Die Uhren des Lebens

Die barocke Standuhr - vermutlich aus dem 18. Jahrhundert - verschwand im Antikhandel der KoKo
Die Uhr – vermutlich aus dem 18. Jahrhundert – verschwand 1971 im Antikhandel der KoKo

Töne und Geräusche, die 1953 das Sterben meines Großvaters begleiteten, kamen aus dem barock geschwungenen, hölzernen Körper unserer Standuhr. Sie war mindestens hundert Jahre älter als ihr Besitzer. Ihr Klang war – wie bei Violinen aus jener Zeit – unverwechselbar, und sie hatte ein Gesicht aus Messing und Zinn, über das filigrane Zeiger wanderten. Zur Viertelstunde schlug eine helle Glocke an, zur vollen eine dunklere. Tage und Nächte meiner Kindheit hindurch ließ sich diese unbeirrbare Stimme vernehmen. 

Ab und zu steckte der schon von Krankheit Gezeichnete eine Kurbel nacheinander auf drei ins Zifferblatt eingelassene Vierkantbolzen. Wenn er sie drehte, wickelten sich im Gehäuse Schnüre mit daran hängenden bleiernen Zylindern auf drei Wellen. Ihre Last trieb Zeiger und Schlagwerk an. Das Ritual des Aufziehens – bis heute werden mechanische Uhren „aufgezogen“, auch wenn man die darinnen arbeitenden Federn eigentlich zuzieht – faszinierte den Enkel ebenso, wie das Hin und Her des Pendels und das kaum sichtbare Sinken der Gewichte. Ich wollte unbedingt dabei sein, wenn Opas Ritual begann, und bettelte immer wieder darum, die Tür zum Bauch öffnen zu dürfen. Oben, im Kopf unseres stummen Familienmitglieds, tickte die Hemmung, sie brachte den Perpendikel darunter mit dem Vollmond aus Messing am Ende ins schwingende Gleichmaß: Staunend stand ich davor.

Wo es tickte, verbargen sich drei Geheimnisse: Das Kreisen der Zeiger, der Stundenschlag und das musikalische Gedächtnis. Die Uhr gehörte zu uns wie eine sehr alte Person. Ehe sie ihre Stimme erhob, atmete sie asthmatisch ein: dann spannte das zugehörige Gewicht die Federn an den Glocken. Tag für Tag sagte sie immer dasselbe; wenn sie schwieg, wachte mein Großvater auf. Er hatte vergessen, sie aufzuziehen. Das dritte Geheimnis waren Walzer und andere Melodien, die silberhell wie aus einer Spieldose erklangen, und deren Titel ich leider vergessen habe. Es waren welche von Mozart dabei und von Johann Strauß, ein vergilbtes Blatt auf der Innenseite der Tür des Gehäuses fürs Schlagwerk listete sie auf.

Eine – “Les Cloches de Corneville” hieß sie – erklang nur in Bruchstücken. Das lag daran, dass auf der wie ein Igel mit vielen Stacheln versehenen stählernen Walze Lücken klafften, dort die Metallzinken des Spielwerks nicht angerissen wurden. Aber genau diese Störung erregte meine besondere Aufmerksamkeit: der stockende Rhythmus verbarg eine Botschaft, die ich gar zu gern entschlüsselt hätte. Die Uhr stammte vermutlich aus dem 18. Jahrhundert. 1971, als unser Haus abgerissen wurde, verschwand sie im Antikhandel des Stasi-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski; die Decken in den sozialistischen Plattenbauten waren für sie zu niedrig.

Vor kurzem erst fand ich heraus, dass “Les Cloches de Corneville” eine 1877 in Paris uraufgeführte Operette von Robert Planquette ist, damals ein Kassenschlager mit 500 Vorstellungen hintereinander, Riesenerfolg auch in London, und dass die Uhr vermutlich einen Ausschnitt – vielleicht einen Walzer – wiedergab. Auf YouTube ist das ganze Werk zu hören, die Partitur läuft mit im Bild, während es erklingt. Die Notenschrift macht – wie das Ineinander von Stahlstiften und Tonzungen bei unserer Spieluhr – sichtbar, wie die Zeit vergeht: die Mechanik der Musik. Als Kind schaute ich dem ebenso gebannt zu, wie später der Bewegung der Nadel am alten Grammophon der Familie, aber dort war das mechanische Abtasten der Rille schon fast so unsichtbar wie Jahrzehnte später bei einer CD: Es verschwindet in der enormen Informationsdichte von Schallwellen, die sich mittels moderner Technik aufnehmen und digital komprimieren lassen. Musikliebhaber haben sich längst an diese Qualität des Hörens gewöhnt: Nuancen bei der Interpretation durch verschiedene Orchester, Solisten, Sänger sind zu erkennen. Fachleute können sie sogar unterscheiden – am Tempo, an der Dynamik, an der Zusammensetzung des Orchesters, der Technik des Dirigenten…

Mit etwa sechs lernte ich Blockflöte spielen. Der Unterricht war schrecklich, der Lehrer ein Pedant, ein rechter Wiedergänger des 1766 von Theodor Gottlieb von Hippel in seinem Lustspiel als „Der Mann nach der Uhr“ verspotteten. Kaum dass ich ein paar Töne spielen konnte, triezte er mich mit einem Metronom und bewies mir immer wieder, dass ich zu Hause faul gewesen und, statt zu üben, meinem Spieltrieb gefolgt war. „Du pfuschst!“ warf er mir vor, er blies mir den Marsch zum Ticken des für die Musikwelt segensreichen Geräts von Johann Nepomuk Mälzel. Die Geschichte Mälzels – er reiste ab 1804 mit dem legendären „Schachtürken“ durch Europa und Nordamerika – liest sich abenteuerlich. Erfunden hatte den angeblichen Automaten, in dessen Innerem allerdings ein Schachspieler die Figuren zog, Wolfgang von Kempelen. Selbst gekrönte Häupter wie Friedrich der Große und Napoleon sollen dem Schwindel aufgesessen sein, das Ganze flog auf, trotzdem fanden sich Nachahmer. Meine Geschichte als Musikschüler scheiterte am Ticktack des Metronoms und der Taktik des unerbittlichen Pädagogen. Vergeblich wies meine Großmutter mich aufs zuhause ungenutzt herumstehende Klavier hin. Sie bedrängte mich niemals, aber der Lehrer mit dem moralischen Rohrstock verdarb jeden Antrieb zum Üben. Meine Liebe zur Musik blieb, auch die zu Physik und Mathematik. Letztere leistete meiner Faulheit Vorschub, denn mit ihrer Hilfe ließen sich allerlei verborgene Botschaften im Räderwerk des Alltags entschlüsseln, nützliche – weil mühseligere Lösungswege verkürzende – Algorithmen und Formeln finden. Und damit wäre ich wieder bei den Uhren und beim Schachspiel.

Nicht ganz so alt wie die Standuhr ist eine Taschenuhr der Schweizer Firma Longines, von meinem Großonkel 1906 bei einem Meininger Juwelier erworben. Sie ist ein Erbstück, aber ich habe sie mir redlich verdient, weil ich den alten Herrn in seinen letzten Jahren rasierte, mehr noch weil ich mit ihm Schach spielte. Es war eine Quälerei, ich verlor immer. Natürlich lernte ich mit der Zeit dazu, las einschlägige Bücher, schloss mich einem Schachclub für Schüler an, aber es reichte nie, auch nur eine Partie für mich zu entscheiden. Onkel Walter hatte auf jeden Zug eine Antwort, kannte alle Eröffnungsvarianten und vermutlich beherrschte er genügend meisterliche Spielverläufe, um erbarmungslos meine Figuren abzuräumen. Ich verlor die Lust. Er bemerkte es, ließ mich gewinnen, nur um mir anschließend zu erklären, an welchem Punkt er mir einen spielentscheidenden Vorteil gewährt hatte. Aber da er mein Taschengeld aufbesserte, wenn ich mit dem Trockenrasierer die grauen Stoppeln in seinem Gesicht abmähte, schluckte ich das Niedermähen meiner Bauern, Offiziere, gar der Königin.

Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass beim Schach elektronische Rechenmaschinen dem Menschen derart überlegen sind, dass selbst Weltmeister ihnen unterliegen. Brutale Rechenkraft schlägt Intelligenz. Das liegt an der mathematischen Beschränktheit des Spiels mit seiner Grundaufstellung, den Regeln der bewegten Figuren bis zum Ende im Matt oder Patt. Trotz dieser fast jedem System eigenen Beschränktheit wurde die angeblich dem Menschen überlegene „künstliche Intelligenz“ Lieblingsthema in Politik und Medien. Onkel Walters Taschenuhr hat – anders als einige Generationen von Rechnern und Notebooks – überlebt, tickt zuverlässig weiter, ebenso verlässlich dauert der Streit darüber an, ob sich die Welt dank dem Ticktack der Digitalisierung mittels KI beherrschen lassen wird, wenn nur Datenmengen und Verarbeitungstempo hoch und die verwendeten Algorithmen intelligent genug sind. Ultimative Hoffnung sind Quantencomputer, die Aufgaben höchster Komplexität bewältigen können – aber auch sie müssen programmiert werden, ihre „Lernprozesse“ hängen also an Grundmustern und Vorschriften, mit denen sie „gefüttert“ und „erzogen“ werden.

Etwa zur selben Zeit wie die Operette von den Corneviller Glocken entstand ein Lied des Österreichischen Dichters Johann Gabriel Seidl; es heißt „Die Uhr“, war bis weit ins 20. Jahrhundert bekannt und beliebt. Carl Loewe hat es vertont, berühmte Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey und Thomas Quasthoff nahmen es auf.

Ich trage, wo ich gehe,
Stets eine Uhr bei mir;
Wie viel es geschlagen habe,
Genau seh ich an ihr.

Es ist ein großer Meister,
Der künstlich ihr Werk gefügt,
Wenngleich ihr Gang nicht immer
Dem törichten Wunsche genügt.

Ich wollte, sie wäre rascher
Gegangen an manchem Tag;
Ich wollte, sie hätte manchmal
Verzögert den raschen Schlag.

In meinen Leiden und Freuden,
In Sturm und in der Ruh,
Was immer geschah im Leben,
Sie pochte den Takt dazu.

Sie schlug am Sarge des Vaters,
Sie schlug an des Freundes Bahr,
Sie schlug am Morgen der Liebe,
Sie schlug am Traualtar.

Sie schlug an der Wiege des Kindes,
Sie schlägt, will’s Gott, noch oft,
Wenn bessere Tage kommen,
Wie meine Seele es hofft.

Und ward sie auch einmal träger,
Und drohte zu stocken ihr Lauf,
So zog der Meister immer
Großmütig sie wieder auf.

Doch stände sie einmal stille,
Dann wär’s um sie geschehn,
Kein andrer, als der sie fügte,
Bringt die Zerstörte zum Gehn.

Dann müsst ich zum Meister wandern,
Der wohnt am Ende wohl weit,
Wohl draußen, jenseits der Erde,
Wohl dort in der Ewigkeit!

Dann gäb ich sie ihm zurücke
Mit dankbar kindlichem Flehn:
Sieh, Herr, ich hab nichts verdorben,
Sie blieb von selber stehn.

Mir erscheint das Lied als eines der vielen Zeugnisse des Zusammenwachsens von Menschen und Maschinen in Malerei, Literatur, Musik – also des heraufkommenden, von der Mechanik dominierten Zeitalters. Darinnen wird der stetige, verlässliche Gang des Uhrwerks Herz gelobt und bestaunt, andererseits als Hinweis auf beschränktes menschliches Trachten und Handeln gesehen, letztlich als Gott vorbehaltenes Geheimnis des Lebens gepriesen: Ein Herz kann niemand neu erschaffen. Moderne Medizin kann manches reparieren, Kunstherzen taugen aber bis heute nur als kurzzeitiger Übergang zur Transplantation – und auch die ersetzt nicht, was einmalig, unnachahmlich, unverwechselbar dem Original vorbehalten war. Es hat seine eigene Zeit, wie der ganze Mensch, der im Lied seine letzte Reise antritt, dankbar und demütig.

„Geschenk“ zum 80stender Urenkel

Nachdem meines Großvaters Uhr abgelaufen war, der „Omma“ das Aufziehen des Enkels wie des antiken Werks zufiel, sang sie dieses Lied immer wieder einmal mit ihrer brüchigen alten Stimme – und es half ihr, nachdem sie zwei Weltkriege, den Verlust des Ehemanns und Familienbesitzes in der DDR überlebt hatte, nicht zu verzagen. Sie wurde 91, umsorgte geduldig, großmütig und hilfsbereit die „alleinerziehende“ Tochter, zwei Enkel, noch den Urenkel bis fast zum Schluss. Erst als die Enkelin samt Söhnchen wegzog, die Kräfte nachließen, während Demenz ihren Geist verwirrte, zeigte sich, wie stark ihr Herz war. Dabei hatte sie, seit ich mich erinnern kann, über Herzschwäche geklagt und Medikamente geschluckt – das war besonders an ihr. In innerfamiliären Konflikten sank sie in sich zusammen und wurde depressiv. Eine „Störung des Herzrhythmus“ als intelligente Strategie der Schwächeren?

Douglas Adams hat in „Per Anhalter durch die Galaxis“ immerhin das Vorkommen von Depressionen bei Robotern angedeutet. Marvin, die suizidal gefährdete KI, wurde bis heute nicht realisiert, vermutlich weil kein Nutzen für Psychiater und Pharmaindustrie erkennbar ist. Immerhin soll mittels „Artifical Intelligence“ Musik im Stil von Bach, Mozart oder Beethoven komponiert werden können, Gedichte wie von Charles Baudelaire geschrieben oder Familiengeschichten wie aus der Feder von Balzac, Dramen von Tschechow… Zugleich erfreuen uns Medien mit erschütternden, gar empörenden Geschichten über die psychischen Defekte großer Meister – narzisstische Persönlichkeitsstörungen sind besonders beliebt.

Freilich lässt sich eine „KI“ oder „AI“ mit allem jemals Komponierten füttern, Algorithmen fürs Verwenden von Wortschatz, Rhythmus, Reimen, Metaphern lassen sich vorstellen; ebenso mag es sich mit Werken der Bildenden Kunst verhalten – was dabei entsteht, kommt doch nicht über das Stadium elaborierter Kopien, meisterhafter Fälschungen hinaus, mit denen bestenfalls betrügerische Geschäfte erblühen. Die Täuschung liegt jedenfalls im Auge (oder Ohr) des Publikums. Der schöpferische Akt, der auf dem Heranwachsen einer Persönlichkeit, in jahrelangem Üben, Scheitern, den einzigartigen genetischen Voraussetzungen und den ebenso singulären, unwiederholbaren Lebensumständen begründet ist, wäre mit noch so gewaltiger Potenz digitalen Ticktacks nicht herstellbar.

Doch wird sich der Mensch wohl niemals von dem begehrlichen Blick auf göttliche Allmacht abbringen lassen, ebenso wenig werden die Mächtigen dieser Welt darauf verzichten, mit Versprechen ihre Anhänger zu locken, die einzuhalten sie nicht in der Lage, meist nicht einmal gesonnen sind. Was allerdings die Realität verspricht – und darauf ist Verlass: Noch jedes von ihnen verheißene Paradies erwies sich als Hölle, nur die Fristen der Metamorphose waren verschieden. Ihre „inneren Uhren“ liefen so unerbittlich ab wie die eines jeden Lebens.

Uhren, Fristen und die Unbeherrschbarkeit der Zukunft

Atelier in Suhl, Herrenstraße 26, 1956

Im Atelier meiner Mutter übten wir Kinder uns im Modellieren

Der Umgang mit Kindern belehrt schnell über den unerschöpflichen Einfallsreichtum, mit dem kleine Menschen ihre Interessen durchsetzen. Geschickte Eltern antworten ihrerseits mit immer neuen und flexiblen Manövern. In glücklichen Verhältnissen laufen sie darauf hinaus, die Absichten des Kindes nicht nur brachial („dominant“) zu vereiteln, sondern seine Aufmerksamkeit auf andere Ziele zu lenken. Dabei lernen beide Seiten. Sie lernen, ohne je dauerhaft funktionierenden Pat(end)lösungen zu finden, sie handeln und feilschen mit immer anderen Methoden um den aktuellen Kompromiss. Gewisse Regeln und Rituale werden, so lange sie für beide Seiten zweckmäßig sind, respektiert und eingehalten – bis zumeist das Kind sie bricht. Eltern erleben das schwache, unterlegene Kind als Despoten. Paradox?

Hier zeigt sich der blinde Fleck des Dominanzprinzips: Schon bevor sie ein Verhältnis gesetzt hat, ist Dominanz von diesem Verhältnis abhängig. Sie kann nur bestehen, wenn sie sich zugleich auf den Erhalt des Verhältnisses verpflichtet – sich also zum Diener macht. Um es auf ein anderes beliebtes Paradox zu bringen: „Beherrsche mich!!!“ sagt der Masochist zur Domina.

Wir können das Paradox auflösen. Dazu müssen wir nur eines tun: wir müssen akzeptieren, dass es Erde, Sonne und Menschen nur gemeinsam und als Teil des Universums gibt und dass die Zeit nicht nach unseren Uhren läuft. Was vergangen ist, ist nicht „objektiv reale Vergangenheit“ und die Zukunft ist alles andere als unbestimmt.

Stellen Sie sich einmal vor, Sie blicken vom Moment ihres Todes aus zurück. Sehen Sie die Zeit nicht unabhängig mit dem Ticktack der Uhren ablaufen, sondern als verfügbare Zeit, deren Maß ausschließlich Ihre Interaktionen mit der Umgebung sind. Es ist schwer, sich vom Diktat der mechanischen Zerhacker freizumachen, nicht wahr? Dabei ist dieses Instrument erst seit etwa 200 Jahren jedermann an jedem Ort verfügbar; noch Ende des 18. Jahrhunderts machte sich der längst vergessene preußische Schriftsteller Theodor Gottlieb von Hippel in einem Theaterstück über den „Mann nach der Uhr“ lustig. Heute sind wir alle „Menschen nach der Uhr“, abhängig bis zur besinnungslosen Hatz nach Terminen. „Zeiteinteilung“ meint fast immer ein mechanisches Raster, das zu den Abläufen des Gestells kompatibel sein muss. Aber die verfügbare Zeit hat ein anderes Maß. Die Dauer eines Traumes, einer Geburt, eines Liebesaktes, eines schweren Konfliktes sind nicht mit der Stoppuhr zu messen. Denn wann genau wollten wir sie ein-, wann ausschalten? Wann beginnt der Traum vom Fliegen, wann endet er? Wenn Sie zurückblickend die Chance hätten, durch Streichen eines Ereignisses Zeit „zurückzugewinnen“ – wie wollten Sie das messen und berechnen? Dem mechanischen Verständnis fällt das scheinbar leicht:

Die betrunkene Silvesternacht von 1969 ab Schlag zwölf bis vier Uhr früh streiche ich. Ich wende mich nicht der aufreizend hübschen Babsy zu, sondern stoße mit meinen Kumpels an und gehe irgendwann sturzbetrunken aber solo ins Bett. Damit mache ich den Neujahrstag zum Ausnüchtern und die folgenden drei Monate für das Studium verfügbar, promoviere erfolgreich und sterbe in einem schönen Haus im Grünen, statt in einer Mansarde in Berlin-Schöneberg“.

Wieviel Zeit gewonnen, wieviel Zeit verloren? Wenn der Tod im Reihenhaus durch Herzinfarkt und zwanzig Jahre vor dem in der Mansarde eintritt? Wenn aber andererseits dem Doktor die Zeit erfüllt war mit Glück im Beruf und in der Familie und ihm „im Fluge“ verging, während sich der Glücksritter der Jugendjahre als alter Single dahingrämte?

Standuhr aus der Zeit Hippels - ca. 1780

Diese antike Standuhr schlug mindestens fünf Generationen bis in meine Kindheit die Stunden

Zeit ist keineswegs gleich Zeit, wie uns die Zerhacker glauben machen wollen. Vor allem aber: wir können uns „zurückblickend“ der „Vergangenheit“ nicht nähern, wir entfernen uns definitiv von ihr immer weiter. Indem wir unsere Gedanken wandern lassen, verbrauchen wir neue Zeit – die wir im Moment des Todes gar nicht mehr hätten. Sie werden mir nachsehen, dass ich Sie erst jetzt über dieses Paradox stolpern lasse – falls Sie mir nicht längst auf die Schliche gekommen sind, weil Sie das erste Kapitel von „Der menschliche Kosmos“ oder „Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird“ aufmerksam gelesen haben. Dann wundern Sie sich auch nicht, dass „Erinnern“ nicht wie ein rückwärts abgespulter Film, sondern vorwärts läuft – und von dem Zeitpunkt an, in dem Sie zurückblicken, verbrauchen Sie Lebenszeit dafür, alles auf den Anfang der Erinnerung Folgende zu modellieren.

Zeit gibt es nur in Verbindung mit Interaktion. Mit Vergangenem können wir nicht interagieren, wohl aber mit „trägen Resten“ der Vergangenheit. Wir sind umgeben von Systemen, die träger interagieren als wir; sie nennen wir „dauerhaft“ und suchen an ihnen die Merkmale „vergangener“ Interaktionen. Beispiele dafür sind Gesteinsschichten, Bohrkerne aus dem Gletschereis oder die Jahresringe von Bäumen. Was wir „Geschichte“ nennen, ist eine spezielle Form zu konstruieren ­­– also wiederum Interaktion mit Daten, Gegenständen, Aussagen – mit dem Ergebnis, Modelle zu haben und zu erzählen. Sie sollen möglichst plausibel sein und uns Muster erkennen lassen. Mustererkennung aber ist eine elementare Funktion unseres Gehirns, die im Wesentlichen unbewusst abläuft. Auch beim Simulieren, beim Machen und Erzählen von Geschichte spielen Wünsche und Ängste – und damit Strategien des Vermeidens und Erlangens – mit, die der Kontrolle unseres Bewusstseins entgehen.

Wir geraten an den vertrackten Umstand, dass „Geschichte“ häufig eine Simulation vermeintlich historischen Geschehens in Gang setzt, deren Muster von vornherein den erwünschten Ergebnissen entsprechen. Die „Lehren der Geschichte“ bestätigen unsere vorgefassten Meinungen.

Indessen hat jedes dynamische System eine gemäße Zeit für seine inneren und äußeren Verhältnisse; unser mechanisches Raster schafft bestenfalls eine Relation zwischen unseren Nutzanwendungen und den gemessenen Systemen. Noch immer werden Äpfel eben zu ihrer Zeit reif und nicht wenn es der Konservenfabrik passt. Und die Zeit eines Menschen hat eine Relation zu kosmischen Dimensionen und zu den Dimensionen der Elementarteilchen, die wir uns kaum vorstellen, geschweige beherrschen können. Dennoch träumen Menschen angesichts sterbender Sonnen von der „Unsterblichkeit“ und ziehen an allen Hebeln der Dominanz, sie zu erreichen. Sie akzeptieren gerade eben, dass die Vergangenheit eine Struktur hat, die sie nicht ändern können; dass auch die Zukunft unbeherrschbar strukturiert ist, wollen sie nicht hinnehmen. Planung soll das Dominanzprinzip perpetuieren.

Noahs Einzug in die Arche von Hans Jordaens

Überleben durch Anpassung – die Arche Noah auf einem Gemälde von Jordaens

Aber Zukunft ist kein leerer Zeit-Raum, in den sich hineinhantieren lässt. Die Plätze sind besetzt: von Erdbeben, Klimaveränderungen, kosmischen Katastrophen. Vor allem aber von nie gleichzeitig beherrschbaren Zielen und ihrer Antizipation, von den Kraftfeldern mit den wesentlichen Mustern der menschlichen Existenz, von den gleichzeitig wirkenden, die ganze Geschichte der Menschheit wie des einzelnen bewegenden Strategien. Dabei zeigt sich: Gefährlicher für die Menschheit als Killerviren, Klimakatastrophen oder Energiemangel sind unangepasste Strategien. Und natürlich die zugehörigen Rituale und Verhaltensmuster. Menschen sind nicht besser als Igel, nur anders. Sie rollen sich nicht vor Vierzigtonnern zusammen, sie halten sie am Laufen. Sie können sich allerdings auch fragen, ob sie wirklich den Online-Einkauf als Pat(end)lösung wollen.

Das Beispiel der „BSE- Seuche“ reiht sich würdig in die schier endlose Folge besinnungslos bis zur Katastrophe durchgehaltener Verhaltensweisen: „möglichst viel möglichst billig“ – das war und ist Ziel der Fleischverbraucher, der Viehzüchter, der Futterhersteller. Tierkadaver, Abwässer samt Fäkalien: Egal womit Tiere gefüttert wurden, Hauptsache der Gewinn war möglichst groß. Alle drehten an der Schraube, die Profit aus geschundenen Tieren herausquetschen sollte. Dann tauchten auch im „Musterland“ infizierte Tiere auf und alsbald begann die Hatz auf Sündenböcke. Am Ende war es der Staat, der „Verbraucher nicht genug geschützt“ haben soll. Vor wem, wenn nicht vor sich selbst und ihrer Geiz-ist-geil-Strategie? Vor wem, wenn nicht vor der eigenen Habgier? Nein, habgierig, neidisch, verantwortungslos sind ja immer nur die anderen. Wenn „Klimaaktivisten“ nach ihren Demos und Kundgebungen zur Rettung der Welt Müllberge hinterlassen, zeigt sich dieser unausrottbare menschliche Wahrnehmungsfehler ebenso – und die ihm eigene Doppelmoral.

Mit derartigen Beispielen lassen sich Bibliotheken füllen. Und es ließe sich vor allem eines verdeutlichen:

Mit äußeren, geschriebenen Regeln, Gesetzen und Verordnungen, mit Kontrollen und Strafen ist den tödlichen Strategien nicht beizukommen. Jede Regel, jedes Gesetz, jede Verordnung gebiert, sobald nur kundgetan, eine Vielzahl von Schlupflöchern, Methoden, sie zu umgehen oder zu unterlaufen, immer neue Ausweichmanöver und nötigenfalls kriminelle Abwehr. Wer imstande ist, tödliche Strategien zu erkennen, tut gut daran, sein eigenes Verhalten zu prüfen und zu verändern: Durch neue oder geänderte Routinen und Rituale. Es genügt nicht, zu wissen. Nur Menschen, die in eigener Verantwortung handeln, die sich Konflikten stellen, sie durchstehen, dabei auch unbewusst ablaufende Interaktionen begreifen und zulassen – und zwar auf eigene Rechnung, ohne kollektive, korporative Rückendeckung – schaffen ein schöpferisches Wechselspiel aus Versuch und Irrtum, Lernen und Gestalten. Wie bei Eltern und Kindern – wenn sie Glück haben.