Ideen beim Aufräumen des Kellers

Von Wahlen ist andauernd die Rede, Umfragen und Prognosen sind allgegenwärtig in den Medien, auch wenn es noch ein Jahr oder länger dauern kann, ehe einer wieder aufgefordert ist, seine Stimme abzugeben. Das ist schon lästig genug, schlimmer wird es, wenn Wahlplakate auftauchen. Sie fordern dazu auf, sämtliche schlechten Erfahrungen mit Parteien zu vergessen und zu glauben. Woran? An Versprechen, die so schwammig, irrational und unglaubwürdig sind, dass sie schon von Weitem stinken. Gestern fielen mir bei einer ungeliebten aber nützlichen Arbeit ein, welchen Reim ich mir darauf machen könnte, um mich weniger zu ärgern.

Wahlversprechen

Wenn‘s im Keller schimmlig müffelt
könnte es geboten sein
man schaut dort in Ecken rein
wo von Flaschen, ausgesüffelt
noch Kartons ihr Dasein fristen
die uns einstmals, bunt und fein
sagten, was wir trinken müssten
um von Herzen froh zu sein.

Solche Reste riechen übel
wie Erinnerung an Wahlen
als ich einstmals unter Qualen
bombardiert mit Wachstumszahlen
leicht beschwipst von den Versprechen
mich entschloss, den Schwur zu brechen
nimmermehr daran zu glauben
dass – ob Falken oder Tauben –
der Gewählten einzig Ziel
nicht sei: Wähl mich – und schweig still.

In der Stille fault sodann
was man nur noch ändern kann
wenn man hart und ohne Säumen
ausräumt, was statt bunten Träumen
Moder und Verfall gebar.
Merke: Über falsch und wahr
frage nicht die Emballage
Prüf den Inhalt, hab Courage.
Was dir imponieren will
allzu oft ist‘s nichts als Müll.

Freiheit der anderen oder Lizenz zum Pöbeln?

Grundgesetz_1949Mal abgesehen davon, dass nichts verwunderlicher gewesen wäre als ein verständiges "Jetzt schau’n wir mal, was er macht": die Nation der BILD-konditionierten Alle-Welt-Basher probt im Internet den nächsten Präsidentensturz, ehe der Kandidat auch nur gewählt ist. Wie bei solchen Gelegenheiten üblich: kein Vorwurf ist zu abstrus, als dass er nicht zum Wurfgeschoss taugte, Hauptsache mitmobben heißt die Devise. Freilich: Gauck wäre nicht Gauck, hätte er nicht gelernt, damit umzugehen. Hätten so etwas wie 90 % Zustimmung gedroht, wäre ihm nicht eingefallen zu kandidieren – dagegen ist er lebenslang immunisiert.

Nun blasen also die Wichtigtuer mit den großen Mäulern und der gegenüber Vorgesetzten jederzeit gut verborgenen widerständigen Meinung zum Halali gegen Gauck: im Internet. Das ist unvermeidlich, denn dabei kann sich einer wichtig, mutig, als politischer Vorkämpfer fühlen, ohne die Karriere oder die Mitgliedschaft im Verein zu riskieren. Wo sonst kann er das? Vor allem – wie sollte er dieser Versuchung widerstehen? Die Jagd auf Sündenböcke und das genüssliche Kolorieren von Feindbildern sind einmal (evolutionsbiologisch bedingt) bevorzugte Lustquellen, sie treiben seit alters her Klatsch und Tratsch, das allgegenwärtige soziale Hintergrundrauschen. Es ist ein zweckmäßiges Ritual wie das Blöken der Schafherde oder das Gegacker auf dem Hühnerhof, das Internet ist nur ein anderer Ort dafür – und so lange sich dort die Energien erschöpften, sollte’s mir eigentlich recht sein. Leider wird die fortgesetzte Übung in Schmähkritik und übler Nachrede in jedes andere Soziotop mitgeschleppt. Na gut, Stammtische kann einer heutzutage leicht meiden. Auch der Aufenthalt in mancher Betriebskantine oder Kaffeküche lässt sich umgehen, sobald dort selbsternannte Enthüller, Juristen, Politiker überhand nehmen.

Dass einer aber überall auf selbsternannte MeinungsBILDner mit der Lizenz zum Anpöbeln trifft, nicht nur im Internet, ist eine gespenstische Aussicht. Da seien Gauck und alle diejenigen vor, die im Kampf um Demokratie und Freiheit wirklich etwas riskiert haben – mein Vertrauen und meine Stimme haben sie.

Neue Aussichten beim Blick vom Turm

TurmpaarNkstark

Das Bild entstand Anfang der 50er Jahre: Meine Großeltern schauen vom “Bornmüllers Turm” auf dem Hofleite-Hügel über die Stadt. Vor 42 Jahren habe ich selbst zum letzten Mal diesen Blick genossen: kurz vorm Abitur, kurz bevor die Suhler Stasizentrale ihre Allmacht demonstrierte und die Bornmüller-Erben zwang, das Gartengrundstück mit dem romantischen Turm aus dem 19. Jahrhundert abzutreten. Es war die Zeit, als meine Wurzeln abgeschnitten wurden, denn wenig später griff der real existierende Sozialismus auch nach dem 200 Jahre alten Fachwerkhaus, in dem ich aufgewachsen war, es fiel wie die ganze Altstadt. Kein Zugang mehr zum Garten, kein Blick vom Turm, kein Zuhause mehr, wo die Familiengeschichte fast 300 Jahre lang in die Stadtgeschichte eingewachsen war.

Herrenstraße Vorderansicht

Verfallendes Fachwerk: Die Herrenstraße in den 60er Jahren

Im Namen des Fortschritts marschierten die Führer und Hilfstruppen des Sozialismus in die Pleite. Heute werden Plattenbauten abgerissen, die gerade einmal 30 Jahre überdauerten. Beton erwies sich als mürber Stoff, weil die ethischen Fundamente unterm grandiosen neuen Städtebau nichts taugten. Der Turm aus dem Jahr 1848 aber – als Kollateralschaden der DäDäÄrr-Implosion ruiniert – bekommt vielleicht ein neues Leben. Er steht unter Denkmalschutz, der neue Besitzer will ihn – vielleicht als originelle Ferienwohnung – ausbauen.

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“Tag des Offenen Denkmals”: Die Suhler entdecken ihre Geschichte

Zu wünschen ist, dass Horst Köhler – seltsame Namensverwandtschaft – die ursprüngliche architektonische Form mit dem hölzernen Dachreiter überm kreuzförmigen First wiederherstellt; vielleicht mit Hilfe des Denkmalschutzes, vielleicht dank eines neu erwachten Bürgersinns. Suhl, meiner alten Heimat, wäre das zu wünschen. Denn der Turm wurde von Edmund Bornmüller erbaut, um arbeitslosen Barchentwebern in der Krise ein Einkommen zu verschaffen. Er entstand, weil ein Unternehmer Gemeinsinn entwickelte. Angesichts globaler Finanzkrisen durch heimatlos marodierende Milliardenspekulanten werden wir solche Männer und Frauen dringend brauchen.

Wen die Geschichte interessiert: “Rennsteig TV” hat einen Film über den Tag des Offenen Denkmals online gestellt. Ab Minute 10:10 geht’s um “Bornmüllers Turm”

China verliert eine Stimme, die Welt gewinnt einen Autor

Liao Yiwu, verhaftet, gefoltert, verboten, hat sich nicht brechen lassen. Partei und Staat ließen den Dichter überwachen, bis ihm im Sommer 2011 die Flucht über Vietnam gelang. Seine verbotenen Texte werden in seine Heimat zurückkehren. Aber vorher sollten wir sie unbedingt gelesen haben.

Romantitel "Für ein Lied und hundert Lieder"

“Konterrevolution” ist der Spitzname des Dichters bei seinen Zellengenossen, die Gefängniswärter heißen “Regierung Liu” oder “Regierung Tong”. Diese amtlich ermächtigten Sadisten mit ihren Elektroknüppeln lassen den wegen seiner Proteste gegen das Massaker auf dem “Platz des Himmlischen Friedens” eingesperrten Liao Yiwu deutlich spüren, dass ihnen ein politischer Gefangener gerade so wenig bedeutet wie ein Krimineller, wenn sie ihre Lust an der Demütigung Gefangener ausleben. Tagelang werden die Hände von Inhaftierten auf den Rücken gebunden, so dass sie beim Essen und Stuhlgang auf andere angewiesen sind, zwei Zellengenossen werden aneinander gefesselt, gegenseitigem Hass und Drangsalen des Überlebens in einer Rotte von Todeskandidaten, Mördern, Dieben, Vergewaltigern ausgeliefert. Zwischen Körperdünsten, Exkrementen, Schmutz, Läusen wird jede Privatheit zerstört, eine Hierarchie der Verbrecher bildet sich und nimmt den Wärtern die Arbeit ab. Nur wenn die Prügel- und Foltergeräusche im staatlichen Vollzug allzu auffällig werden, greifen sie mit dem Elektroknüppel ein.

Es gibt eine “Speisekarte” der Folterpraxis von Häftlingen untereinander, die einem das Blut in den Adern gefrieren lässt: “Bärentatzen-Tofu” und “beidseitig in Öl bräunen” etwa, also heftige und anhaltende Schläge mit der flachen Hand auf Brust und Rücken können tödlich sein; “Rachengeschnetzeltes, weich” bedeutet das Einschlagen des Kehlkopfs mit der Handkante. Liao Yiwu überlebt, weil er sich nach Kräften wehrt, prügelt, seinen Starrsinn mit wochenlangen Fesselungen büßt, er ist dem Selbstmord nah, aber er gewinnt auch den Respekt der anderen Strafgefangenen, und selbst in dieser Hölle gibt es Momente der Menschlichkeit, der Hilfsbereitschaft. Es gibt sogar eine eigene Art von Humor in Todesnähe, auf dem Höhepunkt inszenieren die Häftlinge eine Totenfeier für einen der Ihren als Staatsakt nach dem Vorbild der Bestattung von Mao Zedong.

Schlimmer noch als die Brutalitäten im Knast sind sadistische Schreibtischtäter. Der Politkommissar Huang brüstet sich im Vollgefühl seiner von Staat und Partei übertragenen Macht über einen Häftling in der Isolation: “Die ersten beiden Jahre bin ich noch zu ihm in seine Höhle hinabgestiegen, er war bockig und hat keinen Ton gesagt, aber als der dritte Frühling vor der Tür stand, ist er auf allen vieren herumgekrochen, hat Kotau gemacht und um Vergebung gefleht. Der Kerl war fünf Jahre und sieben Monate in diesem Loch, er war ein lebendiges Gespenst und auf beiden Augen blind. Am Ende ergriff er die Gelegenheit, klammerte sich durch das Gitter an meine Beine und hat nicht mehr losgelassen. Aus humanitären Gründen habe ich ihm dann erlaubt, von den Toten aufzuerstehen und in das Licht der Sonne zurückzukehren.”

Die Lust daran, den Stolz, die Selbständigkeit, die Fähigkeit zum Widerstand zu brechen geht mit der Macht in hierarchischen Systemen einher – wer sich davon überzeugen möchte, muss auch hierzulande nicht lange suchen. Aber es gehört leider zum perfekt funktionierenden Verdrängungsgeschehen des Einzelnen wie der Gesellschaft, Opfern gewaltsamer Übergriffe eine Mitschuld zuzurechnen. Deshalb war Liao Yiwu im wirtschaftlich hemmungslos wachsenden China sehr einsam. Und deshalb wird auch hierzulande die Rettung der deutschen Wirtschaftsinteressen für Politik, Medien und eine selbstgefällig über deutsche Probleme schwadronierende Tischgesellschaft im Chinarestaurant wichtiger sein, als was den Deutschen eigentlich jeden Tag in den Ohren klingen müsste: Die Würde des Menschen ist unteilbar. Demokratie wird hierzulande nicht dauern, wenn wir den Preis ignorieren, der anderenorts auf dieser Welt für unseren Wohlstand gezahlt wird.

Das Radiofeature über Liao Yiwu und sein Buch ist zum Hören und Download auf SWR 2 bereit.

Liao Yiwu “Für ein Lied und hundert Lieder. Ein Zeugenbericht aus chinesischen Gefängnissen” Übersetzt von Hans Peter Hoffmann, S.Fischer Verlag, Hardcover 580 Seiten, 24,95 €

Die Nackten und die Toten

Zu dem kommenden Riesenprozeß gegen den Massenmörder Haarmann , welcher 27 Morde in Hannover vollbrachte. Zu dem Prozeß sind über 190 Zeugen geladen und ist mit einer Prozeßdauer von 14 Tagen zu rechnen. Der Massenmörder Haarmann in Ketten gehalten durch Kriminalbeamte, wird gefilmt.

Der Serienmörder Fritz Haarmann, von Polizeibeamten in Handschellen gefilmt. Bundesarchiv, Bild 102-00824 / CC-BY-SA 3.0

Mörder und Sexualverbrecher machen sich am Pranger besonders gut – das uralte Sozialritual entfaltet bei ihnen seine ganze Anziehungskraft. Davon leben BILD, RTL, Holly- und Bollywood, auch alle die nigerianischen Filmproduktionen, die ihren Vorbildern nacheifern, was manche linksgestrickte Miesepeter als späten Sieg des Kolonialismus missbilligen, ein unbelehrbarer Optimist wie ich als das Problem fortwirkender Steinzeitimpulse in jeder Art Gesellschaft interpretiert.

“Gewalt Macht Lust” – die heilige Dreifaltigkeit menschlicher Triebimpulse – macht Quote. Klar: Menschen leben, überleben auch dank anderer Eigenschaften: Empathie, Kooperationsbereitschaft, Langmut, Selbstlosigkeit. In den Medien ist derlei natürlich nur als Kontrastprogramm vermittelbar, sonst wär’s langweilig. Schule und Bildung finden daher nur entlegene Sendeplätze, es sei denn, Pädokriminelle rückten ins Blickfeld, so wie Jugendliche hauptsächlich als Drogensüchtige und Krawallmacher von Interesse sind.

Wenn’s der Verkaufe dient, dürfen auch “whistleblower” – auf gut Deutsch Nestbeschmutzer – schon mal als Helden in Erscheinung treten. Im Programm bitteschön, nicht in der Alltagspraxis der gebührenfinanzierten Anstalten! Die Doku “Geschlossene Gesellschaft über Pädokriminelle in der Odenwaldschule passte also zum Herzeigen für den grundgesetzlichen Auftrag der Anstalten, sie wurde – wie alle aufklärerischen Ambitionen – auf einen Sendeplatz jenseits der Primetime verschoben, denn in der Primetime wird mit dem quotenwirksamen Gegenteil versorgt. Nigeria lässt grüßen.

Die in den letzten Monaten aufgekommenen Sauereien zwischen Kika und MDR-Unterhaltungsprogramm sind ebensowenig Zufall und Ausnahme, wie all die Rollenverteilungen innerhalb dieser “geschlossenen Gesellschaft”, die mit finanziellen oder sexuellen Vorteilsnahmen einhergingen und von denen in 60 Jahren korporativer Verschwörung aufs Schweigen nie die Rede war.

Die “Whistleblower” innerhalb der Anstalten des öffentlichen Rechts sind hierzulande nicht weniger gefährdet als Journalisten sonstwo auf der Welt. Sie sind es womöglich noch mehr, denn sie – und alle, die sich mit ihnen verbünden – haben zu verlieren, was hierzulande zum Götzen geworden ist: das An-Gestellt-Sein mit vorzeigbarem finanziellen Erfolg, eine Art von Sozialprestige, das der riskanten unternehmerischen Selbständigkeit längst den Rang abgelaufen hat. Wer sich Feinde beim WDR gemacht hat, findet wenige Freunde bei einer andern Anstalt – dafür sorgen die Netzwerke der “Führungskräfte”. Es sind Netzwerke voller Geschichten von ökonomischer Erpressung und sexueller Abhängigkeit.

Insofern hinterlässt eine Dokumentation wie die über die Odenwaldschule eine sehr, sehr deutliche Unzufriedenheit über den Umgang der Anstalten mit ihren eigenen Defiziten.

Streiten um die Zukunft: Mit Denkern

Es hat sie einmal gegeben: Fernsehsendungen, die nicht an der Tagesaktualität klebten, die nicht “auf der Aufmerksamkeitswelle surften”, sondern weit ausgreifend Inhalte unterschiedlichster Bereiche von Kunst und Wissenschaft für das Publikum aufbereiteten: zu Hauptsendezeiten.

Es hat einmal Sendungen gegeben, in denen nicht farblose Moderatoren und immer dieselben Talkshownasen wiederkäuten, was auf allen Kanälen zu hören ist. Es waren Sendungen, die vom Erfahrungshintergrund und der Persönlichkeit ihrer Autoren lebten. Sie argumentierten wirklich sachkundig, kontrovers zur Politik, zum Mainstream, sie hatten es nicht nötig ewiggleichen Sozialritualen, einer Dramaturgie konfrontativen Schubladendenkens zu folgen. Das ist lange her. Und es ist schön, dass der Wissenschaftsjournalist Wolfram Huncke mit einem Buch an Heinz Haber und Robert Jungk erinnert. Einige ihrer Streitgespräche über Zukunftsfragen aus den 80er Jahren hat er angeregt, mitgeschnitten, veröffentlicht. Sie werden dem Titel des Buches gerecht.

Haber, Physiker, Astronom, “Fernsehprofessor” der 60er Jahre (“Unser Blauer Planet”) und Jungk, Philosoph und Psychologe, Emigrant, Gründer des “Instituts für Zukunftsfragen” sind beide im Mai 1913 geboren, ganze vier Tage trennen sie – doch waren ihre Biographien höchst verschieden. Ebenso verschieden sind ihre wissenschaftlichen Standpunkte, aber bei aller Kontroverse verbindet sie eine tiefe Freundschaft, beginnend mit einer Begegnung 1949 in den USA, wo der eine als Astrophysiker, der andere als Journalist tätig ist. Haber hält Vorlesungen mit dem Titel “Unser Freund, das Atom”, daraus werden Bücher und eine Fernsehserie, Jungk beschäftigen die Menschen, die Atombomben oder –reaktoren bauen, frühzeitig warnt er vor Gefahren bei der Energieerzeugung, vor den politischen Risiken nuklearer Rüstung.

Die Gespräche zwischen beiden sind lesenswert, weil sie Konfliktkultur beweisen: Freunde streiten – sehr ernsthaft, sehr engagiert, mit großer Sachkenntnis. Aus diesen Gesprächen könnten alle lernen, die heute “gegen Kernenergie” mobilmachen ohne simpelstes physikalisches Grundwissen, dass nämlich Sonnenenergie Kernenergie ist, dass unter der dünnen Haut der Erdkruste gewaltige Nuklearkräfte unseren Planeten am Leben erhalten, dass Radioaktivität ein Grundbestandteil unserer Welt ist, und dass die Frage ihrer technischen Nutzung – wie bei jeder Technologie – eine Frage nach menschlicher Verantwortung, also nach Fehler- und Konfliktkultur ist.

Das Buch schreitet viele Technikfelder ab, nicht nur das der Energieerzeugung. Frisch und lesenswert wirkt es, weil eben viele Fragen bis heute offen sind, die Gedanken der beiden Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts immer noch zur Vertiefung anregen. Es gibt am Ende eine Passage zum Thema deutsche Fernsehanstalten, in der beide ausnahmsweise einmal einig sind – auch der Rezensent muss dem nichts hinzufügen:

Haber: “… heute ist ein verwalteter bürokratischer Apparat mit verhärteten Strukturen anzutreffen. Und: Den meisten fällt nichts Neues mehr ein.”

Jungk: “Nicht nur verhärtet, die Arbeit ist auch durch die Angst geprägt, etwas anderes zu machen als das, was vorgeschrieben ist. … Die Stelleninhaber werden wahnsinnig vorsichtig, die Kreativität erlischt schließlich.”

Haber: “ Mehr noch: Die persönliche Verantwortung verrottet, weil der einzelne nicht mehr zu seinen Entscheidungen und Handlungen zu stehen braucht. Das System trägt schließlich alles. die Mitarbeiter versuchen, im System nicht aufzufallen, und dann kann ihnen persönlich nichts passieren.”

Jungk: “Nur geht auf diese Weise das ganze System irgendwann vor die Hunde. …”

Und damit haben sie den Finger in die Wunde der organisierten Verantwortungslosigkeit gelegt. Solange ökonomische Abhängigkeiten Angestellte in Hierarchien erpressbar machen, so lange Strukturen auf ihre Austauschbarkeit zielen, so lange werden Rückversicherungsverhalten, Intransparenz,  mangelnde Konfliktkultur nicht nur Fernsehanstalten, sondern jedes Unternehmen scheitern lassen. Und genau darum sind Kernkraftwerke

heute bedrohlich. Nuklearforschung und Nukleartechnik verlangen das Gegenteil von organisierter Verantwortungslosigkeit – das ist übrigens auch ziemlich genau das Gegenteil des “real existierenden Sozialismus".

Wolfram Huncke (Hrsg.)

Gestern ist heute – Heinz Haber und Robert Jungk im Disput um die Zukunft

Hirzel Stuttgart 2011, 120 Seiten, 19,90 €

Das Ende der Regierung Merkel

 

Daran, dass Artikel 5 des Grundgesetzes tief ins Alltagsverhalten der in Deutschland Ansässigen eingewachsen ist, kann nicht mehr gezweifelt werden. Forderte Walter Ulbricht für seine Diktatur noch “Jeder Mann an jedem Ort einmal in der Woche Sport!”, was bekanntlich einen nie mehr erreichten Regen von Medaillen und Rekorden erbrachte, so darf hier und heute gelten “Jeder Mensch in jeder Lage stündlich seine Meinung sage!”, was infolge der “Social Media” zu einer uneindämmbaren Rekordflut qualifizierter Äußerungen wie “Weg mit der Kernenergie” oder “Castor schottern!” führte. Es ist weiter nicht schlimm, dass ersteres auf eine ABSCHALTUNG DER SONNE hinausliefe – es weiß ja sowieso jeder was gemeint ist: Wer für Kernkraftwerke ist, ist für den ATOMTOD und verdient es, verachtet und niedergebrüllt zu werden, also muss man es mit dem physikalischen Grundwissen nicht so genau nehmen.

Ich in nicht ganz sicher, ob Frau Dr. Angela Merkel der Wind – dank des Grundrechtes auf freie Meinungsäußerung von allen und jedem jederzeit loszulassen – dermaßen heftig ins Gesicht weht, weil oder obwohl sie Physikerin ist. Mir kam dieser Tage die Philippika eines Chemikers ins Haus, der todesmutig für die Nutzung der Kernspaltung als Energiequelle eintritt, deshalb mit Frau Dr. Merkel hadert und ihr in einem – ausdrücklich zur weiteren Verbreitung freigegebenen Brief folgendes schreibt:

“Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,

mit Ihrer Fukushima-Entscheidung haben Sie das Vertrauen der verantwortungsbewußten Bürger verloren. Fukushima hat keine für die deutsche Kerntechnik relevanten neuen Erkenntnisse gebracht. Laut einem Bericht der IAEA wurden in Japan keine gesundheitlichen Strahlenschäden bekannt. Die Fehler von Fukushima, welche die Knallgasexplosionen ausgelöst hatten, waren bekannt, nämlich die mangelhafte Notstromversorgung und das Fehlen von Rekombinatoren, die in Deutschland vorgeschrieben sind.
Das Tempo und die Oberflächlichkeit, mit der Sie das Gesetz zur Vernichtung der deutschen Kerntechnik vorbei an den Interessen Deutschlands, vorbei am Parlament, vorbei an Europa, vorbei an den Aussagen von Fachleuten, vorbei am Schicksal der Betroffenen durchgedrückt haben, zeigen, daß Sie nicht an Fakten, sondern am persönlichen Machterhalt interessiert sind. Über Kosten und Folgekosten Ihrer Fehlentscheidung haben Sie sich keine Gedanken gemacht. Wodurch der Kernstrom ersetzt werden soll, wissen Sie nicht.
Kernenergie, die sicherste und preisgünstigste Energiequelle für die Stromerzeugung, ist für sämtliche Industrienationen unverzichtbar, weil ohne Kernenergie die Weltenergieprobleme nicht lösbar sind. Nach Fukushima hat China den Bau von 40 neuen Kernkraftwerken (KKW) bekanntgegeben. Frankreich baut in Indien das größte KKW, die Vereinigten Emirate planen 4, Saudiarabien 16 neue KKW. Auch die Ukraine kann nicht auf KKW verzichten, um nur einige wenige Beispiele für den weltweiten Ausbau der Kernenergie zu nennen.
Die Folgen Ihrer Politik sind für die Erhaltung des Industriestandortes Deutschland destruktiv. Deutschland gehört nicht mehr dem Club der führenden Forschungsnationen an. Über Produktionsmethoden entscheidet nicht mehr der Markt, sondern die Ideologie des Staates. Strompreise, Stromausfälle, Steuerbelastung und Staatsverschuldung steigen. Industriezweige wandern aus, Arbeitsplätze verschwinden, die Armut nimmt zu.
Ihre Politik fördert nicht die Soziale Marktwirtschaft, ohne die Wohlstand für alle nicht möglich ist, sondern die Zwangswirtschaft im Sinne des Sozialismus. Sie vergeuden Steuergelder für die unsinnigsten Projekte. Von den Verantwortungsträgern in Wirtschaft und Politik hat niemand den Mut, Sie in die Schranken zu verweisen.
In Sorge um die Zukunft der jungen Generation halte ich Ihren Rücktritt für alternativlos, wenn unsere Demokratie erhalten bleiben soll
Hans Penner”

Das ist ein langer und zorniger Brief.
Aber selbst die sofortige Enthauptung von Frau Merkel, die Erhebung der gesamten Regierungsmannschaft an Berliner Laternenpfähle – die Frauen würden selbstredend nach Kreuzberg verbracht um dort in Gesellschaft von Herrn Sarrazin und unterm Applaus multikulturell-grünalternativ-linksethischer Gutmenschen der Steinigung durch die Rechtgläubigen anheim zu fallen – würde, so fürchte ich, kein einziges Problem lösen.
Freilich: Herr Trittin, die Damen Künast, Roth und Schwarzer hätten einen großen Tag, die Genossen aus Lichtenberg und Hohenschönhausen würden „Völker hört die Signale!“ singen und vielleicht die Stunde des letzten Gefechts für angebrochen halten.
Ich glaube aber nicht, dass davon in China mehr bemerkt würde, als vom gleichzeitigen Umfallen eines Sacks Reis bei einem chinesischen Händler auf Bali.

Das war jetzt zum langen Brief keine lange Stellungnahme. Gott sei Dank sind sowohl Länge wie Inhalt vom Artikel 5 des Grundgesetztes gedeckt. Es darf sogar darüber gelacht werden, auch wenn’s eigentlich zum Heulen ist.

Zukunft, Panzer und Moral

Bald 500 Jahre alt ist Thomas Morus’ Roman von der Insel Utopia.

Ob sie als Satire, Albtraum oder Zukunftsvision einer moralisch geläuterten Nation gelten darf, ist die Frage

Insel_UtopiaZu bestimmten Terminen wird der sowieso weitgehend homophone Journalismus in seinem Gleichklang besonders penetrant. Einer ist – falls sich seiner überhaupt jemand erinnert – der 17. Juni. Über die plattgewalzten Gefechtsfelder der Quotenmedien “walzen die Panzer des SED-Regimes” oder “der Sowjets”,  “den Aufstand der ostdeutschen Arbeiter nieder”, oder so ähnlich. In der Abgasfahne verwehen noch ein paar pflichtgemäße Hinweise auf Stasi, den Bau der Mauer, das politische Personal und das Ende der DäDäÄrr – auf zur nächsten Agenturmeldung.

Über eigentlich Wichtiges wird kein Wort mehr verloren, denn aus Geschichte, lernt sowieso niemand etwas, schließlich gibt es Statistiken, mit deren Hilfe sich Zukunft präzise vorhersagen lässt, je genauer und umfänglicher Daten erhoben worden sind, desto besser. Nun ja.

Ein Blick auf die Zukunftsprognosen des Jahres 1953 – die in den am meisten konsumierten Kanälen, die am weitesten verbreiteten, am innigsten geglaubten und brachial gegen abweichende Meinungen durchgesetzten, lassen ahnen, dass es um die gesicherten Weisheiten von heute nicht besser steht als um die “wissenschaftliche Weltanschauung”, kremlastrologische Vorhersagen oder vermutete Trends in Technik und Wirtschaft von damals. Das einzige, was sich damals wie heute dauerhaft bewährt, ist die Fähigkeit menschlicher Wahrnehmung, unangenehme Tatbestände auszublenden.

Zu diesen unangenehmen Tatbeständen gehört, dass eine überwältigende Masse der Bevölkerung in Deutschland der Machtübernahme der Nazis 1933 zujubelte, bei der Ausrufung der DäDäÄrr 1949 die Köpfe einzog und nickte, am 17. Juni 1953 mit eingezogenem Kopf und eingeschaltetem RIAS zu Hause blieb. Sie hätte die Köpfe auch 1989 und darüber hinaus eingezogen, hätte nicht die politische Großwetterlage – vor allem die Situation in der Sowjetunion, in Polen, in Ungarn – hätten nicht Massenflucht, der Präzedenzfall von Leipzig und der Aufwind der Opposition den Impuls “Ich auch” zum Mitmarschieren in die neue Richtung ermutigt. Der Marsch schwenkte rasch und deutlich in Richtung “erst kommt das Fressen, dann die Moral”. Fast alle, auch die strammsten SED-Mitmarschierer waren dabei.

Es wäre nicht Deutschland, verliefe der Marsch unter dem Banner “Ich will das jetzt auch” anders als in Richtung der just am mächtigsten Erscheinenden, jener, deren Heilsversprechen mit dem größten Verdrängungsvermögen gegen die Konkurrenz einhergehen. Manche nennen das hinterher Revolution.

Wenn alle – auch Katzen, Hunde, Meerschweinchen etc. satt genug sind, die Frage nach dem Fressen also nur noch hinsichtlich der Details “Bio oder nicht?”, “Fleisch oder nicht?” unbeantwortet, dann ist’s in Deutschland Zeit, die Moralfrage zu stellen.

Führerinnen und Führer finden sich alsbald, die Freispruch von allen Sünden, die Zugehörigkeit zum Strom des Guten verheißen. Linksrotgrünen, tier- und naturschützerischen, esoterischen Populationen, Glaubensrichtungen aller Art verkündigen sie eine bessere, saubere, moralischere Welt vollständiger Gleichberechtigung für alles und jeden, sie werden zur Avantgarde für all jene, sich zu kurz gekommen, von der Demokratie enttäuscht fühlen. Eine neue Zukunft muss her: Utopia.

Tatsächlich bedienen sich die Künder der neuen Zukunft einer wohlbekannten politischen Kraft: des “kleinen Mannes”, manchmal im Journalistenrotwelsch auch “der kleine Mann auf der Straße” genannt, inzwischen viel deutlicher als “der kleine Mann auf der Datenautobahn” auszumachen. Er will sich dort nicht allein fühlen, er will mitlaufen. Schon strömt in Communities zusammen, was nichts so sehr fürchtet, wie nicht dabei zu sein, wenn es Machtgefühl wie Freibier zu saufen gibt. Das könnte man aus der Geschichte lernen.

Die nicht mitmarschieren wollen in den moralischen Feldzügen deutscher Duckmäuse gegen den Rest der Welt, werden allerdings nicht die Köpfe einziehen: Damit der 17. Juni 1953 ebenso Geschichte bleibt wie der 13. August 1961, der 30. Januar 1933 und der 9. November 1938.

Lorraine und Loire

Loire Abend

"Wie Gott in Frankreich" ist für jeden, der die Schlösser an der Loire besucht, kein leeres Wort. Zumindest haben die "von Gottes Gnaden" Könige von Frankreich einiges dafür getan, ihren Chef im Falle eines persönlichen Besuchs angemessen unterzubringen.
Alle anderen Schlossherren hatten wiederum dafür zu sorgen, dass der König Kost und Logis in königlichem Stil vorfand, wenn er samt Hofstaat vorbeischaute. Dankbar vermerken wir, dass unser Komfort bescheidener, dafür aber gesünder ist.
Das beste: der Himmel segnete unsere Reise mit dem schönsten Wetter, einem sommerlichen Mai und einem erträglichen Maß an internationalem Tourismus.
Während über die Existenz Gottes weiter gestritten wird, spricht doch vieles für einen Aufenthalt in unserer Nähe: erst in der Lorraine, wo wir eine Festung vorfanden, die von den Kriegen vergessen wurde, dann zwischen Orleans und Tours, wo sich kein Mensch mehr vorstellen kann, wie sich hier vor 70 Jahren Europäer mit amerikanischer Unterstützung gegenseitig umbrachten, weil Millionen Deutsche gern allen anderen zeigen wollten, wo’s langgeht. Das schaffen sie heute nicht mal mehr beim Flaschenpfand.

Gott sei Dank.

Es ist erreicht

Spaßeshalber habe ich heute per google mal nach „Ich brauche mich um nichts mehr zu kümmern“ gesucht. Dann habe ich gestaunt.
Es fanden sich unter der Adresse eines österreichischen Esotherikforums die Verse
hallo
ich bin Hansi und mir gehts saugut
denn ich bin an das Ende meiner Suche angelangt:

hier unter diesem Baum
ich bin voll erfüllt
Sehnsucht?
was ist das?
ich habe alles was ich brauche
ich habe auch keine Fragen mehr
ich bin mir selbst genug

manchmal schneide ich mir die Fuss und die Fingernägel
und morgens ein bisschen Hatha Yoga
dann grinse ich besonders
bei der Postur der Anbetung der Sonne
ein glückliches Grinsen

kein verbissenes
ich bin euer Hansi
und habe es geschafft!

Hansi braucht keine Industriegesellschaft. Die Gegenposition dazu erscheint in einem – inzwischen aus dem Web verschwundenen deutschen Politikforum:
Ich werde Schmarotzer!
In Bezug auf unsere beiden Dauerbrenner-Threads habe ich mir überlegt, jetzt Schmarotzer zu werden:

Meine Vorteile:

Ich arbeite nicht mehr. Ok, das ist dann eh klar. Habe keine 24-Stunden-Schicht, keine Steuerlast, Miete wird bezahlt, Kleidung wird bezahlt, Reparaturen werden bezahlt, mir steht sogar ein Schuhschrank auf Staatskosten zu (hatte ich bisher nicht/freue mich), keine Zuzahlung im Krankenhaus, keine Steuererklärung, jederzeit rundum versichert, versorgt, verwaltet. Brauche mich über Parasiten endlich nicht mehr aufzuregen, bin jetzt selber einer. Geil!

Ich brauche mich um nichts mehr zu kümmern. Ich liege im Sonnenstudio.

Nur die Hand aufhalten in einem bequemen Sessel im Flur auf dem Amt, aber da kann ich mir ja mit einer guten Flasche Wein und ein wenig Lachs die Wartezeit versüßen.

Was für ein wunderbarer Staat.

Schmarotzerförderer, Schmarotzerunterstützer, Schmarotzerschützer.“

Wer will, darf gespannt sein, wie der Konflikt ausgeht. Ich bin jedenfalls fest entschlossen, mich nicht darum zu kümmern.
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