon in den 30er Jahren erwünschte Vision der Interaktivität: Empfänger von Informationen haben einen Rückkanal. Wir erleben, dass manche Politiker und Journalisten so etwas nicht aushalten. Mir egal.

Mit fortschreitendem Alter stellt sich mir immer dringlicher die Frage, wofür einer seine Energien einsetzen will, von welchen Arbeitsfeldern er sich besser zurückzieht, weil Aufwand – also knapper, kostbarer werdende Lebenszeit – und Nutzen – also der Gewinn an Zufriedenheit, zu dem wohl auch das Einkommen beiträgt – nicht mehr in vernünftigem Verhältnis stehen.

Im Journalismus war mein erwartbarer Gewinn an Zufriedenheit schließlich ebenso dramatisch geschrumpft wie meine Möglichkeiten, unerfreulichen Entwicklungen auf diesem Arbeitsfeld zu wehren. Die Situation war – insbesondere was das Fernsehen anlangt – jener zu vergleichen, in der ich mich seit Anfang der 80er Jahre in der DäDäÄrr befand: Mit unvertretbarem Kraftaufwand versuchte ich damals, quadratzentimeterweise auf Theaterbühnen Handlungsfreiheiten zu behaupten. Das erwies sich als sinnlos, weil immer genügend Bereitwillige verfügbar waren, mich zu verdrängen, meine Positionen zu besetzen. Der Staat konnte meine jederzeitige Ersetzbarkeit zur Erpressung nutzen, er versuchte, mich in den Mainstream des Gehorsams zu zwingen. Ich gab nicht nach, ich stieg aus. Die Nachfolger machten Karriere – einige besonders Stromlinienförmige auch nach dem Zusammenbruch der DäDäÄrr im vereinigten Deutschland; nicht nur sie verdarben mir die Lust, jemals wieder an Stadttheatern zu inszenieren. Mit wachsender Hochachtung für die oppositionellen Autoren, Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner und anderen mutigen Mitarbeiter der Theater in totalitären Staaten wuchs meine Enfernung zu den Salonrevoluzzern des Westens. Ähnliches hat Liao Yiwu in China erlebt. Das Radiofeature über ihn und seinen Roman „Für ein Lied und hundert Lieder“ zeigt, wie nahe sich der aus China und der aus der DäDäÄrr „entfernte“ sind.

Ersetzbarkeit ist das Mittel der Erpressung in allen Sozialsystemen – das war keine gänzlich neue Einsicht meiner Tätigkeit als Journalist in den vergangenen zwanzig Jahren. Diese Einsicht, ihre sozialen Hintergründe, ihre Konsequenzen flossen in mein erstes Buch „Der menschliche Kosmos“ ein: 2006 begann mit seinem Erscheinen mein Ausstieg aus dem Fernsehen. Es hat wirkliche Höhepunkte, Erfolge gegeben, die dem Funktionieren demokratischer Strukturen und dem Auftrag öffentlich-rechtlicher Anstalten alle Ehre machten.

Die Entwicklung aber macht aus Journalisten zunehmend Erfüllungsgehilfen. Quotenvermutungen bestimmen fast ausschließlich, welche Themen ins Programm kommen; statt journalistisch distanzierter Haltung beim Berichten und womöglich quer stehender eigener Meinung beim Kommentieren richten sich Stellungnahmen an minder qualifizierten Prominenten oder politisch korrekten Experten aus. Es ist egal, ob die vermeintlichen Gewissheiten von heute sich morgen als Unsinn erweisen: Hauptsache schnellstens auf der „richtigen“ Seite dabei sein, Hauptsache Quote. Und “Hauptsache Follower” ist der Ausdruck kollektivistischer Herdenimpulse in den Social Media, führt zu “Filterblasen”, die nichts anderes sind als Tribalismus, wie er sich in den Ritualen etwa der Fußballfans manifestiert. Dass die Journaille gerade hier fast ausnahmslos unkritisch ihr Geschäft macht, sagt alles.

Für mich wurde es höchste Zeit, mich aus diesem Geschäft zu verabschieden, nur noch das zu tun, was mit meiner Haltung vereinbar ist: So wenig wie der staatlich verordneten Monokultur im Osten werde ich der auf Konformismus zielenden Monokultur des Mainstreams zuarbeiten. Es gibt Wichtigeres – sogar Wichtigeres als Geld.

China verliert eine Stimme, die Welt gewinnt einen Autor

Liao Yiwu, verhaftet, gefoltert, verboten, hat sich nicht brechen lassen. Partei und Staat ließen den Dichter überwachen, bis ihm im Sommer 2011 die Flucht über Vietnam gelang. Seine verbotenen Texte werden in seine Heimat zurückkehren. Aber vorher sollten wir sie unbedingt gelesen haben.

Romantitel "Für ein Lied und hundert Lieder"

“Konterrevolution” ist der Spitzname des Dichters bei seinen Zellengenossen, die Gefängniswärter heißen “Regierung Liu” oder “Regierung Tong”. Diese amtlich ermächtigten Sadisten mit ihren Elektroknüppeln lassen den wegen seiner Proteste gegen das Massaker auf dem “Platz des Himmlischen Friedens” eingesperrten Liao Yiwu deutlich spüren, dass ihnen ein politischer Gefangener gerade so wenig bedeutet wie ein Krimineller, wenn sie ihre Lust an der Demütigung Gefangener ausleben. Tagelang werden die Hände von Inhaftierten auf den Rücken gebunden, so dass sie beim Essen und Stuhlgang auf andere angewiesen sind, zwei Zellengenossen werden aneinander gefesselt, gegenseitigem Hass und Drangsalen des Überlebens in einer Rotte von Todeskandidaten, Mördern, Dieben, Vergewaltigern ausgeliefert. Zwischen Körperdünsten, Exkrementen, Schmutz, Läusen wird jede Privatheit zerstört, eine Hierarchie der Verbrecher bildet sich und nimmt den Wärtern die Arbeit ab. Nur wenn die Prügel- und Foltergeräusche im staatlichen Vollzug allzu auffällig werden, greifen sie mit dem Elektroknüppel ein.

Es gibt eine “Speisekarte” der Folterpraxis von Häftlingen untereinander, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt: “Bärentatzen-Tofu” und “beidseitig in Öl bräunen” etwa, also heftige und anhaltende Schläge mit der flachen Hand auf Brust und Rücken können tödlich sein; “Rachengeschnetzeltes, weich” bedeutet das Einschlagen des Kehlkopfs mit der Handkante. Liao Yiwu überlebt, weil er sich nach Kräften wehrt, prügelt, seinen Starrsinn mit wochenlangen Fesselungen büßt, er ist dem Selbstmord nah, aber er gewinnt auch den Respekt der anderen Strafgefangenen, und selbst in dieser Hölle gibt es Momente der Menschlichkeit, der Hilfsbereitschaft. Es gibt sogar eine eigene Art von Humor in Todesnähe, auf dem Höhepunkt inszenieren die Häftlinge eine Totenfeier für einen der Ihren als Staatsakt nach dem Vorbild der Bestattung von Mao Zedong.

Schlimmer noch als die Brutalitäten im Knast sind sadistische Schreibtischtäter. Der Politkommissar Huang brüstet sich im Vollgefühl seiner von Staat und Partei übertragenen Macht über einen Häftling in der Isolation: “Die ersten beiden Jahre bin ich noch zu ihm in seine Höhle hinabgestiegen, er war bockig und hat keinen Ton gesagt, aber als der dritte Frühling vor der Tür stand, ist er auf allen vieren herumgekrochen, hat Kotau gemacht und um Vergebung gefleht. Der Kerl war fünf Jahre und sieben Monate in diesem Loch, er war ein lebendiges Gespenst und auf beiden Augen blind. Am Ende ergriff er die Gelegenheit, klammerte sich durch das Gitter an meine Beine und hat nicht mehr losgelassen. Aus humanitären Gründen habe ich ihm dann erlaubt, von den Toten aufzuerstehen und in das Licht der Sonne zurückzukehren.”

Die Lust daran, den Stolz, die Selbständigkeit, die Fähigkeit zum Widerstand zu brechen geht mit der Macht in hierarchischen Systemen einher – wer sich davon überzeugen möchte, muss auch hierzulande nicht lange suchen. Aber es gehört leider zum perfekt funktionierenden Verdrängungsgeschehen des Einzelnen wie der Gesellschaft, Opfern gewaltsamer Übergriffe eine Mitschuld zuzurechnen. Deshalb war Liao Yiwu im wirtschaftlich hemmungslos wachsenden China sehr einsam. Und deshalb wird auch hierzulande die Rettung der deutschen Wirtschaftsinteressen für Politik, Medien und eine selbstgefällig über deutsche Probleme schwadronierende Tischgesellschaft im Chinarestaurant wichtiger sein, als was den Deutschen eigentlich jeden Tag in den Ohren klingen müsste: Die Würde des Menschen ist unteilbar. Demokratie wird hierzulande nicht dauern, wenn wir den Preis ignorieren, der anderenorts auf dieser Welt für unseren Wohlstand gezahlt wird.

Das Radiofeature über Liao Yiwu und sein Buch ist zum Hören und Download auf SWR 2 bereit.

Liao Yiwu “Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen” Übersetzt von Hans Peter Hoffmann, S.Fischer Verlag, Hardcover 580 Seiten, 24,95 €