Wir sind die Guten und bringen euch um

Exécution de Marie-Antoinette, Musée de la Révolution française - Vizille
Jubelnde Menschenmenge bei der Enthauptung von Marie Antoinette (Musée de la Révolution française [CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)%5D)

„Der menschliche Kosmos“ – das verlangt der tolldreiste Titel – ist „Work in Progress“. Das Weblog gibt Leseproben dazu. Hier Teil 2 des Vorworts. Teil 1 unterm Link

Die Frage nach dem Überleben der Menschheit ist – spätestens seit dem nuklearen Gleichgewicht des Schreckens – die Frage nach einem Umgang mit Konflikten, der Gewalt begrenzt.
Wie soll das gehen?
Natürlich lässt sich eine Elementarstrategie, wie die Gewalt es ist, nicht einfach abschaffen. Sie hat zum Überleben der Gattung beigetragen wie die Paarung zur Fortpflanzung. Menschen erleben andauernd, welches Glücksgefühl entsteht, wenn ein „Befreiungsschlag“ gelingt, wenn Fesseln gesprengt werden, wenn das Übermächtige und Bedrohliche zu Boden stürzt und zerschmettert werden kann – wie Hitlers Führerbunker und der Stacheldraht um die Arbeitslager Stalins, wie die Berliner Mauer, wie der israelische Panzer oder der Taliban- Bunker, der in die Luft fliegt, wie der Kinderschänder, der einer rächenden Meute in die Hände fällt. Gewalt macht Lust, wenn sie „das Böse“ austilgt, und dieser Lust überlassen sich tagtäglich, zu jeder Stunde und Minute, in jedem Augenblick Millionen Menschen im Fernsehen, im Kino, im Theater, im Stadion oder im Panzer, mit der Steinschleuder in der Hand, im Düsenjäger, mit dem Messer oder der Maschinenpistole – oder im Bordell bei einer Minderjährigen. Oder auch mit dem Federhalter überm Papier, dem Mikrofon vor der Nase, der Kamera auf der Schulter, dem Text- und Bildverarbeitungsprogramm oder dem 3-dimensional animierten Killerspiel auf dem Monitor. GEWALT MACHT LUST.
„Das Böse“ sind immer die anderen.
„Gewalt Macht Lust“ – das ist ein Dreigestirn von fast ebenso metaphysischer Dimension wie „Glaube Liebe Hoffnung“. Aber mit der Moral und Metaphysik von Gut und Böse kommt man ihm ebenso wenig bei, wie mit dem Schraubenzieher des mechanischen Zeitalters, das den Menschen als vernunftbegabtes Tier und den Kosmos als Räderwerk von unablässig aufeinander folgenden Ursachen und Wirkungen ansieht.
Gewalt ist weder gut noch böse, dazu macht sie nur und ausschließlich unsere Wahrnehmung. Ebenso wenig ist sie „gerecht“ oder „ungerecht“ – dazu macht sie ausschließlich die Wahrnehmung und Interpretation ihrer Opfer oder Nutznießer.
Eines aber ist Gewalt ganz sicher: sie ist immer an ein Ziel gebunden, sie ist eine Elementarstrategie zur Erlangung eines Ziels. Das Ziel kann sein, zu vermeiden, dass ein anderer sein Ziel erreicht.

Wer dem Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt entkommen will, muss vor allem aufhören, zwischen „böser“ und „guter“, „gerechter“ und „ungerechter“ Gewalt zu unterscheiden. Er muss aufhören, nach vermeintlich rechtfertigenden Ursachen zu fragen und stattdessen die ZIELE der Handelnden erkunden.

Der Einzelne – wie das als Subjekt handelnde Kollektiv – muss imstande sein, die Perspektive zu wechseln.

Das Bild des Menschen von sich und seiner Umwelt wandelt sich fortwährend, selten freiwillig. Sigmund Freud und manche gegenwärtigen Autoren sehen etwa in der „Kopernikanischen Wende“, in Darwins Evolutionslehre, in Freuds Psychoanalyse „Kränkungen der Menschheit“. Neue Kränkung sei von der Künstlichen Intelligenz zu erwarten. Kränkung oder nicht: Seit je offenbaren Vorstellungen vom Menschen vor allem erstaunliche, bisweilen erschreckende Redundanz, selten dagegen neue Farben und Konturen. Beachtliche Beiträge lieferten etwa der amerikanische Philosoph Alva Noë mit seinem Buch „Du bist nicht Dein Gehirn“1 – zu einer „radikalen Philosophie des Bewusstseins“ und Rüdiger Safranski mit „Das Böse oder Das Drama der Freiheit“2.

Fortsetzung


1  Alva Noë „Du bist nicht Dein Gehirn“ Piper Verlag, 2010

2 Rüdiger Safranski S. Fischer Verlage 2003 „Das Böse oder Das Drama der Freiheit“

Größen und Werte

Frühling in Baden-BadenHätte ich mir träumen lassen, was für aberwitzige Zeitsprünge ich in diesen Tagen erlebe? Da schiebt sich aus der Vierteljahrhundert-Perspektive zusammen, was zusammengehört: Ich werde aus der DäDäÄrr freigelassen, fliege und tanze durch einen März 1989, der genauso sonnig, trocken und blütengesäumt ist wie der in diesem Jahr. Ich bin im Glück, und auf dem Tian’anmen-Platz stehen hoffnungsvolle Menschen gegen die KPCh-Diktatur auf wie heuer auf dem Majdan gegen die Macht von Oligarchen und ihren Marionetten. Die Propaganda der letzten größten Führer aller Zeiten macht aus Demonstranten Staatsfeinde, Nazis, Terroristen, kriminelle Gewalttäter, Anarchisten, auf dass sie zusammengeschossen, verstümmelt, in Gefängnisse, Lager, Folterkeller verschleppt, ihre Familien bedroht und erpresst werden können. Bestenfalls entkommen die Gedemütigten in den Westen – wie ich vor 25 Jahren. Dort kreischen oder gackern – je nach Zielpublikum, jedenfalls fern der Gefahr – Massenmedien; sie haben die Führer so fest im Blick wie die Bilanzen: in tyrranos! Und jede Menge Mitleid für die Opfer, möglichst unverbindlich.

Ja, es bekommt den Massen gut, ein wenig Mitleid zeigen und die eigene Führung als kleineres Übel erleben zu dürfen. Das fällt um so leichter, als eben jene Medien ihre Politiker gewohnheitsmäßig zu Pappkameraden stilisieren: Knallchargen für die TV-Unterhaltung. Nichts lässt die Kassen besser klingeln, als wenn ihr Aufstieg und Fall in raschem Wechsel zu begackern ist: Zwergenwerfen als Volkssport. Das freilich gefällt auch den größten Führern aller Zeiten. Sie nehmen die freien Medien der Freien Welt entsprechend ernst.

Die Entkommenen reiben sich die Augen: Je kraftvoller die Beschimpfungen aus den Redaktionsstuben erschallen, umso schneller verrauschen sie in der nächsten aufbrandenden Welle: einem Olympiakandidaten ist ein Unfall widerfahren, knapp vor den Spielen im Lande eines der größten Führer! Das Volk der Nationaltrainer zittert. Ein Volksheld hat Steuern hinterzogen, eine Diva war untreu, wird plötzlich furchtbar fett oder furchtbar mager, oder entdeckt ihr tiefes Verständnis für kraftvolle Männer an der Spitze der Politik: In Diktaturen wird schneller entschieden, gehandelt, gesiegt. Wer braucht Verlierer?

Keiner. In dieser Welt ist jeder zum Erfolg verurteilt, und dieser Erfolg muss messbar sein. In Zahlen, Quoten, Bilanzen. Hier nun beginnen die wirklich ernsten Zweifel: Mit welchem Maß messen jene, die möglichst große Mehrheiten als Erfolg bejubeln, die andererseits breite Spektren von Meinungen und politischen Formen, also mühsame Dispute als lästigen Auswuchs der Demokratie ansehen? Die dem Mainstream huldigen und eigentlich ganz froh sind, in den Ländern mit größten Führern aller Zeiten Geschäfte machen zu können, weil dort schnell entschieden, gehandelt, verwertet wird?

Größe imponiert. Und in den Weltreichen des vollkommenen Quantifizierens und Verwertens von allem und jedem in Geldform, wo die Masse ihre Bedürfnisse und Wünsche am Geld ausrichtet, wo über Armut und Reichtum amtliche Zahlen und Statistiken entscheiden, wird niemand mehr seine Rechnungen ohne die Gröfaz-Wirtschaften machen wollen. Das ist gut, weil erfahrungsgemäß eine florierende Wirtschaft auch Diktaturen ein Minimum an Liberalität und rechtlichen Regeln abverlangt, sogar Formen der Demokratie. Der Wohlstand in China hat ein Vierteljahrhundert nach dem Massaker vom Tian An Men Sprünge gemacht, es gibt eine zufriedene Mittelschicht. Träumt noch jemand, was die Demonstranten träumten? Wovon träumen jene, die heute den Ruf Russlands, die Unabhängigkeit und Kultur ihrer Heimat zwischen Kamtschatka und der Krim gegen Oligarchen und Putinismus verteidigen? Ihre Träume sind zu groß. Wenn sie in den Westen entkommen, versteht sie fast niemand.

Es ist in den Weltgegenden des quantifizierten Wohlstandes wenig Platz für alles, was sich nicht in konvertibler Währung, nicht als Marktwert beziffern lässt. Menschliche Größe dürfen Verlierer zeigen. Wir klopfen ihnen medial auf die Schultern und haben Mitleid – Sprüche und Spenden. So hält man sie sich vom Hals.