Wollen wir etwas ändern? Etwa uns?

festung (6)Siehe da – auch die Piraten, angetreten und zeitweise von 12% der Wähler begeistert begrüßt wegen ihres Ziels, etablierte Politikrituale zu befragen, gegebenenfalls abzuschaffen, stattdessen neue Wege zu gehen, sind an- und heruntergekommen: Sie bewegen sich in den Niederungen der Machtkämpfe; Hierarchien bilden sich heraus, am Ende geht es nur noch darum, die 5%-Hürde des etablierten Politikbetriebes nicht zu reißen.

So jedenfalls sehen es die Medien, deren Wahrnehmung vollständig auf Schemata eben dieses Politikbetriebes fixiert ist. Die Schemata des Medienbetriebes sind nicht einmal mehr komplementär, sie sind auf die phantasieloseste Weise angepasst. Leider haben die Piraten genau dem wenig entgegenzusetzen – das wird an den Wichtigtuereien ihrer “Führungskräfte” ebenso offenbar wie an der Politbürosprache neuerer Bemühungen um politisches Renommee.

Über die Zukunft wird aber nicht in Politbüros entschieden. Das Schicksal der Gattung Mensch hängt an ihrer Arbeitsorganisation, also an ihrem Konfliktmanagement. Unternehmen, die nicht als Dinosaurier enden wollen, fangen an, sich entsprechend zu organisieren: lernfähig. Ja, ganz recht: es geht um Kulturleistungen, weil Nachhaltigkeit keine Frage von Technik oder Technologie ist, nicht einmal eine Frage von mehr oder weniger realen Milliarden, sondern eine des Verhaltens von Menschen. Es ist die Frage, ob wir Steinzeitimpulsen, Habgier und Herrschsucht folgen wollen oder neuen Strategien, die fortwährend auf den Prüfstand kommen. Nachhaltig ist nämlich genau das, was nicht in den Stein linker, grüner oder sonst irgendwie bessermenschlicher Ideologien gemeißelt wird, sondern sich intelligent an wandelnde Verhältnisse anpasst. Es folgt nur einem Grundgesetz: der Ehrfurcht vor dem Leben.

Das Problem der Piraten sind – wie in anderen Parteien und den meisten Unternehmen – Karriereopportunisten und Mitläufer. Sie wollen mittels korporativer Macht ihr je wichtigstes persönliches Ziel in den Rang sozialer Unbedingtheit erheben: “Ich will so bleiben, wie ich bin!” Dieses Ziel steht zum Universum freilich ebenso wie zur Lernfähigkeit senkrecht. Vielleicht verliert ja das Universum.

Die Macht der Meute

SED_Logo

Warum sollte ausgerechnet DAS nicht fortwirken: Menschen fühlen sich durch anhaltendes Fähnchenschwenken und das Tragen von Parteiabzeichen überlegen, stark, anderen gegenüber im Recht, nachgerade ermächtigt, Forderungen zu erheben und sie – nötigenfalls mit Gewalt – durchzusetzen?

Es wirken ja alle anderen Formen menschlichen Verhaltens auch fort: die Neigung zu patriarchalischer Vorherrschaft, die Polygamie, feudaler Pomp, alle irgend denk- und vorstellbaren Formen der Grausamkeit, Aberglaube, Balzrituale, religiöse Verfolgungen … Gott sei Dank auch Hilfsbereitschaft, Fairness, Kooperation.

Ein wunderbar erhellendes, vollkommen subjektives, dennoch mit wissenschaftlicher Akribie verfasstes Buch über solche Fragen hat Elias Canetti geschrieben: “Masse und Macht”, es erschien 1960.

Der Einzelne sehnt sich danach, in der Masse (der Herde, der Horde, der Meute, dem Mob …) geborgen zu sein, die eigene Schwäche durch vermittelte, gebündelte Schubkräfte der Gemeinsamkeit zu überwinden. Diese Sehnsucht hat eine lange evolutionsgeschichtliche Berechtigung. Allerdings konkurriert sie mit einem mir (noch stehe ich damit nicht gänzlich allein) persönlich sehr wichtigen Impuls: Dem individueller Freiheit und Verantwortlichkeit fürs eigene Handeln. Die Konkurrenz der Impulse löste lebenslanges Nachdenken und fortwährende Prüfungen meines Sozialverhaltens aus; ich darf sagen, dass sie nicht ganz unfruchtbar waren.

“Canetti, der Ideologien verabscheut, teilt seine Weltanschauung nicht offen mit. Erkenntnis muss der mündige Leser selbst gewinnen” vermerkt der Artikel in der Wikipedia, und diese Haltung gefällt mir. Wir brauchen mündige Leser und am subjektiven Erleben geschulte Welteinfühlung statt ideologisch ausgerichteter Weltanschauung. Wir brauchen selbstbestimmtes Handeln in Konflikten ohne den Schutz von Fahnen und Parteiabzeichen. “Mehr Demokratie wagen” müsste jeder genau da, wo er verantwortlich ist für sein Leben und das seiner Nachbarn, seiner Familie, seiner Kollegen. Leute, die für Menschenrechte in fernen Weltgegenden hierzulande gefahrlos Plakate hochhalten, im Straßenverkehr und am Arbeitsplatz aber den Mitmenschen als Störfaktor oder Stimmvieh behandeln, sind einfach unglaubwürdig. Wer als “Linker”, “Liberaler”, “Christdemokrat” oder neuerdings “Pirat” die Medien beflaggt, die Menschheit nach Flagge in passende Schubladen sortiert, auf handliche Feindbilder zurechtstutzt, zum Abschuss freigibt, meint alles mögliche, wenn er von Demokratie redet, aber bestimmt nicht die Freiheit und Pluralität von Meinungen.

Demokratie verlangt dem Einzelnen sehr viel ab – womöglich sogar den Verzicht aufs wohlige Gefühl, in der Masse geborgen zu sein. Wenn die Fähnchen und Abzeichen Konjunktur haben, schrillen bei mir jedenfalls die Alarmglocken.