Gut geregelt ist halb tot (I)

Das Zeitalter der Mobilität hat uns vom Laufen zum Fahren, zum Rasen, gar zum Fliegen gebracht. Damit diese Fortbewegung von inzwischen Milliarden Menschen nicht fortwährend mit Unglück, Stau, gar Kollaps, Tod und Chaos einhergeht, braucht es Regeln. Es gibt sie, sie wurden und werden fortwährend geändert, angepasst, umgangen und gebrochen.

Verkehrszeichen für Kreisverkehr in Deutschland
Im Kreise geht die Reise…

Dabei gab es ein Wechselspiel: Der Mensch passte die Technik seinen Bedürfnissen an – schneller, höher, weiter, sicherer, komfortabler – neue Regeln mussten her: Gurtpflicht, Tempolimits, Überholverbote, Rettungsgassen. Das Verhalten der sich fortbewegenden Menschen änderte sich nur insofern, als die Regeln Routinen hervorbrachten – etwa das Anlegen des Gurtes oder routinierte Blicke auf Instrumente, Ampeln, Verkehrszeichen, Kreuzungen (rechts vor links), mögliche Blitzer am Fahrbahnrand.

Die Grundimpulse des Menschen blieben indessen fast unverändert: Erlangen und Vermeiden. Ebenso Gefühle wie Liebe, Hass, Neid, Zuneigung, Angst, Furcht, Bewunderung, Erstaunen, Empörung… Sie alle fahren mit. Und wenn ich vom Verkehr spreche, ist er natürlich nur ein Beispiel dafür, wie Menschen im Alltag miteinander „verkehren“.

In den vergangenen Jahren haben wir einen Wust wechselnder Regeln, sich verändernder Begründungen dafür, eine Flut widersprüchlicher Informationen erlebt wie kaum je zuvor. Woran muss, woran kann ich mich halten? – Welche Information trifft zu? Welche Regel hat Sinn? Welche Maßnahme? Wem kann ich vertrauen und – was ist die Wahrheit?

Damit wäre ich beim lieben Gott und beim Teufel, bei der Bibel und einem Verhalten, das sich schon bei den Kleinsten findet: Die Lust, Regeln zu brechen – oder eigene aufzustellen und durchzusetzen. Adam und Eva machten’s vor: Erbsünde, sie wurden aus dem Garten Eden verbannt.

Klar: Bei Gott im Himmel ist die Allmacht er bestimmt die Regeln. Auf den Einspruch von Atheisten hin gebe ich natürlich zu, dass die Regeln des Universums gelten, aber von da an kämen Sie vielleicht zu einem ausschweifenden Text über Relativitätstheorie und Quantenphysik, aber nicht zu einem unterhaltsamen Atikel. Mit Gott, Satan und Regelbrüchen, auch Sünde genannt geht das. Man versteht trotzdem gut, dass Regelbrüche im Umgang mit Naturgesetzen üble Folgen haben können. Wer versucht, die Physik zu bescheißen, riskiert halt Bruchlandungen und Blackouts.

Zurück ins Paradies – zu Gottes Werk und Teufels Beitrag.

Im Bürgerkrieg verwundet, in Revolutionskämpfen 1914 in Mexiko verschollen: Ambrose Bierce

Ambrose Bierce war ein amerikanischer Autor von Kurzgeschichten, sein Humor war tiefschwarz. Manche hielten ihn für einen Menschenfeind; liest einer seine Texte, begreift er, wie ein lebens- und kriegserfahrener, zutiefst Mitfühlender sich in den Sarkasmus rettet. 1911 verfasste er „The Devils Dictionary“. Unterm Stichwort „Satan“ ist zu lesen, dass dieser

„Einer der beklagenswerten Irrtümer des Schöpfers“ gewesen sei, „von diesem in Sack und Asche bereut. Als Erzengel eingesetzt, machte Satan sich vielfältig unbeliebt und wurde schließlich des Himmels verwiesen. Bei seinem Abstieg hielt er auf halbem Weg inne, neigte denkend einen Moment lang das Haupt und ging schließlich zurück. »Eine Gunst möchte ich erbitten«, sagte er.
»Nenne sie.«
»Wie ich höre, ist der Mensch in der Mache. Wenn er fertig ist, wird er Gesetze brauchen.«
»Was, du Wicht! Du, sein berufener Widersacher, seit dem Morgengrauen der Ewigkeit von Haß auf die Seele des Menschen erfüllt — du bittest um das Recht, seine Gesetze zu machen?«
»Pardon; worum ich bitten möchte, ist, daß ihm gestattet werde, sie selbst zu machen.«
So ward es beschlossen.“

Von den Göttern zu Propheten, Majestäten und anderen Obrigkeiten – sie alle hielten sich selbst ungern an Regeln und wussten das auch stets fintenreich zu begründen. Die Menschen konnten sich ihre Herrscher nur selten aussuchen, und selbst dann machte sich Satans List, die Gesetze den Menschen selbst zu überlassen, bemerkbar: Egal ob die Macht dynastisch – also in Familien – vererbt, ob sie durch wie auch immer geartete Wahlen an unterschiedlichste Regierungen gelangte oder einfach mit Gewalt oder durch Korruption angeeignet wurde: sie fiel immer wieder einmal in die Hände von Idioten. In Ambrose Bierce‘ „Des Teufels Wörterbuch“ steht dazu

Idiot, der — Angehöriger eines großen und mächtigen Stammes, der menschliche Belange stets beherrschend beeinflusst und kontrolliert hat. Die Aktivitäten des Idioten beschränken sich nicht auf ein bestimmtes Gebiet des Denkens oder Handelns, sondern durchdringen und regeln alles. Er hat in allem das letzte Wort; seine Beschlüsse sind unanfechtbar; er bestimmt die Mode in Meinungs- und Geschmacksfragen, diktiert Sprachfehler und schreibt ultimativ Verhaltensweisen fest.“

Die Folgen werden in der Litertur oft behandelt, auch bei Goethe, im „Faust, Prolog im Himmel“ während einer Zwiesprache des Herrgotts mit Mephisto:

„Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen“, erklärt der Teufel, „Ich sehe nur wie sich die Menschen plagen. Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag, Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. Ein wenig besser würd’ er leben, Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennts Vernunft und braucht’s allein Nur thierischer als jedes Thier zu seyn.“

Damit wären wir bei einem grundsätzlichen Problem von Regeln angekommen: Der Frage, ob sie vernünftig sind.

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Déjà vu

“Wir entscheiden”, sagte der Stasi-Mitarbeiter in der Abteilung “Inneres” beim Stadtbezirk Prenzlauer Berg, “ob und wann wir ihre Übersiedlung in die BRD gestatten!”

Das war 1988, “wohn-haft” in Berlin, Hauptstadt der DDR, durfte ich seit Jahren nicht mehr als Regisseur und Hochschullehrer arbeiten, denn ich hatte gewagt, die Deutungshoheit der SED zu leugnen. Politisch und ökonomisch war ihre Macht längst brüchig. Die mächtigsten Männer der Sowjetunion mussten in internationalen Konferenzen – vor allem der KSZE – bei den Menschenrechten Kompromisse gegenüber dem Westen eingehen, wollten sie den Zusammenbruch ihres Landes und des Warschauer Verteidigungspakts unter Planwirtschaft und Rüstungswahn zumindest hinauszögern. Die – immer noch brutal verfolgte – Opposition vor allem in Ungarn und Polen erstarkte, sogar in der DDR wuchs der Widerstand. Hunderttausende forderten Freiheit der Meinung und der Reise. Das heißt: Sie griffen die am härtesten armierten Bastionen der Politbürokraten an: Die Ideologie und den “antifaschistischen Schutzwall”. In Parteizentralen und ihren “Sicherheitsorganen” war Daueralarm, ebenso beim Propaganda-Apparat: den staatlichen Sendern und Zeitungen, in Schulen und Hochschulen. Die bis zur Absurdität ermächtigten Kontrolleure verloren die Kontrolle – und bekamen sie nie mehr zurück.

Irreversibilität hat mich seit je beschäftigt. Für den Physiker war es ein universelles und irritierendes Phänomen, im Alltag kann es jeden zur Verzweiflung treiben, weil sich nichts ungeschehen machen lässt. Eine Millisekunde unaufmerksamer Bewegung, die Teetasse kippt ihren Inhalt ins Notebook, es verröchelt. Die Millisekunde lässt sich nicht zurückdrehen, mit keinem noch so gewaltigen Energieaufwand. Das gilt auch im Universum der Gedanken. Eine Folge davon ist, dass uns die Zeit immer schneller zu vergehen scheint, wenn wir altern: Zu viele Gedanken – erwünschte und unerwünschte – vertreiben sie uns unablässig.

„Die versiegelte Welt“ von Ulrich Schödlbauer liegt in einem seltsamen Zwischenreich: Immer wenn ich mich dort lesend hineinbegebe, verwandelt sich zuvor Gelesenes: Situationen und Gestalten changieren. Nichts anderes ist zu erwarten, da ja der Leser jedes Mal ein anderer ist: Begriffe sind anders aufgeladen, neue Zusammenhänge erkannt, auch hat sich seine Erfahrung in einer Realität verändert, deren Wandel durch keine Form von Wahrnehmung, Auswertung, Simulation geistig zu fassen, geschweige zu beherrschen ist. All diese Vorgänge, das gesamte Geschehen ist im Mikrokosmos der Neuronen ebenso irreversibel – also unumkehrbar – wie das Geschehen im Universum.

Vielleicht ist das unter den „Kränkungen“, die der Mensch während seiner Interaktion in der physischen, sozialen, psychischen Sphäre erlebt, die ärgste: dem Lauf der Zeit gegenüber ist er ohnmächtig. Er kommt von der verschütteten Tasse nicht los, einmal abgesehen davon, dass er sich mit dem Schaden befassen muss, wird er noch eine Weile – je nach Temperament – über die fatale Millisekunde stolpern, ihre Ursachen, Vermeidbarkeit, mögliche Mitschuldige…

Unser Leben besteht aus einer astronomischen Anzahl solcher Momente der Entscheidung. Die wenigsten davon fällen wir bewusst. Und selbst die vermeintlich bewusst gefällten beinhalten unbewusste Impulse. An ihrem tiefsten Grund treffen sie sich mit den Überlebens-Algorithmen von Viren, mit der Dynamik von Elementarteilchen und Galaxien. Jeder Versuch, aus naturwissenschaftlicher Sicht daraus auf menschliches Verhalten zu schließen, geht fehl, weil in Jahrmilliarden irreversibler Prozesse eine Komplexität gewachsen ist, die sich nicht „nachrechnen“ lässt.

Mit nichts anderem beschäftigt sich aber der Mensch, wenn er Mathematik, Physik, Chemie, Biologie erforscht, um Muster zu entdecken, nach denen sich Komplexität entwickelt. Er konstruiert Modelle, Apparaturen und Gebrauchsgegenstände, mit denen er sie zu beherrschen sucht. Dabei hat er es erstaunlich weit gebracht, womit ich mich aber nicht weiter aufhalten will, denn ein Ziel – das wichtigste, in der Mythologie, Kunst, Literatur, im Film, in den Labors immer wieder anvisierte – hat er bis heute nicht erreicht: sich selbst zu erschaffen, oder einen Zwilling, ein Gegenüber, welches ihm vollständig durchschaubar, also steuerbar wäre, zugleich die Schwelle der Unsterblichkeit überschritte, wäre nur der genetische Code samt Umgebungsbedingungen zu reproduzieren

Das freilich gelänge nur, wenn er nicht weniger als das ganze Universum neu erschüfe. Alle anderen Versuche brachten bisher nichts als Chimären, mechanische Ungetüme, kurzlebige Missgeburten und Alpträume hervor. Und doch…

Bisweilen begegnet einer Figuren und Verhaltensweisen, Ritualen, Redensarten, Konflikten, Gewalttaten einer längst vergangenen Zeit ganz direkt. Sie laufen ihm über den Weg, sie rücken ihm buchstäblich auf den Leib, sie schüchtern ihn ein oder bringen ihn zum Lachen, und das mit einer körperlich verstörenden Vertrautheit, wie sie aus Büchern, historischen Abhandlungen, niemals zu gewinnen wäre, nicht einmal aus Filmen. Nur ausnahmsweise treten ihm Personen noch einmal gegenüber, bei denen der Ausspruch „hat sich überhaupt nicht verändert“ passen würde. Vielmehr sind es Charaktermasken und Handlungen, bei denen nur die Kostüme gewechselt haben. So als ereignete sich Erlebtes – zumindest Erinnertes oder auch Geträumtes – ein zweites Mal.

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Dimensionen und Dynamik der Macht (II)

(Zurück zu Teil I)

Die Gleichung Leben = Materie + Information bedarf genauerer Betrachtung. Zunächst beinhaltet die “Materie” darin nach der Einstein’schen Äquivalenz E = mc² auch die Energie. Die “Information” umgreift die Gesamtheit der Strategien, die im Genom evolutionsgeschichtlich eingeschrieben sind und sämtliche Lebensprozesse steuern – nach außen und innen. Der Anschaulichkeit halber könnte man sie denen im “Betriebssystem” eines Computers vergleichen, nur sind sie um astronomische Größenordnungen komplexer und vielgestaltiger. Nicht von ungefähr ist das Genom ein ebenso unerschöpfliches Forschungsfeld wie die Elementarteilchen und die Kosmologie.

Sich mit der informellen Seite der Macht als sozialem Phänomen zu befassen heißt also: auch unbewusste Prozesse im Verhalten von Individuen und Gruppen einbeziehen. Hier können organische Grundimpulse (Atmung, Ernährung, Schlaf) außer Acht gelassen werden, die so unvermeidlich wie automatisch das Handeln von Individuen bestimmen. Delegieren lassen sie sich – besten- oder schlimmstenfalls – an medizinische Apparate. Schon anders verhält es sich mit der Reproduktion (wie mit der Sexualität allgemein): Es gehören mindestens zwei dazu. Hier erscheinen Dominanz und Unterwerfung als Impulse informeller Macht. Sie setzen keineswegs verständige Überlegung voraus. Gefühle wie Angst, Neid, Missgunst, Hass, Rachedurst, aber auch Schutzbedürfnis, der Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit, Mitleid triggern oder verstärken sie. Und sie lassen sich tatsächlich an andere – Einzelne oder Gruppen – delegieren.

Titel von "Macht und Stellvertretung"

Weshalb Demokratien zur Herrschaft von Wenigen werden

Wolfgang Sofsky hat 2019 dazu einen Essay veröffentlicht. “Macht und Stellvertretung” ist – wie Elias Canettis “Masse und Macht” – eine Phänomenologie politischer Verhaltensweisen und Organisationsformen, obendrein ein wahres Pandämonium sozialer Rollen und zugehöriger Interaktionen. Canettis wie Sofskys Texte vereinen Tiefe, Klarheit und sprachliche Originalität.

Nicht von ungefähr wählt Sofsky in einigen Passagen das Theater als Vergleich: Dort wurden von Anbeginn Fragen der Macht und der Moral öffentlich verhandelt. Fast alle Charaktermasken – der Tribun, der Demagoge, der Statthalter, der Tyrann, der Anhänger, der Parteisoldat, der Schildknappe und viele andere – begegnen uns seit der Antike. Unveränderte Mythen und Handlungsmuster machen die Dramen von Aischylos über Shakespeare, Molière, Tschechow… bis in die Gegenwart aktuell. Zugleich ist Theater – wie alle Medien – Instrument informeller Macht: Das Geschehen hinter der Bühne bleibt fürs Publikum im Dunkeln. „Vertretungsmacht ist nicht zuletzt Theatrokratie“ schreibt Sofsky im Kapitel „Publikum“. Alle seine Gedanken – etwa zu Organisationsformen der Hierarchie oder zur Partizipation – führen immer auf beobachtbare, ganz gegenwärtige und konkrete Erscheinungen und Personen, ich bin ihnen mit größtem Vergnügen gefolgt.

Unvermeidlich geriet ich an eine schwer fassbare, notwendige Qualität informeller Macht, eine notwendige Voraussetzung für Stellvertretung (egal ob durch Delegierte, Anwälte, Vorstände): Das Vertrauen. Es gründet nur zum Teil auf sachlichen Erwägungen. Intuition und Antizipation bestimmen die Entscheidung des Einzelnen, wem er es schenken, wem verweigern will. Dabei ist er sehr stark von „Herdenimpulsen„, von seiner Gruppenzugehörigkeit und  Stellung beeinflusst.

Die Funktionsmechanismen der modernen Medien orientieren sich fast ausschließlich an Quantitäten: Quoten, Reichweiten, Klickzahlen. Sie sind darin genuin kollektivistisch. Die scheinbare Freiheit des Internets, der sozialen Medien insbesondere, jedem eine eigene Stimme zu geben, geht in der Aufmerksamkeitsökonomie unter, deren Dynamik wirtschaftlichen und politischen Zielen verschiedenster Korporationen – Konzerne, Parteien, NGO – unterworfen ist.

Molière als Cäsar, gemalt von Nicolas_Mignard_(1658)

Molière in der Rolle als Cäsar 1658. Als er den religiösen Heuchler Tartuffe spielte, konnte ihn nicht einmal der König vor der Wut des Klerus schützen

Shakespeares Globe Theatre war von buntem Getümmel erfüllt, ein Marktplatz der Meinungen und Gefühle. Wandertruppen bis weit ins 18. Jahrhundert spielten ohnehin auf den Märkten, Aufführungen lebten von Zurufen und passenden Extemporés der Akteure, die Dramen entstanden und veränderten sich im Wechselspiel mit der Menge. Wenige stiegen – wie Molière – auf stehende Bühnen mit barocker, kirchenähnlicher Architektur samt Königsloge empor. Es folgte das bürgerliche Theater mit „vierter Wand“, Spartenteilung und Regie als Beruf, abhängig von behördlicher Förderung. Die Akteure sind allen möglichen informellen Zwängen unterworfen.

Das Publikum darf, ob zur Unterhaltung oder moralischen Reinigung, mitfühlen. Nur ausnahmsweise handelt es: Dann löst ein einzelner, vernehmlicher Zwischenrufer womöglich den Abbruch einer Aufführung aus. Das aber gelingt nur, wenn er „Sprachrohr“ vieler ist, die ihren Unmut delegieren.

Natürlich kann auch er beauftragt sein – von Partei und Stasi wie in der DDR, von einer NGO (etwa der Feministen oder Tierschützer), einer religiösen Gruppierung, einem konkurrierenden Unternehmen. Der Nachweis solcher Interessenvertretung wird immer schwieriger, je komplexer, je weiter ein Medium sich in globale Dimensionen ausdehnt. Um informelle Macht zu erlangen, ist der materielle Besitz des Störers übrigens nebensächlich, sogar die Qualität seiner Einwürfe. Mancher „YouTuber“ profitiert nur sehr kurz von der großen Aufmerksamkeit für seine Aktion. Gewinner sind die, denen er zugearbeitet hat. Sie profitieren, wenn sie dauerhaft Aufmerksamkeit neuer Gruppen gewinnen – am Ende womöglich massenhaftes Vertrauen. Sie machen sich zu Stellvertretern und setzen damit den Prozess der Entfremdung in Gang, den Sofsky eindrücklich beschreibt. Dabei wird informelle Qualität durch Quantität ersetzt. Deutungshoheit über die Wirklichkeit ist nicht mehr im verständigen Diskurs über den Sinn zu erlangen, sondern wird im Machtkampf der Ideologien ausgefochten.

Wenn Stellvertretung hinfällig wird, weil sie an Konflikten der Realität scheitert, und das Vertrauen der Vertretenen verliert, kommt die Zeit der Revolutionen, der Ablösung einer Elite von der informellen Macht. Das Spiel beginnt von Neuem. „Das Drehbuch der Oligarchie und politischen Entfremdung beginnt keineswegs erst, nachdem Ruhe eingekehrt ist. Es war niemals aufgehoben, auch nicht während des Sturzes des alten Regimes. Und es bleibt solange in Kraft, wie die letzte Revolution noch aussteht, die Aufhebung jeder Stellvertretung.“

Wolfgang Sofskys Schlußsatz im Essay lässt keine Zweifel: Der Autor macht sich nicht zum Stellvertreter seines Lesers, sondern verweist ihn auf sich selbst zurück. Das hat mir besonders gefallen. Auch „Der menschliche Kosmos“ gründet auf diesem Verständnis von Freiheit.

Wolfgang Sofsky: Macht und Stellvertretung, Taschenbuch 132 Seiten, Verlag: Independently published 2019, ISBN-10: 1093388749 ISBN-13: 978-1093388749, 9,80 €

Bernd-Olaf Küppers: Die Berechenbarkeit der Welt – Grenzfragen der exakten Wissenschaften Gebunden 194 Seiten, S. Hirzel Verlag 2012, ISBN 978-3-7776-2151-7, 32 €

Dimensionen und Dynamik der Macht (I)

Pyramid_of_Capitalist_System

Die Machtpyramide des Kapitalismus im 19.Jahrhundert

Macht lässt sich in zwei Dimensionen verorten: In der materiellen und der informellen – in Besitz und sozialem Rang. In beiden formt sie sich zu verschiedensten dynamischen Systemen von Wirtschaft und Politik aus. In den zeitgenössischen Oligarchien mit ihren elaborierten, weltumspannenden Netzwerken erreichen diese Systeme höchste Komplexität. Ihr Streben geht dahin, stabil zu werden bis zur Unangreifbarkeit (so wie Individuen wünschen, unsterblich zu sein – aber diesen Gedanken führe ich hier nicht weiter fort). Sind nicht Herrschsucht und Habgier, Missgunst und Neid elementare Treiber der Dynamik aus Erlangen und Vermeiden? Und hängt nicht der informelle Machtanteil womöglich mit der Fragilität von Oligarchien zusammen?

Geschichte und Gegenwart belehren einen fortwährend, wie regelhaft manche Muster im Wechsel von Krise, Absturz, Chaos, Neuordnung immer wiederkehren, sei’s in Familien oder Sozialgebilden unterschiedlicher Größenordnung. Besitz ist offensichtlich bedeutsam für Macht; das Kapital erlangt universellen Zugriff auf Güter und Dienstleistungen aller Art – aber es würde scheitern, wäre es uninformiert. Lassen sich die Wechselwirkungen von „Materie + Information“ in den Lebenszyklen der Macht erkennen, beschreiben, gar modellieren?

Titel von "Die Berechenbarkeit der Welt"

Revolutionen, Krisen, Kriege im Computermodell?

Bernd-Olaf Küppers war Naturphilosoph an traditionsreichem Ort: nach den ideologisch verfinsterten Jahren von Nationalsozialismus und SED-Herrschaft forschte und diskutierte er an Jenas Universität als freier Geist. Küppers hat außer naturwissenschaftlicher Expertise auch gründliche Kenntnis von der Wissenschaftsgeschichte. „Was ist Leben?“, fragt er zu Anfang des dritten Kapitels in seinem Buch „Die Berechenbarkeit der Welt“ und antwortet mit der Gleichung Leben = Materie + Information. Die spröde Formel erläutert er überraschend kurzweilig: auch ein unerfahrener Leser wird verstehen können, was Physiker, Mathematiker, Biologen und Informatiker zu einem solchen Grundgedanken hinführte.  Küppers sagt den Strukturwissenschaften – etwa der Systemtheorie – als Querschnitt und zugleich als Fundament sowohl der Geistes- wie der Naturwissenschaften voraus, dass sie sich der Berechenbarkeit der Welt immer weiter nähern.

Das entspricht wohl dem optimistischen Blick eines Emeritus aus dem Jenaer Universitätsturm. Hinter dem Wunsch nach Berechenbarkeit der Welt verbirgt sich nämlich ganz realer Sprengstoff: der Wunsch, sie zu beherrschen. Das Wissen unserer Zeit wächst gewaltig, die Verhaltensmuster von Steinzeit und Mittelalter wachsen jederzeit mit: gewaltbereit. Umso dringlicher wird die Frage nach den sozialen Strukturen der Zukunft – Küppers‘ Buch wirft sie nicht auf.

kosmosneutitel

Einige Züge von individuellem und Gruppenverhalten habe ich in „Der menschliche Kosmos“ – die Neufassung von 2020 gibt es als E-Book u. a. direkt im Salier Verlag, wo 2006 auch die Erstausgabe erschien – näher betrachtet, und der wichtigste Ansatz dabei war, nicht mehr nur nach Gründen (warum?) sondern nach Zielen (wozu?) im ununterbrochen laufenden Strom von Entscheidungen des Menschen und seiner sozialen Gebilde zu fragen. Das Geheimnis hinter – meist unbewussten, intuitiven – Entscheidungen lässt sich mit dem Begriff der Antizipation fassen. Es ist ein schillernder Begriff, ich verstehe darunter die – meist unbewusste – Vorwegnahme eines Handlungsziels, die Impulse zum Erlangen bzw. Vermeiden steuert. Wie sehr unser Alltag davon abhängt, dass wir unablässig „automatisch“ agieren, können Sie im 6. Kapitel des „Kosmos“ etwas genauer nachlesen.

Dass Macht auf besondere Weise antizipiert wird, dürfte niemanden überraschen. Das tägliche Geschehen in den „Sozialen Netzwerken“ bezeugt eindrucksvoll, wie stark die Gier nach Aufmerksamkeit ist – also nach einem Platz an der Sonne informeller Macht. Es mag sein, dass der Ruhm von „YouTubern“ und viralen Kurznachrichten nur kurze Zeit währt: Wie sehr und intensiv sie von Politik und herkömmlichen Medien in Dienst genommen werden, beweist ihre Eignung als Instrumente im Kampf um die Köpfe der Massen. Geld und Besitz erwirbt damit nur ein winziger Bruchteil der im Netz verbundenen Nutzer. Die Megakonzerne der „Aufmerksamkeitsökonomie“ aber bewegen die Welt und häufen Milliarden auf Milliarden. Sind sie andererseits nicht auch anfälliger als Stahl- und Automobilfabriken? Wie sieht es aus, wen ein solcher Koloss ins Schlingern kommt, gar zusammenbricht?

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Die Macht der Rituale und die Rituale der Macht

Der Text steht am Beginn des 6. Kapitels von “Der menschliche Kosmos” Es handelt unter anderem von der Verführungskraft der Macht und den Schrecken der Freiheit

Sklavenhändler treiben und misshandeln ihr Beutegut

Ostafrikanischer Sklavenhandel

Soziale Rollenmuster im Alltag: Wie sie entstehen, sich erhalten und funktionieren. Aggression und Dominanz. Die Despotie des Spontanen. Dominanz und die Herrschaft der Dominierten, individuelle und soziale Regelsysteme. Fürsorge reproduziert Bedürftigkeit. Rituale des Gestells und unbeherrschbare informelle Netze im Informationszeitalter: die Macht von Klatsch und Tratsch.

Dieses Kapitel gehört Ihnen. Es lebt davon, dass Sie eigene Erfahrungen auswerten mögen und bereit sind, etwas Neues auszuprobieren:

  • Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, wo Sie mit sich alleine sind und wirklich ungestört, mindestens für eine Viertelstunde. Legen Sie sich auf eine nicht zu weiche Unterlage und entspannen Sie sich, um Ihren Körper zu spüren. Schließen Sie die Augen und erinnern Sie sich des Tagesablaufs – so als liefe ein Film ab, der Sie alles der Reihe nach noch einmal erleben lässt, was vorgefallen ist. Nehmen Sie sich nicht zu viel vor: zwischen Nachtlager und Morgentoilette passiert schon eine ganze Menge. Setzen Sie sich lieber einen Endpunkt – etwa die morgendliche Begrüßung in Ihrer Arbeitsumgebung oder die Verabschiedung der Kinder auf den Schulweg.
    Wenn Sie eine erste grobe Ablaufskizze haben, dann gehen Sie in die Details. Was war ihr erster Gedanke beim Wachwerden? Erinnern Sie sich wirklich noch, mit welchem Bein Sie aufgestanden sind? Was war Ihr erster Kontakt zu einem anderen Menschen? Was genau haben Sie beide getan? Und in welcher Reihenfolge?

Sie werden feststellen, dass es einige Mühe macht, wirklich jeden Augenblick in der Erinnerung zu verfolgen und dass viele Handlungen unbewusst und routiniert ablaufen. Besondere Aufmerksamkeit und eine klarere Erinnerung verbinden sich mit jenen, die neu sind oder mit Störungen und Abweichungen einhergehen. Eine ganze Reihe von Handlungszielen erreichen Sie ohne lange nachzudenken, meist sind sie mit Ihren Gedanken woanders, während Sie Filtertüten mit Kaffee füllen oder Orangensaft aus dem Kühlschrank nehmen. Auch, wenn Sie Ihrem Lebenspartner einen Kuss geben und sagen: „Das Frühstück ist fertig“.
Der Kuss ist dennoch wichtig, denn das Ritual konsolidiert die häusliche Rollenverteilung. Jede noch so gewohnheitsmäßige Handlung ist wichtig für Ihr Gleichgewicht, das bemerken Sie spätestens, wenn Sie auf Reisen sind. Wenn nicht, sind Sie immer auf Reisen, nur mit Mama gereist oder liegen ständig unbeweglich auf einem Nagelbrett und schauen in den Himmel. Aber dann sind Mama oder das Nagelbrett unentbehrlich für das Gleichgewicht. Sei’s drum: normalerweise beherrschen Sie Ihre Lebensumgebung routiniert, mit unzähligen unbewussten Handlungen, einige davon haben den Charakter von Ritualen. Das sind diejenigen, die soziale Rollen definieren.
Es muss nicht ein fehlender Kuss sein, an dem Ihnen das bewusst wird: Immer wenn ein solches Ritual merklich verändert wird oder wegfällt, bedeutet das eine erhebliche Veränderung der Interaktionsmuster und stört das Gleichgewicht. Wir haben ein tief wurzelndes Bedürfnis, unser Umfeld mit Ritualen und routinierten Handlungen zu beherrschen und zugleich sind wir von diesem Umfeld abhängig – es handelt sich eben um Wechselbeziehungen.
Für Menschen, deren Interaktionsmöglichkeiten eingeschränkt sind, können Handlungsroutinen besonders wichtig werden: für Autisten oder alte Menschen zum Beispiel.

Meine Zuhörerin

Meine Großmutter überlebte zwei Weltkriege und zwei Diktaturen

  • Ich erinnere mich noch sehr gut, wie meine Großmutter im hohen Alter immer mehr die Fähigkeit verlor, spontan auf Veränderungen zu reagieren. Sie nahm nicht auf, was um sie herum vorging. Aber bestimmte Dinge liefen routiniert ab: das Wegräumen des Bettzeugs und das Kaffeekochen ebenso wie das Saubermachen und Einkaufen. Wie sehr sich Routinen und Rituale vom Wahrnehmungsvermögen abkoppelten, merkten wir daran, dass die eingekauften Waren immer dieselben waren, aber gar nicht gebraucht wurden, zum Beispiel -zig Butterpackungen. Wenn meine Großmutter ihr Appartement verließ, schloss sie ihre Tür ab und steckte den Schlüssel in die Einkaufstasche. Am Ende ihres Lebens – sie war schon neunzig Jahre alt – funktionierte auch dabei die Rückkopplung nicht mehr. Mehrmals wandte sie sich auf dem Flur des Appartementhauses um und fragte: „Habe ich denn auch abgeschlossen?“ und dann suchte sie in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, fand ihn und hatte ihn augenblicklich wieder vergessen, genau wie die vielen Butterstücke in ihrem Kühlschrank.
    Meine Besuche bei ihr waren natürlich rituell: im Winter stellte ich meine Langlaufski im Flur ab, sie deckte den Tisch mit Kaffee und Kuchen, wenn ich durchgefroren von den Bergen herunterkam; im Frühling sprachen wir von den blühenden Gärten und dann folgten unabhängig von der Jahreszeit Beschwerden darüber, dass meine Mutter sie zu selten besuchte.

    Solche Rituale in der Familie können Sie bestimmt auch beschreiben. Vielleicht können Sie sogar herausfinden, welche Rollenzuweisungen sich mit den Ritualen verbinden.
    Wie sehr wir von funktionierenden Handlungsroutinen und Ritualen abhängen merken Sie, wenn ihnen morgens der Filter platzt und Sie den Satz im Kaffee haben. Manchmal reicht weniger, um heftige Reaktionen zu provozieren. Noch stärker wirken jene Rituale, die unsere sozialen Interaktionsmuster ausmachen. Wenn jemand seinen Lebenspartner verlässt, ist er vielleicht von der neuen Liebe aufgewühlt oder den neuen Möglichkeiten gefangen genommen, für die er ein fade gewordenes Zusammensein aufgibt. Der Alleingebliebene stürzt – selbst wenn die Trennung für ihn nicht überraschend kommt – in ein Chaos. Es ist übrigens egal, ob die verlorene Liebe oder der Tod zur Trennung führt: Die unterbrochenen Lebensmuster bringen aus der Balance. Handlungsroutinen laufen in die Leere. Die Antizipation der durch Rituale gesteuerten Wechselbeziehungen funktioniert weiter, aber das Ziel der Erwartung ist nicht mehr da. Und das Ergebnis ist Phantomschmerz, der unser Dasein verstört, egal ob es sich um den Verlust eines Körperteils, eines geliebten Menschen, eine Vertreibung aus der Heimat oder auch nur den Tod eines Haustieres handelt, das lange Zeit mit uns zusammenlebte.

Ansicht eines verwahrlosten Fachwerkhauses in der Herrenstraße in Suhl, ca. 1960er Jahre

Im Sozialismus verkommenes Fachwerk – Heimat kindlicher Rituale. Mehr im „Blick vom Turm“

Der Rauhaardackel meiner Mutter lag gewöhnlich auf dem Sofa und sprang herunter, wenn jemand die Wohnung betrat. Dann flitzte er in den Flur, um den Ankömmling zu begrüßen. Er bellte nur, wenn es geklingelt hatte.
Als der Bursche in die ewigen Jagdgründe einging, war diese stereotype Bewegung samt dem Geräusch der Pfoten immer noch da, als hätte er eine Spur in der Raumatmosphäre hinterlassen. Natürlich war das nur in unsere Wahrnehmung eingewachsen. Jedes Mal, wenn wir im Wohnzimmer saßen und sich ein Schlüssel im Türschloss drehte, antizipierten wir den alten Gefährten – wie
Hamlet den Geist seines Vaters.

So wenig es ein Leben ohne Interaktion geben kann, so wenig kommt Interaktion ohne Rituale und Routinen aus. (Routinen, das haben sie sicher schon bemerkt, definiere ich der Unterscheidung halber als zweckbestimmte Handlungen, die im Gegensatz zu den Ritualen keine sozialen Rollen definieren). Die Komplexität unserer Bewegungen und Handlungen ließe sich ohne sie nicht bewältigen. Das Anschnallen im Auto ist eine solche Routine, das Frisieren vor dem Spiegel nur, wenn es nicht der Selbstinteraktion dient – es ist praktisch immer ein Ritual. Es ist normalerweise ein Ritual der Selbstdefinition.
Heben wir nun einmal die Augen auf zu den Mächtigen dieser Erde. Sie halten es sicher auch nicht für einen Zufall, dass Macht mit Begriffen wie „hochgestellt“, „erhaben“ oder einfach „groß“ verbunden ist. Klar: die früheste, tiefste und nachdrücklichste Erfahrung mit Unterordnung und Macht ist die rein körperliche Unterlegenheit des Kindes.
Die Gegner Helmut Kohls hatten es insofern um einiges schwerer als die Oskar Lafontaines, zeitweise um fast anderthalb Zentner. Während Kohl mit seiner auf 194 Zentimeter verteilten Masse jede Menge Luft von der politischen Bühne schob, schien der Zwerg aus dem Saarland ständig auf den Zehenspitzen stehen und das Kinn nach oben recken zu müssen, um auf andere herabsehen zu können. Die katastrophalen Wirkungen auf seine Sympathiewerte beim Publikum hat Siegfried Frey 1999 in seinem Buch „Die Macht des Bildes“ erörtert. Freys wissenschaftliche Arbeit zur nonverbalen Kommunikation ist unübertroffen. Er wies u.a. nach, dass und auf welche Weise Avatare durch Nachahmen menschlicher Mienen und Gesten dieselben Sympathien – oder denselben Abscheu – erregen können, wie ihre menschlichen Vorbilder.
Im Zusammenhang mit Kohl habe ich nicht einmal von wirklich bösen Giftspritzen unter den weiblichen TV- Konsumenten so etwas wie „fieser alter Stinker“ gehört. Witze ja, Abfälliges über seine Intelligenz und seine Bildung die Menge, aber keine wirklich kränkende Bezeichnung. Noch der Wirbel rund um die Spendenaffäre und den nachfolgenden Untersuchungsausschuss zeigt, welche Wellen ein Koloss Kohlschen Formats schlagen kann, und wie er damit seine politischen Gegner ins Strampeln bringt.

Zarin Katharina II. und ihr Hofstaat

Wer wagte es, der Zarin das höfische Zeremoniell zu verweigern? Ihr gar den Rücken zuzuwenden?

Die körperliche Vorgabe begünstigte bei Kohl eine Rollenverteilung nach dem Schema „Vater und Kind“. Sie wäre aber wirkungslos, wenn nicht entsprechende Rituale zwischen dem „Riesen“ und seiner Umgebung dieses Schema fortwährend reproduzieret hätten. „Die anderen spielen den König“, das gilt für die kleine Prinzessin und ihre Spielkameraden wie in der großen Politik: wenn nicht Hofschranzen und politische Gehilfen die Korona des Patriarchen erzeugen, wenn es seine Feinde nicht sehr viel Mut kostet, sich ihm und seinem Klüngel entgegenzustellen, fehlt ihm das Wichtigste zu seiner Rolle. Und damit sind wir an einem wichtigen Punkt gelandet: beim Dominanzprinzip.
Leiden oder triumphieren, Amboss oder Hammer sein“ – das ist die klassische Entscheidung, bisweilen auf die platte, mechanische Frage nach der Macht, die Frage „Wer – wen“ verkürzt. Damit ist der systematische Fehler unserer Wahrnehmung, die Reduktion komplexer Prozesse auf simple Kausalitäten, total und brutal zum politischen Prinzip erhoben. Leider haben die katastrophalen Folgen solcher Machtpolitik wenig Einsicht bewirkt. Dem systematischen Fehler folgt der Auswertungsfehler. Aber es ist mit dem engen Blick auf ewige Abfolgen von Ursache und Wirkung eben noch viel schwieriger, als mit dem auf Sonnenauf- und untergang: Wir sehen ja die Wechselwirkungen von Umgebung, Auge und Gehirn nicht, wir sehen, was uns unser Gehirn sehen lässt. Und an unserem Verhalten erscheint uns nichts so selbstverständlich wie Dominanz.

Fortsetzung

Lachen an der falschen Stelle – Rollenmuster am Arbeitsplatz

StasikindEine junge Frau aus unserem Bekanntenkreis hat das seltene Talent, über sich selbst lachen zu können. Fällt ihr etwa in einer Gesellschaft ein Glas herunter, dann bricht sie nach einer Schrecksekunde spontan in schallendes Gelächter aus, während die Umstehenden noch pikiert auf Scherben und Weinflecke im Teppich starren. Die Unglückliche bekommt einen roten Kopf, entschuldigt sich und läuft, den Schaden zu beheben, wobei sie die Hand vor den Mund presst, und ihr Körper unter aufwallender Heiterkeit zuckt. Im Freundeskreis trägt ihr diese Reaktion auf eigenes Missgeschick Sympathien ein. Die Begabung hat nur einen Haken: sie bringt alle anderen um den – offenen oder heimlichen – Genuss der Schadenfreude.

Stellen Sie sich vor, ein Abteilungsleiter verstrickt sich während einer Präsentation mit dem Fuß im Kabel des Projektors, reißt das Gerät um, es poltert, der Brenner platzt und alles ist hin. Der Mann könnte im Handumdrehen Ansehen gewinnen, wenn er lachend sein Ungeschick eingesteht – vorausgesehen, dass er nicht vorher schon bodenlos verhasst ist. Was aber, wenn das gleiche einem Angestellten widerfährt?

Sie werden feststellen, dass akzeptierte und inakzeptable Formen des Ausdrucks – Gelächter oder schuldbewusste Verlegenheit, fahriges Murmeln von Entschuldigungen mit abgewandtem Gesicht etc. – von ziemlich genauen Rollenvorgaben abhängen. Diese Rollenvorgaben sind kein Zufall, und Verstöße werden geahndet: mit offen gezeigter Missbilligung, mit verdrehten Augen, mit Schadenfreude.

Zurück zu unserer jungen Frau. Sie arbeitet erfolgreich in einem mittleren Unternehmen, ist dort gut angesehen, denn sie ist ehrgeizig und hilfsbereit, aufgeschlossen und verantwortungsbewusst. Sie zögert nicht, Fehler einzugestehen – und sich darüber lustig zu machen. Ihre unmittelbaren Vorgesetzten aber bringen ihre Bewertung auf die Kurzformel: tüchtig, intelligent – aber arrogant und mit der Neigung, Kompetenzen zu überschreiten. Sie meinen vor allem die Kompetenz der Rollenzuweisung. Für die gelten im Gestell wahrhaft eiserne ungeschriebene und kaum reflektierte Regeln – egal ob in einer staatlichen Behörde oder einem Familienbetrieb. Danach riskieren Sündenböcke, Unglücksraben und Querulanten einiges, wenn sie einfach loslachen.

Vom Leben als Angestellter berichtet Kapitel 2 meines Buches „Der menschliche Kosmos“. Dieses Kapitel ist jetzt als Diskussionsstoff im zugehörigen Weblog veröffentlicht