Das Telefon klingelt mittags um 12, meine Frau sagt, das habe es vor einer Stunde bereits getan, irgend ein Doktor sei dran gewesen, seltsamerweise mit unterdrückter Nummer. Als ich abnehme, meldet sich zu meiner Verblüffung ein Oberst. Er sei vom „Grenzschutz Kommando Ost“, Johannes Bott sein Name, habe mich auf der Liste der Unterzeichner der „Erklärung 2018“ gefunden. Da – wie ich wisse – die Lage der Truppe schwierig sei, es fehle einfach an Personal, suche man nach Unterstützung von einer privaten Reserve, und man habe mich für „tauglich“ befunden.
Ich verkneife mir den Lachanfall, mache ihn auf mein Alter und meinen Mangel an militärischer Begeisterung aufmerksam. Das sei nicht so wichtig, jede Art Unterstützung sei willkommen. Nun, sage ich, dann senden Sie mir doch ein kurzes Schreiben mit Briefkopf Ihrer Behörde… Nein, nein, dies sei eine inoffizielle Anfrage, deshalb auch die unterdrückte Rufnummer, er verfolge die Strategie der „Kaltacquise“.
An dieser Stelle weise ich ihn darauf hin, dass ich mich weder als Spender der Reservearmee noch als Satirespender für die „Titanic“ und ähnliches Spaßgewerbe eigne, woraufhin er mich wissen lässt, das sei natürlich überhaupt kein Spaß, aber er werde mich – in Absprache mit den Initiatoren der Erklärung 2018 – von der Liste der Unterzeichner streichen, da ich nicht habe belegen wollen, dass ich mehr als ein Maulheld sei.
Diese Einschätzung meiner Persönlichkeit, kann ich darauf nur erwidern, lasse erkennen, dass seine Kenntnis von „Strategie“ ziemlich lückenhaft sei und er wohl ausschließlich bei Deppen Erfolg haben werde. Er möge mich also streichen, ich werde mich gern meinerseits bei den Initiatoren über den Sinn seiner Mühewaltungen erkundigen. Sollte sich das Ganze als Scherzaktion herausstellen, möge er gern mit einer Anzeige wegen Amtsanmaßung rechnen.
Er schwätzt noch eine Weile geschwollen, wünscht einen guten Tag, ich ihm viel Spaß beim Telefonieren. Ich bin schon gespannt, welche politischen Weltenretter sich den Erfolg ihrer satirischen Attacke gegen die bösen Rechten – möglichst mit Hochschulabschluss – ans Banner heften wollen. Neue Strategie? Warten wir die Wirkung ab.
Satire
Lektionen von Liebe, Vertrauen und Glück
„Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist mit uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Dietrich Bonhoeffer beschloss so sein Gedicht im letzen Brief aus der Haft 1945 an seine Mutter und seine Verlobte. Maria von Wedemeyer wurde nach ihrem Tod 1977 in Gernsbach bestattet; eine Gedenktafel mit dem Gedicht erinnert neben dem Eingang zum Friedhof an ein mutiges Leben und eine unerfüllte Liebe. An einem Tag wie heute findet einer dort Hoffnung, Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens, Ermutigung gegen die Banalität des Bösen.
Was macht diese Banalität aus? Zur – erfolgreichen – Grundausstattung menschlicher Wahrnehmung und menschlicher Verhaltensimpulse gehört, auf Angst einflößende Eindrücke sehr schnell aggressiv reagieren zu können: Mit Draufschlagen – aktiv – oder Verweigern – passiv. Das Repertoire einschlägiger Handlungen ist viel größer als das Repertoire menschlicher Zuwendung. Die Mienen des Hasses, des Ekels, drohende Gesten und andere aggressive Signale nonverbaler Kommunikation sind – das lässt sich schon bei kleinen Kindern beobachten – viel leichter abrufbar als Signale der Sympathie. Ausnahme: Das wohlfeile und unspezifische Lächeln. „Seien wir nett zueinander und tun wir uns nichts“: Das ist ein guter, in der Regel erfolgreicher Einstieg fürs Kommunizieren – oder eine lügnerische Falle. Bohoeffers Gedicht fehlt dieses gleisnerische Lächeln, es ist tiefernst:
1. Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.
2. Noch will das Alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.
3. Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.
4. Doch willst du uns noch einmal Freude schenken
an dieser Welt und ihrer Sonne Glanz,
dann wolln wir des Vergangenen gedenken,
und dann gehört dir unser Leben ganz.
5. Lass warm und hell die Kerzen heute flammen,
die du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint in der Nacht.
6. Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.
7. Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
So fasst einer im Angesicht des Todes seine Liebe zum Leben in Worte. Derlei passt freilich nicht in eine Spaßgesellschaft, die davon lebt, schnell und schillernd Feindbilder entstehen zu lassen und auszumalen. Das Böse, die Bösen – sei ’s in Effigie – zu verprügeln ist sexy, garantiert Applaus und gutes Ansehen bei den Guten. In der Euphorie von Quoten und Klickzahlen arbeiten all diese Guten, die bei genauem Hinsehen leider nur Gutmeinende sind, Hass und Gewaltherrschaft zu. Es kostet sie nichts. Sie verdienen gut damit, sich selbst und die Beifall blökende Herde gut aussehen zu lassen. Im Knast, in den Lagern saßen und sitzen andere, denen die Gutmeinenden aus der Entfernung und im Nachhinein nicht mehr schulden als billige Mitleidsrituale und eine gewisse Ehrfurcht: Lippenbekenntnisse.
Bonhoeffers Gedicht aus der Todeszelle dagegen gibt dem Einzelnen das Vertrauen zurück: Ob er an einen Schöpfer glaubt oder nicht – menschliche Größe bemisst sich an Qualität, nicht an Quantität.
War das jetzt zu kompliziert für Sie? Ich glaube nicht. Ich folge nicht jener Logik von Medienmachern in Öffentlich-Rechtlichen oder privaten Anstalten, nach der die Mehrzahl der Menschen zu einfältig ist, Konflikte anders zu verstehen, als wenn sie in öden journalistischen Ritualen aufs Niveau von Deppen „heruntergebrochen“ sind. Viele Politiker und Journalisten kehren Konflikte zum Zweck eigener Daseinsvorsorge unter den Teppich, oft und lange erfolgreich – Lösungen haben sie nicht anzubieten. Das wollen sie auch gar nicht. Sie wollen Klicks und Quote, massenhaft. Der Einzelne soll in ihrer Rechnung vernachlässigt werden können. Das ist das Grundprinzip des Sozialismus – auch des Nationalsozialismus. Bonhoeffer – leider zu wenige Einzelne mit ihm – sind dieser Rechnung nicht gefolgt.
Vom Glück, einen Nagel im Kopf zu haben
Unter Theaterleuten in Ostberlin war in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine geläufige Redensart, Einer oder Eine habe “einen Nagel im Kopf”. Solche Figuren fielen dadurch auf, dass sie sich abweichend von der Normalität verhielten. Die Normen setzte eine totalitäre Gesellschaft – also changierte die Bedeutung der Redensart: Wer einen Nagel im Kopf hatte, konnte ein Psychopath sein, ein Idiot oder jemand, der sich auf irgend mögliche Art und Weise den Regeln, Bedrohungen und Verführungen vermeintlicher Normalität durch skurriles, paradoxes oder sonstwie dekonstruktives Verhalten entzog. Jedenfalls schwang, wenn das Prädikat vom Nagel im Kopf, einem langen gar, oder – Superlativ – einem rostigen, vergeben wurde, weniger Häme als eine gewisse Achtung mit. Der Nagel im Kopf war eine mit kollektiver Erwartung unvereinbare Lebensform.
Vielleicht ist das Sorokins genialer Kunstgriff: Dass in einer zukünftigen Gesellschaft der Nagel im Kopf zur kollektiven Wunschvorstellung werden könnte. Dass in nicht allzu fernen Tagen nach allerlei Kriegen der Eurasier gegen Wahabiten und Salafisten, nach zwiespältigen Bündnissen mit Chinesen sich – in Russland zumal – seltsame neue Kleinstaaten bilden könnten, deren einer im fast unwegsamen Altaigebirge zur neuen Schweiz aufstiege, nicht als Hort des Geldes, sondern als Hort des Tellurs, Rohstoff für einzigartige Nägel. Ein Keil aus dem seltenen Element, kunstvoll eingeschlagen möglichst von Fachleuten, verschafft dem Kopfinhaber das wahre Glück auf Erden. Das Tellur korrodiert, der Nagel “rostet” und entfaltet eine enorm vitalisierende Kraft, leider macht das süchtig. Deshalb mangelt es nicht an Schwarzhändlern, Fälschern und scheiternden Selbstversuchen.
In dieser schrägen Welt, bevölkert von allerlei Chimären, Zwergen, Riesen, Abenteurern, tun die Menschen, was sie schon immer taten, tun und zweifellos auch in hundert Jahren noch tun werden. Sie tun es mit phantastischen Gadgets, einer Art Zauberschwämmen etwa, die “Grips” heißen und das Smartphone in holographische Dimensionen erweitern, sie tun es in verwahrlosten Vierteln oder einsam im Wald. Sorokin erzählt das in mannigfachen Stilformen und Redeweisen, etwa der eines Kentauren, und ich gestehe, selten in meinem Leben bei einer Lektüre mehr gelacht, den Schmerz hinterm Sarkasmus intensiver gespürt und mich einem eigentlich Fremden näher gefühlt zu haben. Den Reichtum an Einfällen aus dem Russischen ins Deutsche zu retten, bedurfte es eines Übersetzer-Teams. Ich muss nicht alle Namen nennen – sie haben es toll gemacht.
Gern nähme ich diesen Autor unter meine ganz persönlichen Serapionsbrüder auf. Es ist eine Runde, in der E.T.A. Hoffmann gespenstert, Edgar Allan Poe, Franz Kafka und Michail Bulgakow mit Entsetzen Scherz treiben. Noch im erbarmungslosen Buchmarkt überleben sie dank unübertrefflicher Appelle an die Angstlust der Leser, egal ob subtil oder wie beim Kasperltheater. Natürlich ist “Tellluria” auch voll bitterer Satire. Es schürt die Sucht nach intellektuellen Wechselbädern: Lässt sich der irrationale Mensch am Ende dank einer Heilsgeschichte doch mit der Realität versöhnen?
Erwartet wer eine Antwort? Ein “Utopia” in “Telluria”? Für den ist, glaube ich, dieses Buch nicht geschrieben. Eher für Romantiker mit einem sehr langen, rostigen Nagel im Kopf.
Vladimir Sorokin „Telluria“ bei Kiepenheuer und Witsch
Aus dem Russischen vom Kollektiv Hammer und Nagel
ISBN: 978-3-462-04811-7
Erschienen am: 01.08.2015
416 Seiten, gebunden, 22,99 €
Es ist erreicht
Spaßeshalber habe ich heute per google mal nach „Ich brauche mich um nichts mehr zu kümmern“ gesucht. Dann habe ich gestaunt.
Es fanden sich unter der Adresse eines österreichischen Esotherikforums die Verse
hallo
ich bin Hansi und mir gehts saugut
denn ich bin an das Ende meiner Suche angelangt:
hier unter diesem Baum
ich bin voll erfüllt
Sehnsucht?
was ist das?
ich habe alles was ich brauche
ich habe auch keine Fragen mehr
ich bin mir selbst genug
…
manchmal schneide ich mir die Fuss und die Fingernägel
und morgens ein bisschen Hatha Yoga
dann grinse ich besonders
bei der Postur der Anbetung der Sonne
ein glückliches Grinsen
kein verbissenes
ich bin euer Hansi
und habe es geschafft!
Hansi braucht keine Industriegesellschaft. Die Gegenposition dazu erscheint in einem – inzwischen aus dem Web verschwundenen deutschen Politikforum:
„Ich werde Schmarotzer!
In Bezug auf unsere beiden Dauerbrenner-Threads habe ich mir überlegt, jetzt Schmarotzer zu werden:
Meine Vorteile:
Ich arbeite nicht mehr. Ok, das ist dann eh klar. Habe keine 24-Stunden-Schicht, keine Steuerlast, Miete wird bezahlt, Kleidung wird bezahlt, Reparaturen werden bezahlt, mir steht sogar ein Schuhschrank auf Staatskosten zu (hatte ich bisher nicht/freue mich), keine Zuzahlung im Krankenhaus, keine Steuererklärung, jederzeit rundum versichert, versorgt, verwaltet. Brauche mich über Parasiten endlich nicht mehr aufzuregen, bin jetzt selber einer. Geil!
Ich brauche mich um nichts mehr zu kümmern. Ich liege im Sonnenstudio.
Nur die Hand aufhalten in einem bequemen Sessel im Flur auf dem Amt, aber da kann ich mir ja mit einer guten Flasche Wein und ein wenig Lachs die Wartezeit versüßen.
Was für ein wunderbarer Staat.
Schmarotzerförderer, Schmarotzerunterstützer, Schmarotzerschützer.“
Wer will, darf gespannt sein, wie der Konflikt ausgeht. Ich bin jedenfalls fest entschlossen, mich nicht darum zu kümmern.
..
Neues vom Raketenschirm
Der Roman kommt voran. 1976 war ein spannendes Jahr. Die seither unerledigten Aufgaben von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft beginnen ganz allmählich auch Otto Normalverbraucher (der ja eigentlich noch der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ entsprang) etwas unheimlich zu werden. Was ist jetzt, fragt er sich, mit der Energie? VW fährt Riesengewinne ein (alle anderen Autokonzerne auch), weil die Chinesen hundertmillionenweise Autos kaufen. Sogar elektrische. Der Strom dafür kommt aber aus Kernkraftwerken – aus immer mehr von den gefährlichen Dingern. Öl wird knapp, Gas wird knapp, die Kohle erschafft das reine Klimaelend, und in Deutschland sind wir aber sowas von vorbildlich mit AKW abschalten, Sonne anzapfen, Windräder bauen, Pflanzen (wir haben gelernt!) vergasen, Müll trennen: da wird’s langsam Zeit, den Schlitzaugen einen Ordnungsgong zu verpassen (Gong sollten sie verstehen)!
Ein erster Schritt: Wir schicken ihnen 100 000 in der Wolle gefärbte grüne Oberlehrer. Wenn das nicht reicht, setzen wir die Troika Trittin-Künast-Roth in Marsch. Per Raketenschirm.
Die spielen da nicht mit ? Die waren schon immer Raketengegner? I wo. Die waren nur gegen amerikanische Pershings. Die gute alte SS 20, von Leonid Breshnews Propagandatruppen als Friedensrakete etabliert, hat ihre politischen Ziele nie behindert. Vielleicht können sie mit den fein gesponnenen russischen Connections ihres einstigen Chefs im rotgrünen Kollektiv die SS 20 als Druckmittel gegen Peking revitalisieren. Käme gut in den deutsche Medien – oder?
Endlich erneuerbar! Alles! Weil mit ein paar von den Raketenhämmern jeder Widerstand gegen saubere Volksenergie und saubere Luft in deutschen Kneipen endgültig zu brechen wäre. Es lebe die Volksgesundheit! Nieder mit Rauchern und Freunden der Atomkraft! Antifa! AntiKKW! Wir schottern Castor, Pollux, morgen die ganze Welt!
Wenn Politiker weinen
Der libysche UNO-Botschafter hat mit Zeichen emotionaler Bewegung vor seinen Kollegen öffentlich bekundet, dass Ghaddafi, gerade noch sein großer Führer und Geschäftspartner beim Ausplündern der Libyer, nicht länger sein Chef ist. Mir fiel angesichts der Krokodilgesichter, die bei dieser Gelegenheit in die Fernsehkameras glibberten, ein alter Text ein. Darin geht es um die unauflösliche Wertegemeinschaft zwischen Journalisten und Mächtigen. Sie wird immer mehr zur Herzensangelegenheit. “Marienhof” war gestern. Die ganze Welt ist eine einzige Dokusoap.
Nichts beweist die Nähe zwischen den Politikern unseres Landes und dem gemeinen Volke eindringlicher, als die herzlichen Gefühle, die wir alle dank der Massenmedien miteinander teilen dürfen. In einer Sternstunde des Journalismus – leider weiß niemand mehr genau, wer erleuchtet wurde und wann – ward die Leitidee geboren „Gehet hin mit euren Notizblöcken, Mikrofonen und Kameras und erfragt vor allem eines von euren Interviewpartnern: was empfanden sie, als… (die Punkte sind durch erlittene Geiselnahmen, Lottogewinne, Scheidungsurteile oder Wahlniederlagen zu ersetzen) “.
Von da an durften Politiker hoffen, nicht länger entweder als dröge Faktenhuber oder Opfer böswilliger Karikaturen („Birne“, „Ziege“, „rote Heidi“, „Genschman“ etc.) herhalten zu müssen, sondern in ihrer ganzen liebenswerten Menschlichkeit zu wirken, namentlich auf Bildschirmen. Recht eigentlich können wir nun von Mediendemokratie sprechen, denn Maßstab öffentlicher Auftritte sind allein menschliche Gefühle. Nicht länger verschließt sich kühl formuliertes Herrschaftswissen dem Verständnis des Publikums: endlich kann sich jeder Mann, jede Frau, ja jedes Kind kompetent fühlen, über Ziele und Motive der Regierenden sachkundig zu urteilen, denn es geht um Psychologie. Genauer: um jene Äußerungen von Schmerz, Trauer, Zorn und – sagen wir es ruhig: Betroffenheit!, deren Dynamik unser aller Leben bewegt.
Was vor mehr als zweihundert Jahren vom Schweizer Pastor Lavater und unserem großen Goethe mit den „Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung von Menschenkenntnis und Menschenliebe“ begonnen wurde – die Massenmedien und vornehmlich das Fernsehen bringen es zur Vollendung: jeder Mensch ist Psychologe! Und so entscheidet er über das Schicksal des Gemeinwesens mit, indem er seine in der „Lindenstraße“ und bei „Big Brother“ erworbene Fähigkeit nutzt, Sympathische von Unsympathischen zu scheiden und Urteile über jemandes Glaubwürdigkeit sowie seine Tugenden und Laster zu sprechen. Und dann schreitet er zur Wahlurne.
So durften wir erleben, wie gut es auch unseren Politikern zu Gesicht steht, sich in fein differenzierter Menschenbeobachtung zu üben. Hat doch nach einer Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses in der CDU- Spendenaffäre Herr Ströbele, Abgeordneter der Grünen, die von Frau Baumeister vergossenen Tränen in die Waagschale der Glaubwürdigkeit geworfen. Sie neigte sich daraufhin zu Ungunsten von Wolfgang Schäuble. Ströbele ist uns nicht länger fremd. Voller Spannung erleben wir, wie aus einer Affäre eine Herzensaffäre wird. Wir nehmen uns vor, unsere Abgeordneten, Minister und Beamten, selbst Kanzler, Kanzlerinnen und Bundespräsidenten künftighin mit anderen Augen zu sehen: so wie Hansemann, Mutter Beimer oder die Punchingbälle von Dieter Bohlen und Heidi Klum.
Manchmal beschleicht mich allerdings der Verdacht, dass es längst Beraterverträge, dass es gar ein Kartell geben könnte. Schließlich beschäftigen viele Manager Schauspiellehrer, um ihre „Performance“ zu verbessern. Und dann frage ich mich: ist das jetzt noch gute, echte Seifenoper oder schon böse, verlogene Politik?
Verbote stählen deutsche Leitkultur
Zigarren rauchen erhöht mein Wohlbefinden
Das Beste an Heidelberg ist das Café gegenüber dem Bahnhof. Dort kann man rauchen. Von dort ist es auch nicht mehr weit zu den Zügen, die einen aus Heidelberg wegschaffen.
Es hätte mich nicht gewundert, wenn es in der vom Tourismus verheerten Neckarstadt überhaupt keinen gemütlichen Ort mehr gäbe, an dem ich eine gute Havanna zum Kaffee bzw. Viertele hätte genießen können. Immerhin wird von hier aus der Feldzug gegen den mörderischen Qualm dirigiert. Die Krebsforscher sind Lichtgestalten, deren Aura das ansonsten trübe Bild nicht nur von Gesundheitspolitikern ein wenig aufhellt; Verdienstorden säumen ihre Ruhmeswege.
Nebenher leisten sie einen bedeutenden Beitrag zur kulturellen Ausprägung des deutschen Nationalcharakters. In dem zweiten Rauchercafé von Heidelberg (man bat mich dort, Namen und Standort nicht herauszuposaunen) feiert das Denunziantentum seine Restauration (schöner Doppelsinn!): mehrmals die Woche wird beim Ordnungsamt angezeigt, dass Schwaden aus dem Rauchersalon, durch eine von Zeit zu Zeit benutzte Tür hindurchwabernd, die empfindliche Gesundheit der daneben verweilenden Nichtraucher bedrohen. Natürlich könnten sie sich woanders hinsetzen – vielleicht sogar in ein Nichtrauchercafé. Damit aber wäre ihrem teutonischen Furor nach der Durchsetzung von Verboten nicht Genüge getan: „Da könnte ja jeder …!“, „Wehret den Anfängen!“ Vermutlich fahren diese von wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Missionsgeist Druchdrungenen in der Welt herum, um Reiseveranstaltern ihre Versäumnisse vorzurechnen – es ist ihr Verständnis von Migration mit Leitkultur.
Es wird schließlich nicht nur die Gesundheit geschützt. Deutschland ist und bleibt das Reservat von Hausmeistern, Oberlehrern, Denunzianten, die vor allem eines wollen: Ihre Mitmenschen zur Ordnung erziehen. Welche Ordnung ist eigentlich egal. So ist dafür gesorgt, dass sämtliche historischen deutschen Perioden von Barbarossa bis zur DäDäÄrr in ihren Archetypen weiterleben, überall.
Wiedergefunden und neu entdeckt
Bucheinband von der amazon-Seite
Ionesco war über 60, als er seinen ersten Roman vorlegte, er war längst berühmt als Erzähler und Bühnenautor, er war ein Clown, einer von hohen Graden, der sich nicht über andere lustig macht, sondern über sich selbst, ein Philosoph dazu.
Vermutlich ist das ein Grund dafür, weshalb sich “Der Einzelgänger” heute so aktuell und erheiternd liest. Ionesco stemmt seine anregenden philosophischen und psychologischen Einsichten nicht mit Wortgewalt aufs literarische Proszenium, er legt sie einem unscheinbaren, unheldischen Frühpensionär in den Mund – genauer: er gibt ihm eine Gedankenstimme. Dann lässt er ihn durch die Gassen , die Läden und Restaurants einer Pariser Vorstadt stolpern (es könnte beinahe jede andere Großstadt sein) und am Alltag scheitern, während eben dieser banale Alltag sich in ein Tollhaus von Bürgerkrieg, Revoluzzergeschrei und Anarchie verwandelt. Der Antiheld verbarrikadiert sich in seiner Wohnung, lässt den Weltuntergang, wohlversorgt mit Alkohol, dem Treibstoff seines Sinnens, vorüberziehen, Ende gleich Anfang, die Banalität hält wieder Einzug, der Trinker aber hat immerhin eine Vision gehabt: Er hat einen Zipfel universaler Helligkeit ergriffen.
Ein wundersam traurig-komisches Buch ist das; ich konnte mich dem kleinen großen Sonderling so wenig entziehen wie ich sein Leben teilen möchte. Den Schmerz an der Nahtstelle aus Vereinzelung, Bedürfnis nach sozialer Bindung und Abscheu vor der Banalität kenne ich. Und natürlich war ich überrascht, wie weit Ionescos philosophisches Verständnis vor fast vierzig Jahren ging. Er hatte ein untrügliches Gespür für überzeitlich Verhaltensmuster – und die spezifische Form, die sie mit Beginn der 70er Jahre anzunehmen begannen. Heute lesen wir das und staunen.
Eugène Ionesco “Der Einzelgänger” aus dem Französischen von Lore Kornell in der dt. Erstausgabe Hanser 1973, 163 Seiten
Eisbein an Quote
Altes Neues aus den Anstalten
Stellen Sie sich vor, dass Sie etwa zehnmal jährlich Ihre Stammkneipe besuchen, wo es eine schöne Auswahl an Essen gibt. Besonders auf Eisbein versteht sich der Koch, aber er bietet außer dem notorischen Schweineteil mit Sauerkraut und Püree noch andere delikate Gerichte, dazu knackiges Gemüse, frischen Salat und Desserts an. Es gibt guten Wein. Ihnen wird niemals langweilig; Sie probieren fast jedes Gericht, das Eisbein sogar zweimal im Jahr.
Nun etabliert sich nebenan ein Spezialist für billiges Eisbein. Dort gibt es schlaffen Salat, verkochtes Gemüse und zum Dessert überteuertes Eis aus der Kühltruhe. Das Eisbein ist zwar okay, aber Sie gehen da nicht hin.
Der Wirt Ihrer Stammkneipe hat nun ein kleines Problem: er muss von Zeit zu Zeit seine Preise erhöhen, denn sein Personal wird nach Tarifen bezahlt, die er nicht kündigen kann. Er kann auch niemanden hinauswerfen. Der Nachbar dagegen ist bei der Gestaltung seiner Betriebswirtschaft völlig frei, außerdem verschafft ihm eine mächtige Brauerei als Sponsor finanzielle Vorteile. Die billigen Preise ziehen eine Menge Kundschaft zu den Eisbeinen, er verkauft seinen ganzen billigen Ramsch, einschließlich 0815- Eis, weil die meisten Leute zu faul sind, nur für ein Dessert das Lokal zu wechseln. Der Laden beginnt zu brummen.
Einige Eisbein- Esser werden der Stammkneipe untreu. Der Wirt könnte nun sagen: lassen wir das Eisbein ganz, konzentrieren wir uns auf andere Attraktionen, um Gäste hinzuzugewinnen. Darüber gäbe es einerseits Streit mit dem Koch, andererseits wäre fraglich, ob der mögliche Zugewinn mit Neuerungen den Verlust der ziemlich großen Eisbein- Klientel ersetzen würde. Der Wirt fragt einen anerkannten Unternehmensberater.
Von nun an werden Daten erhoben. Es kommt heraus, dass das Eisbein unmöglich aufgegeben werden kann. Die Lösung des Beraters: wir machen das Eisbein billig und gleichen den Verlust durch Streichen der selten nachgefragten Gerichte aus. Das bringt Ersparnis, so geschieht es. Ein paar Eisbeinesser kommen zurück. Das Nachbargeschäft floriert inzwischen aber noch mehr; der Konkurrent kann es sich leisten, das Sauerkraut von einem Dutzend sehr leicht bekleideter Mädchen flambieren zu lassen. Ein Bombenerfolg.
Ihr Wirt muss reagieren. Die untrügliche, wissenschaftlich fundierte Statistik sagt, dass der Erfolg des Konkurrenten vor allem beim männlichen Publikum erzielt wurde. Man möge doch nun, meint der Berater, sich stärker der weiblichen Eisbein- Klientel zuwenden, etwa durch Auslegen eines großen Sortiments an Boulevard- Zeitschriften. Das sei gemäß mehrfach erhärteter Umfragen in Friseursalons ein absoluter Bringer. Die befragten Frauen hätten zu 90% mit Ja auf die Frage geantwortet, ob das Vorhandensein der Klatschblätter ihren Aufenthalt begünstige.
Die Zeitschriften werden gekauft, das Dessertangebot wird dafür eingeschränkt; schließlich muss auch der Berater samt seinem wissenschaftlichen Personal bezahlt werden. Nur flambiertes Eis in verschiedenen Variationen bleibt im Programm. Auch beim Gemüse gibt es Einschränkungen; es kommt dem Wirt zupass, dass die Köchin mit dem besonderen Händchen für frische Kräuter und Gemüse sowieso gerade in Rente geht. Die Stelle wird nicht wieder besetzt, eine Aushilfe kümmert sich fortan um die Beilagen…
Sie stellen eines Tages fest, dass Ihnen Ihre Stammkneipe zu teuer wird, zumal sich das Angebot kaum noch von dem bunten Schuppen nebenan unterscheidet. Sie mögen dort nicht mehr hingehen.
Die Geschichte können Sie selber weiter spinnen: von den sich epidemisch ausbreitenden bunten Schuppen für Billigeisbeine über die Porschesammlung des Unternehmensberaters, die Pleite Ihres einstigen Stammlokals, dessen Wirt leider nicht den Mut zu wirklich eigenem Profil hatte, bis zu dem Eingeständnis, dass Sie selbst, nun ja, ab und zu noch ein Eisbein essen gehen. Gottlob gestattet Ihnen Ihr Einkommen den Besuch eines teuren Restaurants, wo wirklich exzellent gekocht wird. Es gibt frisches Gemüse und sagenhafte Desserts, sogar den Intendanten des Fernsehsenders haben sie schon dort gesehen.
Und nun machen Sie sich ruhig einmal die Mühe, in Ihrer Programmzeitschrift (falls Sie so etwas haben) die sogenannte „Prime Time“- Leiste von ca. 19 bis 23 Uhr hinsichtlich der Inhalte auszuwerten. Wieviel Sport (Fußball!), Unterhaltungsmusik, Serien und Filme mit Kriminalfällen oder seichten Storys finden Sie dort bei den Hauptsendern? Wieviel Boulevard? Wie sehr unterscheiden sich die Nachrichtenformate nach den Inhalten? Was bleibt übrig, wovon sie mit Überzeugung sagen könnten: das ist eine wirklich frische Sendung mit originellen Gedanken und mutigem Standpunkt, die mich überrascht und mir zu denken gibt?
Dank der „Medienforschung“ ist die „kulturelle Grundversorgung“ des gebührenfinanzierten Rundfunks heute vom Angebot der billigen bunten Buden nebenan nicht mehr zu unterscheiden. Klar: manche Buden sind besser geworden. Aber die Selektion nach rein quantitativen Erfolgswerten – eben den Quoten – hinterlässt eine Monokultur mit all den von anderen Monokulturen hinreichend bekannten tödlichen Gefahren.
Sie können sagen: das ist mir wurst, denn ich sehe sowieso kaum fern und verschwende meine Zeit auch nicht an öde Dauerdudelprogramme im Radio. Das Zeug ist halt für Mehrheiten, die mit Ewiggleichem versorgt werden wollen, wie mit ihrer gewohnten Biermarke zum Eisbein, und ich schere mich höchstens um das, was mich besonders interessiert.
In diesem Fall sind Sie wirklich in einer Situation privilegierter Selbständigkeit, allerdings könnte es Ihnen manchmal schwer fallen, sich Gesprächen Ihrer Mitmenschen anzuschließen.
Sie können sagen: mir ist das Programm ganz recht, weil ich vorm Fernseher oder Radio entspannen und nicht meine Konzentration zusätzlich beanspruchen will. Mein Leben ist von der Arbeitswelt so strapaziert und ausgepowert, dass ich zusätzliche Anforderungen an Konzentration und Lernfähigkeit nicht ertrage.
Im letzteren Fall hoffen Sie vermutlich auf Ihre baldige Berentung oder sie fürchten, Ihre Anstellung zu verlieren. Oder beides. Oder Sie leben schon von staatlicher Fürsorge. Ihre Fernsehgewohnheiten dürfen sie dann ruhig beibehalten. Sie müssen nur mit der Einschätzung der fürsorglichen Programmverwalter und Medienforscher leben, dass es zu mehr bei Ihnen eben einfach nicht reicht und dass Sie eine höhere intellektuelle Qualität des Programms gar nicht wollen.
SicherGESTELLt

Tranquilizer fürs Mittelmaß
Wenn endlich jeder gegen jeden
Und gegen alles sich gesichert hat
Dann ist’s soweit: dann können wir verzichten
Auch auf das letzte Quentchen Mut
Vertrauen, Treue, Hilfsbereitschaft.
Kein Fehler schreckt uns mehr.
Nur Mitleid wird noch bleiben
Und ein sehr dicker Zeigefinger
Auf all und jeden Sündenbock zu deuten
Außer uns.
Wir sind in Sicherheit.
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