Studieren hinter Mauern

* Vorlage_Broschur.inddDer studierwilligen Jugend sei dieses Buch ans Herz gelegt – und allen die hierzulande Hochschulpolitik machen. Rainer Jork und Günter Knoblauch haben einen enormen Schatz an Erfahrung von Zeitzeugen aus dem Alltag der sozialistischen Diktatur zusammengetragen, der zweierlei offenlegt: Neugier und Freude an selbständiger Arbeit sind mit bevormundenden und doktrinären Bildungssystemen kaum vereinbar – und andererseits lassen sich solche Systeme nur mit lebensfeindlichen, die Freiheit von Wissenschaft und Kunst erstickenden Maßnahmen aufrechterhalten, daran scheitern sie schließlich.

Um das zu zeigen, bedarf es keiner Polemik. Die Selbstauskünfte von Forschern, Ingenieuren, Lehrern, Künstlern aus vier Jahrzehnten des “Arbeiter- und Bauern-Staates“ beweisen es; sie lesen sich obendrein spannender als jeder Krimi. Fast alle Erzähler wehrten sich einfallsreich – mit Intelligenz, Improvisation, Hilfsbereitschaft, mit bisweilen an den “braven Soldaten Schwejk” erinnerndem Witz – dagegen, sich von der SED, ihrer Stasi und ihren “Massenorganisationen” vereinnahmen zu lassen, immer von Exmatrikulation, gar Haft bedroht. Andere lernten nur, unauffällig durchzurutschen: Das Bild der Verhaltensmuster enthält zahllose Schattierungen von Grau – und einige Glanzlichter.

Vor allem die Älteren mit Studienbeginn in den 50er und 60er Jahren an der Dresdner TH/TU blicken auf Biographien zurück, die kurz angerissen, doch eindrucksvoll sind. Nach politischer Verfolgung verließen manche die DDR, einige erduldeten zuvor Stasi-Knast, alle haben den Wert von Meinungsfreiheit, freier Lehre, Forschung und Kunst durch spätere berufliche Leistungen bestätigt. Wer blieb, lebte mit Konflikten, wurde benachteiligt, tat sein Bestes in Familie und Beruf, engagierte sich in der Zeit des Umbruchs und der deutschen Vereinigung. Die Rückschau ist ohne Wehleidigkeit und Zorn. Ich habe das mit Respekt gelesen, erinnerte mich vergnügt meines eigenen Physikstudiums, der (gern geschwänzten) Vorlesungen und Seminare in „Gesellschaftswissenschaften“, kurz „GeWi“, also marxistisch-leninistischer Selbstbeweihräucherung. Sich zur Wehr zu setzen war abenteuerlich, voller tragischer und komischer Wendungen – so entstand mein Roman „Babels Berg“. „Zwischen Humor und Repression“ taugte als Stoffsammlung für etliche weitere.

Künstlerische, pädagogische Fächer und andere Hochschulorte (Leipzig, Weimar, Halle, Erfurt, Berlin, Karl-Marx-Stadt) kommen mit den Matrikeln der 70er und 80er Jahre zusätzlich in den Blick, nach den Einschnitten des Mauerbaus und des niedergeschlagenen Prager Frühlings verschärfte sich die wirtschaftliche Lage der DDR, die Stasi dehnte Überwachung und Repression aus. Das Studentenleben erzeugte trotzdem widerständige Unterströmungen. Es entstanden “Soziotope des Ungehorsams”. Die Ausweisung Wolf Biermanns 1976 polarisierte zusätzlich, der Staat reagierte paranoid mit noch mehr ideologischem Druck, noch mehr Verpflichtungen auf Wehrdienst und möglichst 100% Zustimmung bei Wahlen; die Stasi setzte noch mehr „Inoffizielle Mitarbeiter“ (IM), subtilere Methoden bei Verhören und zersetzende Maßnahmen gegen „feindlich-negative Subjekte“ ein, infiltrierte das Leben bis in letzte, private Winkel. Wer „Leitungsfunktionen“ hatte, konnte nur mit persönlichem Risiko manchen Schüler oder Studenten vor Relegation bewahren. Dass es Lehrer und Vorgesetzte gab, die es wagten, gehört zu den positiven Erinnerungen damaliger Studenten ebenso, wie deren fachliche Qualifikation. Die Berichte sind akribisch mit Anmerkungen, Kommentaren zur Zeitgeschichte, Originaldokumenten, didaktischen Hinweisen und Angaben zur Entstehungsgeschichte ergänzt: Der Anhang bietet noch einmal interessanten, bis in die Aktualität führenden Lesestoff.

Keine Demokratie ist gegen totalitäre Strebungen immun – das liegt in ihrem Wesen. Zum Kern gehören Meinungs- und Informationsfreiheit. Die Herausgeber ermutigen zu fragen: Dürfen Schüler und Studenten sich kritisch äußern, ohne mit Gruppendruck, moralischer Erpressung, Verleumdung und Denunziation rechnen zu müssen? Werden konflikthaltige Fragen übergangen, gar erstickt? Konfliktkultur ist, darüber belehrt der Blick in die klassischen wie die “sozialen” Medien täglich, hierzulande weithin terra incognita. Noch jede Partei, Regierung,  Korporation ist in Versuchung, ihr genehme Ansichten mit allem verfügbaren Druck in der Gesellschaft zu verbreiten – sei es fürsorglich bis zur Bevormundung der Wähler oder womöglich unter Bruch des Grundgesetzes gegen oppositionell Eingestellte. Wissenschaft, Kunst, Forschung und Lehre sind dem Grundgesetz desto enger verpflichtet: Es schützt die Rechte des Einzelnen, nicht die von Körperschaften und Ideologien. Menschen mit letzten Wahrheiten zu indoktrinieren – gleich ob Religion oder sonstige Heilslehre – widerspricht diesem Auftrag. Umso erfreulicher und wichtiger ist das Erscheinen dieses Buches.

„Zwischen Humor und Repression – Studieren in der DDR“, Mitteldeutscher Verlag Halle 2017, 548 Seiten, 19,95 €

Kostbare Entfernung

2014-04-26 19.49.38Während ich am Roman “Narbenpuppe” arbeite (erfreulicherweise wird auch das zugehörige Weblog vom Deutschen Literaturarchiv Marbach dokumentiert), werde ich wie ’s unverschämtem Vorsatz geziemt “Der menschliche Kosmos” aktualisieren. Der Anfang von Kapitel 6 ist seit heute online; was dort zu Themen wie “Hate Speech” oder “Fake News” schon 2006 erörtert wurde, bedarf eher geringfügiger Ergänzungen. Dass Gerüchte, Wahnvorstellungen und Propaganda im Zusammenleben von Menschen immer wieder die Wahrnehmung dominieren und den Sinn (vielleicht sollte ich lieber “die Sinne” sagen) für die Realität zur Kapitulation zwingen, ist wahrhaftig nichts Neues. Mundpropaganda taugte für “Fake News” ebenso wie Tontafeln, Inkunabeln, die Erfindung Gutenbergs, noch besser, schneller, massenhafter die von Radio und Fernsehen. Das Internet erfüllt dagegen die von Bertolt Brecht schon in den 30er Jahren erwünschte Vision der Interaktivität: Empfänger von Informationen haben einen Rückkanal. Wir erleben, dass manche Politiker und Journalisten so etwas nicht aushalten. Mir egal.

Mit fortschreitendem Alter stellt sich mir immer dringlicher die Frage, wofür einer seine Energien einsetzen will, von welchen Arbeitsfeldern er sich besser zurückzieht, weil Aufwand – also knapper, kostbarer werdende Lebenszeit – und Nutzen – also der Gewinn an Zufriedenheit, zu dem wohl auch das Einkommen beiträgt – nicht mehr in vernünftigem Verhältnis stehen.

Im Journalismus war mein erwartbarer Gewinn an Zufriedenheit schließlich ebenso dramatisch geschrumpft wie meine Möglichkeiten, unerfreulichen Entwicklungen auf diesem Arbeitsfeld zu wehren. Die Situation war – insbesondere was das Fernsehen anlangt – jener zu vergleichen, in der ich mich seit Anfang der 80er Jahre in der DäDäÄrr befand: Mit unvertretbarem Kraftaufwand versuchte ich damals, quadratzentimeterweise auf Theaterbühnen Handlungsfreiheiten zu behaupten. Das erwies sich als sinnlos, weil immer genügend Bereitwillige verfügbar waren, mich zu verdrängen, meine Positionen zu besetzen. Der Staat konnte meine jederzeitige Ersetzbarkeit zur Erpressung nutzen, er versuchte, mich in den Mainstream des Gehorsams zu zwingen. Ich gab nicht nach, ich stieg aus. Die Nachfolger machten Karriere – einige besonders Stromlinienförmige auch nach dem Zusammenbruch der DäDäÄrr im vereinigten Deutschland; nicht nur sie verdarben mir die Lust, jemals wieder an Stadttheatern zu inszenieren. Mit wachsender Hochachtung für die oppositionellen Autoren, Regisseure, Schauspieler, Bühnenbildner und anderen mutigen Mitarbeiter der Theater in totalitären Staaten wuchs meine Enfernung zu den Salonrevoluzzern des Westens. Ähnliches hat Liao Yiwu in China erlebt. Das Radiofeature über ihn und seinen Roman „Für ein Lied und hundert Lieder“ zeigt, wie nahe sich der aus China und der aus der DäDäÄrr „entfernte“ sind.

Ersetzbarkeit ist das Mittel der Erpressung in allen Sozialsystemen – das war keine gänzlich neue Einsicht meiner Tätigkeit als Journalist in den vergangenen zwanzig Jahren. Diese Einsicht, ihre sozialen Hintergründe, ihre Konsequenzen flossen in mein erstes Buch „Der menschliche Kosmos“ ein: 2006 begann mit seinem Erscheinen mein Ausstieg aus dem Fernsehen. Es hat wirkliche Höhepunkte, Erfolge gegeben, die dem Funktionieren demokratischer Strukturen und dem Auftrag öffentlich-rechtlicher Anstalten alle Ehre machten.

Die Entwicklung aber macht aus Journalisten zunehmend Erfüllungsgehilfen. Quotenvermutungen bestimmen fast ausschließlich, welche Themen ins Programm kommen; statt journalistisch distanzierter Haltung beim Berichten und womöglich quer stehender eigener Meinung beim Kommentieren richten sich Stellungnahmen an minder qualifizierten Prominenten oder politisch korrekten Experten aus. Es ist egal, ob die vermeintlichen Gewissheiten von heute sich morgen als Unsinn erweisen: Hauptsache schnellstens auf der „richtigen“ Seite dabei sein, Hauptsache Quote. Und “Hauptsache Follower” ist der Ausdruck kollektivistischer Herdenimpulse in den Social Media, führt zu “Filterblasen”, die nichts anderes sind als Tribalismus, wie er sich in den Ritualen etwa der Fußballfans manifestiert. Dass die Journaille gerade hier fast ausnahmslos unkritisch ihr Geschäft macht, sagt alles.

Für mich wurde es höchste Zeit, mich aus diesem Geschäft zu verabschieden, nur noch das zu tun, was mit meiner Haltung vereinbar ist: So wenig wie der staatlich verordneten Monokultur im Osten werde ich der auf Konformismus zielenden Monokultur des Mainstreams zuarbeiten. Es gibt Wichtigeres – sogar Wichtigeres als Geld.

Kernkraft Wellness Punk – eine deutsche Komödie (I)

tellerVon Rekorden schwingender und fliegender Teller und weshalb der Westen den Untergang des Sozialismus noch vor sich hat.

Zeit und Ort: Zwischen 1989 in Berlin, in den USA zur Jahrtausendwende und in Deutschland heute


1

Musik (Punk)

Marion: (Vor einem Foto, das sie als Punkerin mit 18 zeigt, leichthin) Für Sie hab ich das vorgekramt, das Foto und dieses Ding (zeigt einen großen Porzellanteller, lacht.)

Wie waren Sie damals, Ende der 80er Jahre? Und wo? Ost, West? Ihre Welt: russisch, … ääähh sowjetisch, kommunistisch unterworfen oder frei dank Amerika seit über vierzig Jahren? Oder waren Sie einfach nur Bundesbürger – jenseits von Gut und Böse? Wussten Sie schon, was wird? (lacht) Ich bin jetzt … die Endform von erwachsen, längst aus den Kinderschuhen. Kinderkrankheiten – alle überstanden, die Hörner abgestoßen, lange her. Nichts wächst sich mehr aus, schief bleibt schief, Träume eingekeilt in Wirklichkeit, Erinnerung zurechtgebogen, nichts wird mehr, wie’s war – aber wie war’s?

Komisch – was niemals altert, sind doch Träume. Mädchenträume … so fing meiner an: (Sie stellt den Teller auf den Rand, dreht ihn mit kräftigem Schwung, so dass er kreiselt, das Geräusch wird immer lauter, während sie abgeht, dabei wird aus dem Foto die echte Punkerin Marion, die hin und her über die Bühne hetzt. Aus dem Hintergrund brüllt Lehrer Beitler)

Lehrer Beitler Bleiben Sie stehen! Halt! Stehenbleiben, Sie kommen doch nicht weg!

Anton (steht plötzlich vor Marion, hält sie auf) Was ist denn los?

Marion Punk O Scheiße. Idiot, lass mich los!

Lehrer Beitler Halten Sie sie fest! Das ist ein Vorkommnis mit Folgen, Grosse, Marion! Dacht ich’s doch! Danke, Anton, gut gemacht, man sieht doch gleich, was ein Genosse ist.

Anton Ich bin nur Kandidat.

Lehrer Beitler Klassenbewusst, diszipliniert, wie’s einem künftigen Wissenschaftler ansteht, nehmen sie sich ein Beispiel, Grosse, das heißt: sowieso egal, Ihr Abitur können Sie sich (beginnt zu lachen) buchstäblich abschminken, na, davon wenigstens versteh ’n Sie was, von Schminke. Ich sehe Sie um eins dann beim Direktor. (ab)

Anton Tut mir leid.

Marion Punk Wieso? Du bist doch gleich eins rauf mit Mappe, Streber. Fühlt sich gut an, nicht?

Anton Was du da grad gemacht hast …

Marion Punk … das Vorkommnis: Sabotage, vorsätzlich den Unterricht gestört …

Anton war toll! Der Teller wollte gar nicht aufhören zu tanzen. (hebt den Teller auf) Ich hab sowas noch nie gesehen. Und gehört. Eigentlich habe ich dich gesucht, weil …

Marion Punk (lacht) Möchtest du nochmal? Kommt sowieso nicht mehr drauf an.(sie dreht den Teller ein zweites Mal. Ehe er lärmen kann, fängt Anton ihn ab)

Marion Punk Und nun?

Anton Ich habe dich gesucht, weil ich dich fragen wollte: Würdest du mit mir zum Abiball kommen?

Marion Punk (lacht) Was fürn Angebot, na schön, komm du mit mir heut Abend an den See, dann kannst du meiner Clique mal zeigen, wie toll du meine Tellerdrehung findest. Und deinen Einstand geben, der mein Ausstand wird von dieser Schule: „Freundschaft!“ liebe Freunde, macht euern Sozialismus ohne mich! (Black, Musik)

2

(Spot)

Marion Mein See, Kies-See, ich darin als Nixe und kiese mir den Streber für mein Herz. Ach Anton! (lacht) Er hat wirklich den Direktor bequatscht, mir noch ’ne Chance zu geben, macht aus dem Teller ein Experiment, hängt gleich ’ne Hausarbeit dran: Physik, das wirklich Letzte von letzter Chance! Wie war ich verliebt – und eifersüchtig! (Die Bühne wird von einem Lagerfeuer erleuchtet, darum sitzt die Punkerclique. Musik aus einem Kassettenrekorder) So lange her, so kurz die Zeit. Die Kinder groß geworden, unsere, fahren in der Welt herum. Wir auf Mopeds damals durch den Osten. Ziellos zerstreut unterm Diktat der fremden Ziele, voll Sehnsucht aufeinander zu, erschrocken voneinander weg, wenn wir’s nur spürten: der – ein Spitzel auch, will alles wissen, horch und guck und Lug und Trug. Wissen stank nach dem Mief der Macht, Träumen war Halt, Freiheit ein glühender Schmerz vor tausend Zäunen. (geht ab, während die Musik lauter, die Bühne hell wird, Anton und Marion Punk, abgeschminkt und mit „zivilisierter“ Frisur treten auf)

Marion Punk Hey Jungs, das Bier schon warm?

Basti Wie siehst du aus? Wo sind die Würste, und was für ‘n Würstchen schleppst du an?

Anton Ich bin Anton, hätte zwei Granaten anzubieten.

Basti Hey, echter Whisky. Stasi oder Westler?

Marion Punk Er ist okay, Basti, hält mir Ärger vom Hals. Musste mich leider etwas entschärfen, sonst kein Abi.

Tina Wegen dem Typ da machst du dich zur Tussi?

Basti Trink ein Bier, Genosse, auf die Freundschaft.

Tina Und den Abschied, weil’s einer wird, nicht nur von der Schule diesen Sommer, vom See auch. Er wird eingezäunt. Nur das Strandbad bleibt. Gegen Eintritt.

Marion Punk Woher weißt du…

Tina Ordnung, Sicherheit und Disziplin, Genossen! Die sozialistische Datschenbewegung braucht Platz, da müssen schon mal ein paar Hektar Wildwuchs weg. Und Basti zieh‘n sie ein. Er geht drei Jahre zur Asche.

Marion Punk Bist du bekloppt?

Basti Fürs Studium. Mit meinen Noten krieg ich den Studienplatz nur nach drei Jahren Fahne. Prost!

Marion Punk Auf die Anpassung. Danke, Anton, dass du mir hilfst mich anzupassen. Los, braten wir die Würste. Das Feuer braucht Nachschub. Jungs, schafft Holz, sonst kriegt ihr nix zu futtern. (Anton, Basti, 2 Punker ab)

Tina Du hast ein Schwein.

Marion Punk Wegen Anton? Du bist nicht eifersüchtig auf die Speiche – oder? Du hast Basti, den Muskelmann. Dazu den Basti Senior mit Gemüseladen (lacht) aus Ostkohl und Südfrucht wird Westauto.

Tina Nicht komisch. Basti ist längst abgemeldet und ich bin schwanger von ‘nem Italiener.

Marion Punk Du bist …

Tina Genau. Mit Basti schlaf ich schon ein halbes Jahr nicht mehr. Nur Show. Mein Vater bringt mich um.

Marion Punk Wegen der Schwangerschaft?

Tina Wegen dem Italiener. Kanake, Westler, Klassenfeind: ‚Ich kann nicht glauben, dass du uns das antust, unser Vertrauen gröblichst hintergehst!‘ Gröblichst! So redet der. Und schlägt.

Marion Punk Dann schlag zurück. Hau ihm den Schädel ein. Oder was willst du?

Tina Na was schon, Klinik. Nächste Woche. Haste mal ’ne Lulle? (Sie rauchen)

Marion Tina, die Superbraut treibt ab. Kein Land in Sicht, wo die Zitronen blühn.

(Hermann kommt)

Marion Punk Was willst du hier?

Hermann Ich hätte ein paar Fragen. An dich. Nicht im Beisein dieser jungen Dame. Lassen Sie uns allein?

Marion Punk Tina bleib, der Typ hat nichts zu sagen. (Sie dreht den Punk lauter, singt) Hermann, mein roter Bruder schleicht nächtens um den See. Ist dir zu kalt in Moskau, Held der SED? Oder schickt Gorbatschow dich heim? Darauf mach ich mir einen Reim, Der deutsche Musterschüler wird zum Keim … (Geräusch von brechendem und splitterndem Holz, Gejohle der jungen Männer, die Bauholz heranschleppen, ins Feuer werfen).

Hermann Du solltest wenigstens ab und zu an die Familie denken. Deine Mutter ist…

Marion Punk Meine Mutter schuftet sich in der Klinik ab, den Haushalt besorge ich, okay? Und was ich mit meiner Freizeit mache, geht dich gar nichts an.

Hermann Du treibst dich rum, das sehe ich. Schule hört man, ist dir ein Ort zu provozieren, statt dankbar zu sein für Bildung, die du dem Staat verdankst.

Marion Punk Bildung zum Nicken. Mitmach-Training. (Sie ahmt Honeckers Fistelstimme nach) ‚Meine Liebe, meine Treue dem soschelschischen Vatrland!‘ Freundschaft! von Honis Gnaden. Wo nichtmal mehr die ‚Freunde‘ unverdächtig sind, Gorbatschow geht als Gespenst in Osteuropa um, während die ‚Brudervölker‘ Polen, Ungarn euch den Hintern zeigen, soll ich Margots Parolen wiederkäuen, Honi sei Dank, ich glaub mein Schwein pfeift.

Hermann Halt den Mund! Das muss ich mir nicht anhörn. Feindlich-negativ die Einstellung, das zeigst du dreist vor diesen Leuten. Du machst uns Schande, mir und Deiner Mutter.

Marion Punk Lass gut sein, roter Bruder. Deine Karriere ist mir scheißegal.

Hermann Das hat ein Nachspiel. (ab)

Marion Punk Du feiges Bonzenschwein.

Basti Ärger? Soll ich ihm hinterher?

Marion Punk Bloß nicht.

Anton Wer war das?

Marion Punk Mein idiotischer roter Stiefbruder, demnächst Diplomat in Diensten der DäDäRÄäää nach erfolgreichem Studium w unwersisitetje imjeni Lomonossowa.

Tina Nette Familie. Was ist mit Whisky? Los, saufen wir auf unsere tolle Zukunft! Auf den Punk! (alle trinken)

Marion Punk Als in Peking Panzer über Studenten walzten, hat Hermann applaudiert. Ein treuer Fan von Egon Krenz „Hoch die internationale Solidarität! Hoch die internationale …“ (alle außer Anton stimmen in den sarkastischen Sprechchor ein)

Anton Sie machen wirklich alles kaputt. Sogar die Physik.

Tina Hoppla Marion, was hat dein neuer Freund?

Anton Ich meine ja nur. Solidarität ist doch eigentlich gut. Die Naturkräfte … sind doch zum Guten da, nicht für Atomraketen. Und … ach, Scheißpolitik. Trinken wir.

Punker 3 Atomkraft ist überhaupt Scheiße, siehst du doch an Tschernobyl.

Tina Keiner will das Zeug mehr. Macht kaputt, was euch kaputt macht! Scheiß auf Kernkraftwerke! Macht kaputt, was euch kaputtmacht! (wieder nehmen alle den Rhythmus auf, skandieren, brechen Holz, werfen es ins Feuer)

Marion Punk Na los, Anton, was ist, mach mit und fang die Scheibe. Hier geht der Punk ab! (Musik wird extrem laut, alle grölen, singen durcheinander, spielen Frisbee mit Plastiktellern. Von fern ist ein Martinshorn zu hören, kommt näher)

Basti Scheiße die Bullen, nichts wie weg!

(Blaulichter, Suchscheinwerfer, Rufe „Halt, stehenbleiben, Volkspolizei!“, hektisches Gerenne der Punks gegen Zäune, Teller fliegen, in einer Slapstickszene entwischen alle nach und nach, nur Anton und Marion werden festgenommen, das geschieht mit brutaler Härte. Black oder Tableau.)

 

Schöne Einsamkeit

Fiddler_crabWas tut einer wie ich, abends spät noch vorm Rechner sitzend, müde vom Rauschen der für Quoten und Kommerz kanalisierten Informationen und Meinungen? Er sinnt über Zukünftiges nach, er ist froh, dass die Aufregungen, Empörungen, Begierden aufbrandender Medienwogen im geduldigen Sand des Alltags verebben. Ihrer Wucht widerstehen ununterscheidbare Sandkörner, denen jederzeit egal ist, was ihnen geschieht, wohin es sie treibt: Die Energie der Wellen erschöpft sich in folgenlosen Umsortierungen, Strand bleibt Strand. Mindestens Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche müssen geschehen, um Küstenlinien zu ändern – in Zeitspannen, die wir uns vorstellen können, geschieht so etwas kaum.

Deutschlands Küsten sind flach, die Naturgewalten verschonen seine Bewohner glücklicherweise.

Hier stutzt der schläfrige Blogger: Ausgerechnet das Staatsvolk eines von solchen Katastrophen nicht bedrohten Landes hat sein Glück, seine wissenschaftliche und technische Potenz, seine vielfältige und reiche Kultur, den ausgemachten Wohlstand der Mehrheit innerhalb eines Jahrhunderts zweimal vollkommen ruiniert für ein paar Hundert Kilometer mehr an Küstenlinie, hat sich obendrein den Ruf diktaturtauglicher Mitläufer erworben. Dieses Volk durfte sich bestenfalls darüber freuen, als Weltmeister technischer und sportlicher Präzision geachtet zu werden, es wird mittlerweile gelobt, weil es das Schwenken von Fahnen nicht mehr zwanghaft mit militärischem Größenwahn verbindet, sondern darin fast so selbstverständlich Leistungen Einzelner vergesellschaftet, wie’s Amerikaner, Russen oder Chinesen tun. Dieses Volk ist befriedet, sogar bewundert. Aber ist es damit zufrieden?

Wäre es so, wäre es nur eine andere Form von Katastrophe. Es wäre jene Sorte Selbstzufriedenheit, die ein untergegangenes Staatswesen namens DDR mit Beton und brutalen Strafen gegen Nestbeschmutzer aufrechterhielt: mit einer Strategie zum Tod. Die Deutschen haben gelernt, dass über ihr Schicksal in Moskau, Washington, New York, Singapur, Peking entschieden wird, in globalen Konzernzentralen, auch in Afrika, Israel oder Afghanistan – jedenfalls nicht in Berlin oder Brüssel. Die Medien umspülen uns mit dieser Sorte Gewissheiten.

Haben wir nicht dennoch die Wahl, ob wir uns wie Sandkörner verhalten wollen, oder doch mal schauen, was die Natur sonst noch an intelligenten Strategien erfand?

Unter Sandkörnern überleben in der Brandung die merkwürdigsten Wesen.