Gut geregelt ist halb tot (Schluss)

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Das SED-Emblem und die zur KPD-SPD-Fusion inszenierte Demonstration vom April 1946 auf einer Briefmarke 1966

Unterm Banner des „Antifaschismus“ dirigierte die „Sozialistische Einheitspartei Deutschlands“ – nach weitestgehend erzwungenem Zusammenschluss von Kommunisten und Sozialdemokraten in der Sowjetischen Besatzungszone – die 1949 gegründete DDR, die sich als „das bessere Deutschland“ sah, Richtung Sozialismus. SED-Chef Walter Ulbricht gab die Devise aus „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Durchgeregelt. Alternativlos.

Mittels Planwirtschaft war der kapitalistische Klassenfeind im Westen zu überholen, und zwar ohne ihn einzuholen. Auf der Überholspur kam oft etwas dazwischen – vor allem Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Die Fahrtrichtung West wurde rigide eingeschränkt; nur wer den Propheten MarxEngelsLenin, zeitweise auch Stalin oder Mao, treu ergeben war, oder als Rentenempfänger entbehrlich, durfte das Herrschaftsgebiet der Arbeiter und Bauern verlassen. An den für Flüchtlinge tödlichen „Antifaschistischen Schutzwall“ erinnern sich manche noch, auch an die Cherubim mit Betonmaske, die ihn überwachten.

Das Überholen klappte nicht, es herrschte Mangelwirtschaft, dafür gab es einen Überfluss politischer Witze. Der Regelbruch wurde überhaupt zur Regel, anders kam man zu nichts. Nicht mal zu Klopapier. Es gab meistens keins, wenn doch, dann in der Qualität „Mittelfeines Schleifpapier“. Zeitungen mussten die Not auf dem stillen Örtchen lindern, etwa das „Neue Deutschland“, Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei, kurz „ND“. Sowas wäre heute undenkbar: Zeitungen sind a) teuer und werden b) von keiner Wasserspülung akzeptiert. Von Lesern auch immer weniger.

Trotzdem gilt immer noch die Regel „raue Zeiten – raues Klopapier“. Nicht nur, dass Zellstoff weltweit immer knapper geworden ist: Seit März haben die Russen Lieferungen von Birkenholz eingestellt, das für besonders weiches, flauschiges Tissue benötigt wird. Aber das ist nicht das eigentliche Problem, sondern wir alle sind es. Ist der Verbrauch von Holz im allgemeinen schon zu groß, der Bedarf kaum mehr zu decken, was sich überall auf Baustellen und wo es sonst gebraucht wird, in Engpässen und hohen Preisen niederschlägt, so ist die unmäßige Hygiene der Menschen ein mächtiger Waldfrevel. Sie können das beim WWF und zahllosen Publikationen nachlesen, die Menschen dazu erziehen wollen, weniger Zellulose für die Körperhygiene zu missbrauchen.

Der in jüngeren Jahren als Anhänger Mao Zedongs hervorgetretene Ministerpräsident Kretschmann empfiehlt den Einsatz von Waschlappen. Mein Vorschlag: Stellen Sie sich künftig bei jedem Wisch und Weg das ruckhaft anschwellende Geräusch einer Kettensäge vor! Dann folgen Sie vielleicht dem Rat einer Fränkischen Zeitung, stattdessen lieber kurz die Dusche zu benutzen. Es gab ja auch in einem öffentlich-rechtlichen Medium („Funk“) kürzlich den Hinweis, beim Duschen zu pinkeln – das spare Wasser und Energie.

Hier ein kurzer Blick auf die Praxis der 50er und 60er Jahre im Arbeiter- und Bauernstaat DDR und das Leben in einem Fachwerkbau, der wegen mangelnder Materialien und Handwerker nicht instand zu halten war. Gustav Horbel ist Hauptperson im Roman „Blick vom Turm“ und 1968 gerade 18 Jahre alt.

Fachwerk kurz vorm Abriss. Im Hintergrund die beiden Plumpsklos

„In dem Haus, wo Gustav wohnte, herrschte schon klassenübergreifende soziale Gleichheit. Es war vermutlich zur Zeit der französischen Revolution gebaut worden. Die Wohnungen hatten weder Zentralheizungen noch Bäder, nicht einmal eine Wasserspülung für die Toiletten. Mieter wie Hausbesitzer steckten ihre Hinterteile in eine runde Öffnung über den Miasmen der Jauchegruben — im Sommer bei Hitze im Winter bei Frost — und vernahmen jenes Geräusch, das dem Klo seinen Namen gab. Dass was plumpsen sollte, stecken blieb, gefror und den Bedürftigen Ungemach bereitete, kam nur bei außergewöhnlich strengem Frost vor. Gustavs Mutter griff dann unter groben Flüchen zu einem Eimer heißen Wassers und einem stabilen, mannshohen Knittel aus Buchenholz und setzte die Fallgesetze wieder in Kraft.

Vielleicht war ja die Knappheit an Toilettenpapier sogar von Partei- und Staatsführung gewünscht, weil viele Leute die Zeitungen noch einmal in die Hand nahmen und lasen, ehe die Organe des Zentralkomitees oder der Bezirksleitungen den Weg nach ganz unten antraten. Schließlich wusste jeder bis hinauf ins Politbüro mit dem Ersten Sekretär und Staatsratsvorsitzenden an der Spitze von diesem Alltagsritual. Nur öffentlich darüber zu reden, war tabu. ‚Weil nicht sein kann, was nicht sein darf.‘ Aber so leuchtete immerhin ein, warum die Herren der Planwirtschaft nicht alles daran setzten, dem Frevel durch vermehrte Produktion von Toilettenpapier zu begegnen.“

Das Leben war nicht sehr komfortabel damals, aber es wurde jedenfalls sehr viel weniger an Wasser, Strom, Holz, Kohle, Eisen und andere Metallen, Gas und sonstigen Grund- und Rohstoffen verbraucht als heute. Soweit ich verstehe, gilt das einer großen Zahl Menschen in bestimmten Parteien oder sonstwie mit Steuergeld und Spenden finanzierten Organisationen als erstrebenswertes Ziel einer künftigen Welt ohne Kapitalismus. Es sind Leute, die in Jahrzehnten wachsenden Wohlstandes und Komforts heranwuchsen, fortwährend in allen möglichen Medien Laut geben und genau wissen, wie andere gefälligst ihren Konsum und ihre Körperhygiene zu reduzieren haben.

Dass ich mir die Verhältnisse von 1968 nicht zurückwünsche – obwohl der Mangel an Wohlstand in wildbewegter, abenteuerlicher Jugend nur eine lästige Begleiterscheinung war – begreifen solche Leute natürlich nicht. Ihre Lebenspraxis beschränkt sich auf den „Diskurs“, den wollen sie dominieren. Die Arbeit dürfen – und das war in der DDR mit ihren Ideologen und Politbürokraten genauso – andere machen. Arbeiter und Bauern zum Beispiel, gern auch unbotmäßiges Gesindel in Gefängnissen und Lagern.

„Herrschende Klasse“ – wie von den kommunistischen Säulenheiligen als Ziel vorgegeben – waren jedenfalls nie die Arbeiter, sondern immer Apparatschiks der Partei, nebst zahllos, ziemlich regellos, dafür sehr korrupt wachsenden „Staatsorganen“, „Massenorganisationen“ – kurz: ein System, das von der unüberbrückbaren Kluft aus – hoch moralischem – Anspruch einer-, wirtschaftlicher und geistiger Insuffizienz andererseits zugrunde ging. Der Mythos von der „Gleichheit aller Menschen“, der praktisch Gleichmacherei, Gleichgültigkeit, Gleichförmigkeit, Gleichschaltung in aller Öde, Hässlichkeit und Armut totaler Regulierung hervorbrachte: er überdauert – wie viele Verblendungen. Das geschieht gerade mit den entsprechend verheerenden Folgen.

Aber da auf allen Wegen dieser Welt die allerwidersprüchlichsten und keiner Gleichverteilung unterliegenden Gefühle immer mitfahren – und sie sich sich auf keine Weise regulieren lassen – bleibt der Teufel im Spiel und der Ausgang offen.

ENDE

Gut geregelt ist halb tot (I)

Das Zeitalter der Mobilität hat uns vom Laufen zum Fahren, zum Rasen, gar zum Fliegen gebracht. Damit diese Fortbewegung von inzwischen Milliarden Menschen nicht fortwährend mit Unglück, Stau, gar Kollaps, Tod und Chaos einhergeht, braucht es Regeln. Es gibt sie, sie wurden und werden fortwährend geändert, angepasst, umgangen und gebrochen.

Verkehrszeichen für Kreisverkehr in Deutschland
Im Kreise geht die Reise…

Dabei gab es ein Wechselspiel: Der Mensch passte die Technik seinen Bedürfnissen an – schneller, höher, weiter, sicherer, komfortabler – neue Regeln mussten her: Gurtpflicht, Tempolimits, Überholverbote, Rettungsgassen. Das Verhalten der sich fortbewegenden Menschen änderte sich nur insofern, als die Regeln Routinen hervorbrachten – etwa das Anlegen des Gurtes oder routinierte Blicke auf Instrumente, Ampeln, Verkehrszeichen, Kreuzungen (rechts vor links), mögliche Blitzer am Fahrbahnrand.

Die Grundimpulse des Menschen blieben indessen fast unverändert: Erlangen und Vermeiden. Ebenso Gefühle wie Liebe, Hass, Neid, Zuneigung, Angst, Furcht, Bewunderung, Erstaunen, Empörung… Sie alle fahren mit. Und wenn ich vom Verkehr spreche, ist er natürlich nur ein Beispiel dafür, wie Menschen im Alltag miteinander „verkehren“.

In den vergangenen Jahren haben wir einen Wust wechselnder Regeln, sich verändernder Begründungen dafür, eine Flut widersprüchlicher Informationen erlebt wie kaum je zuvor. Woran muss, woran kann ich mich halten? – Welche Information trifft zu? Welche Regel hat Sinn? Welche Maßnahme? Wem kann ich vertrauen und – was ist die Wahrheit?

Damit wäre ich beim lieben Gott und beim Teufel, bei der Bibel und einem Verhalten, das sich schon bei den Kleinsten findet: Die Lust, Regeln zu brechen – oder eigene aufzustellen und durchzusetzen. Adam und Eva machten’s vor: Erbsünde, sie wurden aus dem Garten Eden verbannt.

Klar: Bei Gott im Himmel ist die Allmacht er bestimmt die Regeln. Auf den Einspruch von Atheisten hin gebe ich natürlich zu, dass die Regeln des Universums gelten, aber von da an kämen Sie vielleicht zu einem ausschweifenden Text über Relativitätstheorie und Quantenphysik, aber nicht zu einem unterhaltsamen Atikel. Mit Gott, Satan und Regelbrüchen, auch Sünde genannt geht das. Man versteht trotzdem gut, dass Regelbrüche im Umgang mit Naturgesetzen üble Folgen haben können. Wer versucht, die Physik zu bescheißen, riskiert halt Bruchlandungen und Blackouts.

Zurück ins Paradies – zu Gottes Werk und Teufels Beitrag.

Im Bürgerkrieg verwundet, in Revolutionskämpfen 1914 in Mexiko verschollen: Ambrose Bierce

Ambrose Bierce war ein amerikanischer Autor von Kurzgeschichten, sein Humor war tiefschwarz. Manche hielten ihn für einen Menschenfeind; liest einer seine Texte, begreift er, wie ein lebens- und kriegserfahrener, zutiefst Mitfühlender sich in den Sarkasmus rettet. 1911 verfasste er „The Devils Dictionary“. Unterm Stichwort „Satan“ ist zu lesen, dass dieser

„Einer der beklagenswerten Irrtümer des Schöpfers“ gewesen sei, „von diesem in Sack und Asche bereut. Als Erzengel eingesetzt, machte Satan sich vielfältig unbeliebt und wurde schließlich des Himmels verwiesen. Bei seinem Abstieg hielt er auf halbem Weg inne, neigte denkend einen Moment lang das Haupt und ging schließlich zurück. »Eine Gunst möchte ich erbitten«, sagte er.
»Nenne sie.«
»Wie ich höre, ist der Mensch in der Mache. Wenn er fertig ist, wird er Gesetze brauchen.«
»Was, du Wicht! Du, sein berufener Widersacher, seit dem Morgengrauen der Ewigkeit von Haß auf die Seele des Menschen erfüllt — du bittest um das Recht, seine Gesetze zu machen?«
»Pardon; worum ich bitten möchte, ist, daß ihm gestattet werde, sie selbst zu machen.«
So ward es beschlossen.“

Von den Göttern zu Propheten, Majestäten und anderen Obrigkeiten – sie alle hielten sich selbst ungern an Regeln und wussten das auch stets fintenreich zu begründen. Die Menschen konnten sich ihre Herrscher nur selten aussuchen, und selbst dann machte sich Satans List, die Gesetze den Menschen selbst zu überlassen, bemerkbar: Egal ob die Macht dynastisch – also in Familien – vererbt, ob sie durch wie auch immer geartete Wahlen an unterschiedlichste Regierungen gelangte oder einfach mit Gewalt oder durch Korruption angeeignet wurde: sie fiel immer wieder einmal in die Hände von Idioten. In Ambrose Bierce‘ „Des Teufels Wörterbuch“ steht dazu

Idiot, der — Angehöriger eines großen und mächtigen Stammes, der menschliche Belange stets beherrschend beeinflusst und kontrolliert hat. Die Aktivitäten des Idioten beschränken sich nicht auf ein bestimmtes Gebiet des Denkens oder Handelns, sondern durchdringen und regeln alles. Er hat in allem das letzte Wort; seine Beschlüsse sind unanfechtbar; er bestimmt die Mode in Meinungs- und Geschmacksfragen, diktiert Sprachfehler und schreibt ultimativ Verhaltensweisen fest.“

Die Folgen werden in der Litertur oft behandelt, auch bei Goethe, im „Faust, Prolog im Himmel“ während einer Zwiesprache des Herrgotts mit Mephisto:

„Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen“, erklärt der Teufel, „Ich sehe nur wie sich die Menschen plagen. Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag, Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. Ein wenig besser würd’ er leben, Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennts Vernunft und braucht’s allein Nur thierischer als jedes Thier zu seyn.“

Damit wären wir bei einem grundsätzlichen Problem von Regeln angekommen: Der Frage, ob sie vernünftig sind.

Weiterlesen in Teil II