„Blick vom Turm“ probelesen

Fundstücke auf dem Dachboden

Ansicht eines verwahrlosten Fachwerkhauses in der Herrenstraße in Suhl, ca. 1960er Jahre

Verkommenes Fachwerk – sozialistische Wohnungswirtschaft

In den 60er Jahren war es fast unmöglich, Fachwerkhäuser wie dieses zu erhalten. Aber sie steckten voller Geheimnisse

Gustav Horbel, der Held des Romans ist 18. Beim Stöbern auf dem Dachboden findet er Hinweise auf das Leben seiner Familie, die bis weit ins 19.Jahrhundert zurückführen. Weil er neugierig ist, stolpert er in alle möglichen Verwicklungen. Nichts ist wie es scheint; die Konflikte seiner Vorfahren und seiner Heimatstadt ziehen ihn in ihren Bann – sein Vertrauen zu Freunden und Verwandten, selbst zu seiner ersten Liebe wird hart geprüft.

1968: ein Jahr, in dem sich in Ost und West entschied, wie wir wurden, was wir sind …

Leseprobe

Die Erregung über das bevorstehende Rendezvous heizte Gustavs Neugier an. Mit einem Ruck überwand er den Truhendeckel, richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Inhalt. Sein Blick fiel auf das Porträt eines Ehepaares in einem ovalen Holzrahmen. Der Mann trug Smoking und Fliege, hatte einen Spitzbauch, auf dem angewinkelten rechten Arm ruhte die Hand einer hageren Frau in einem Kleid, das mit viel Spitze verziert war. Ihr Haar war zu einem Zopf geflochten, der Zopf war um den Kopf gelegt wie ein Vogelnest. Ihr Mund war schmallippig, das Gesicht wirkte zu klein, wie eine mit Schachfiguren vollgestopfte Schatulle. Gustav wusste: Das konnten nur Onkel Wilhelm und seine Frau Helene sein, sie hatte sich in den Jahren bis zu ihrem Tod kaum verändert. Er erinnerte sich, wie Tante Helene aus dem Fenster heruntergekeift hatte, wenn die Kinder auf dem Hof der Herrengasse 10 ihre Mittagsruhe störten. Er erinnerte sich auch, wie er einmal zugesehen hatte, als Tante Helene ihr unglaublich langes, graues Haar zu einem Zopf flocht, wie sie ihrem Mann mit einem zangenartigen Gerät das Haar militärisch kurz geschoren hatte. Er sah sich selbst als Kind in dem Schlafzimmer des alten Ehepaares stehen und über die Brennschere auf der Marmorplatte der Waschkommode staunen.
Was für seltsame Geräte, mit denen diese Menschen ihr Äußeres herrichteten!
Gustav fiel ein, dass er dem Onkel Wilhelm in dessen letzten Lebensjahren mit einem elektrischen Rasierapparat zweimal wöchentlich den Bart geschoren hatte, dafür hatte er fünfzig Pfennige kassiert — genug für Schwimmbad und Eis. Der alte Mann hatte nach Urin und Zigarrenrauch gerochen. Gustav hatte ihn schon wegen der brutalen Taktik beim Schachspielen nicht gemocht, aber die Aussicht auf ein sicheres Einkommen war stärker gewesen. Das war unendlich lange her — sechs Jahre — und Gustav erschien das eheliche Bild wie eine jahrtausendalte Reliquie.
Die telegraphische Nachricht vom kranken Kriegskameraden, der früher auf allen Festen des verblichenen Paares zugegen gewesen war, warf wieder die Frage auf, weshalb er der Bestattung von Onkel Wilhelm so demonstrativ fern geblieben war. Gustav wollte eine Antwort.
Er musste sich allerdings zwischen diesem familiären Vexierbild und den Tagebüchern von Anna Knauth entscheiden. Welchen der Bände hatte er eigentlich neulich aufgeschlagen? Ihm war, als grinsten ihn zwanzig unbeschriftete Buchrücken hämisch an.
Annas Liebesgeschichte — oder Wilhelm, Helene und der invalide Kriegskame-rad?
Die unbekannte Urahne — oder das Geheimnis des unschlagbaren Schachspielers?
Gustav griff wieder nach dem ersten der unbeschrifteten Oktavbände, schlug ihn auf und las:

Freitag, den 4. October
Nachmittag gingen Emma, Thereschen, Herrmann, Julius und ich auf der Chaussee spazieren, Greta L. kam auch noch und sie kamen dann mit zu uns. Ich sprach einige Worte mit Agnes und ging dann in den Garten, wohin auch Julius kam:
„Es soll wohl Haschen gespielt werden?“, fragte er lächelnd, „ich sah euch heute früh von meinem Fenster aus zu. Darf ich vielleicht mitspielen?“ Herrmann bejahte dies, indem er mich aufforderte auszureißen, da uns Julius haschen wollte. Ich strengte alle meine Kräfte an und lief so rasch ich konnte,
(hier war der Text ausgestrichen)
da fühlte ich mich von hinten umfasst.
(der Text begann zu zerfließen und es kostete Gustav Mühe, ihn zu entziffern, was seine Spannung steigerte)
Nun plötzlich im Laufen aufgehalten musste ich dem Stärkeren nachgeben und sank Julius, denn dieser war es, in den Arm, lächelnd bog er sich vor, mir ins Gesicht sehend, ich entwand mich ihm rasch indem ich sagte: „Freilich ist es kein Wunder, dass Sie besser springen können als ich.“
„Nun“, antwortete er, „Sie können gut laufen.“
„Ja“, erwiderte ich, „in Stößen muss ich das Laufen wieder einüben, in der Stadt verlernt man es ganz.“
So kamen wir in ein Gespräch, er fragte mich nach vielen die er als Doraschüler gekannt hatte und auch ob ich ihn noch gekannt hätte, ich verneinte dies und er fuhr fort:
„Nun, damals war ich auch ein kleiner Knirps, jetzt bin ich doch etwas größer und stärker geworden, erinnern Sie sich noch daran, wie wir sie abholten?“
„0, recht gut“ erwiderte ich.
(Wieder waren 8 Zeilen sorgfältig gestrichen, Gustav ärgerte sich)
indem rufte man mich und wir kehrten in die Stube zurück.
„Wo seid ihr denn gewesen“, fragte Agnes.
„Im Garten, wir haben Haschens gespielt“, erwiderte Julius.
„Nun, ein andermal will ich auch mitspielen“, sagte Agnes.

„Gustav, was treibst du denn da oben?“
Gustav überlegte, was er tun sollte, er brauchte für seine Mutter eine Ausrede. Er griff nach dem Porträt von Onkel Wilhelm und seiner Frau, und da ihm einfiel dass die Großmutter den Bodenschlüssel wieder beschlagnahmen würde, steckte er sich Annas Tagebuch in den Hosenbund.
„Ich habe ein Bild gefunden“, rief er , „wollte dich gerade deswegen etwas fragen.“ Dann fuhrwerkte er mit dem Bodenschlüssel im Schloss herum, aber seine Mutter schaute ihm über die Schulter, er wagte nicht, die Tür unverschlossen zu lassen.
„Ich weiß, dass du da oben wieder heimlich herumkramen willst, aber ich möchte nicht, dass die Hüllers es auch tun. Also schließ ab und häng den Schlüssel an den Haken. Was schleppst du für alten Plunder an?“
„Das sind doch Onkel Wilhelm und Tante Helene?“
Frau Horbel lachte.
„Meine Güte, der alte Lustmolch und seine frigide Schachtel! Da war er noch Beamter im vollen Saft in der Reichshauptstadt. Der liebe Himmel weiß, wie die sich gefunden haben. Wahrscheinlich hat er sie wirklich als Dreingabe zu seinem Schachspiel aus Elfenbein gekriegt. Was weiß ich.“
„Wieso Lustmolch?“ Gustav war elektrisiert.
„Jetzt komm erstmal rein. Die Lieselotte hat bestimmt wieder das Ohr an der Küchentür, es ist so verdächtig still da drin“, sagte Gustavs Mutter, laut genug, dass es auch durch Gefängnismauern zu hören gewesen wäre.
„Der Tee ist natürlich kalt“, fuhr sie drinnen fort, setzte sich in den Sessel vor dem Mosaiktisch und zog den Aschenbecher zu sich heran, „du kannst uns aber eine Flasche von dem Johannisbeerwein aufmachen.“
Das war für Gustav eine prima Gelegenheit, das Tagebuch unter seinem Kopfkissen zu verstecken. Dann holte er aus der Kammer den selbst gemachten Wein; seine Mutter war ihm erstaunlicherweise wieder wohlgesonnen.
„Scheint ja irgendwie in der Luft zu liegen“, sagte sie und blies bedächtig einen Rauchstreifen dorthin, wo „es“ vermutlich gerade lag. „Jetzt, wo der Joseph seinen letzten Schnaufer macht, taucht auch der alte Lustmolch wieder auf. Als ob er wüsste, dass die Renate bald alleine ist.“
„Der Onkel war hinter der Frau seines Kriegskameraden her? Deshalb ist der auch nicht zur Beerdigung gekommen. Er hat’s mitgekriegt.“
Frau Horbel lachte wieder und griff nach dem Johannisbeerwein.
„Das Zeug ist das beste Schlafmittel, das ich kenne. Prost. Trink langsam, du musst morgen in die Schule. Der alte Knabe war hinter allem her, was Röcke trug. Frag deine Großmutter. Als sein kleiner Bruder gestorben war, konnte er sich gar nicht oft genug nach dem Befinden seiner Schwägerin erkundigen. Und da lebte seine Helene noch.“
„Hm. Na ja, wenn sie doch frigide war.“ Gustav warf einen Blick auf das Porträt. „Eine Schönheit war sie wirklich nicht.“
Seine Mutter goss sich ein neues Glas ein und kicherte.
„Sie war sogar fünf Jahre älter als er. Aber eine gute Partie. Ihr Vater hat ein großes Mietshaus in Berlin samt komplett ausgestatteter Herrschaftswohnung in der Beletage als Mitgift auf den Hochzeitstisch gelegt.“
„Rechnen konnte Onkel Wilhelm. Das habe ich beim Schachspielen gemerkt.“
Jetzt lachte Frau Horbel lauthals los.
„Dieses tolle Schachspiel. Er hat mit allen gespielt und immer gewonnen — soweit ich weiß. Weiß ich was? Mein Vater hat behauptet, sein Bruder und Helenes Vater hätten die Konditionen für die Ehe beim Schachspielen ausgehandelt. Vermutlich war’s wirklich so. Eine weiße Ehe. Als Helene gestorben war, hab ich sie gewaschen. Dein Onkel Wilhelm stand daneben und hat gesagt: ‚Ja, meine gute Helene, du bist nun also wirklich als Jungfrau gestorben’. Ich dachte, ich höre nicht recht. Die haben fast vierzig Jahre zusammen gelebt und er hat sie nicht angerührt, nur um an die Mitgift zu kommen. Dann ist er jeder anderen Frau in Reichweite nachgestiegen. Dieser Schweinigel!“
Frau Horbel zerquetschte Onkel Wilhelm im Aschenbecher.
„Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Und reich kamen mir die beiden auch nicht gerade vor.“
„Sie hatten Glück. Ihr Überlebensinstinkt war stärker als ihre Habgier. Wilhelm war noch nicht im Pensionsalter, als in Berlin die Luftangriffe losgingen. Aber er gehörte irgendeiner geheimen Loge an, und einer seiner Logenbrüder bescheinigte ihm eine schwere Krankheit. Das weiße Ehepaar packte die Koffer und zog zu Wilhelms kleinem Bruder, deinem Großvater, in die Provinz. Ein paar Wochen später fiel eine Fliegerbombe auf das schöne große Haus in Wilmersdorf und Wilhelm saß in Lauterberg fest. Helene hatte ein Köfferchen mit Schmuck und Wertpapieren gerettet, ein paar Möbel kamen hinterher und das kostbare Schachspiel. Die Wertpapiere waren nach dem Krieg Makulatur, aber Wilhelm hatte immer noch irgendwelche Beziehungen. Ein bisschen hat uns das in der schlechten Zeit geholfen — jedenfalls meinem Vater. Er kriegte ab und zu ein Glas Rotwein und eine Zigarre von seinem großen Bruder. Dafür mussten wir bei den Bauern um Fressalien betteln gehen, das Ehepaar mitversorgen, na ja, was weiß ich … Eine nette Familie.“
Gustav war hingerissen. Eine Geheimloge! Eine weiße Ehe! Von so etwas hatte er noch nie gehört.
„Womöglich ist Joseph auch ein Logenbruder?“
„Ich glaube eher, Onkel Wilhelm hatte ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil Joseph ihm im ersten Krieg das Leben gerettet hatte und im zweiten Krieg zum Krüppel wurde, während er hier im Trockenen saß.“
„Was ihn nicht gehindert hat, seiner Frau nachzustellen.“
„Daran ist er gestorben“, sagte Frau Horbel, trank ein halbes Glas Johannisbeerwein auf einen Zug aus, zündete sich genüsslich die nächste Zigarette an.
„Dieser geile Bock ist tatsächlich zu Renate aufs Motorrad gestiegen. Vielleicht hatte er zu tief in die Rotweinflasche geguckt. Niemand weiß, wie er sie dazu gebracht hat, ihn mitzunehmen, und was dann wirklich passiert ist. Auf jeden Fall sind sie gestürzt. Renate hatte nur ein paar Schrammen, die Zündapp war hin, er hatte einen gebrochenen Oberschenkelhals. Das war’s.“
„Er war doch schon 78“, Gustav staunte.
„77. Schnapszahl. Manchmal glaube ich, je älter die Kerle werden, desto weniger haben sie ihren Trieb unter Kontrolle. Was weiß ich.“
Gustav schwieg, denn die Stimmung seiner Mutter war merklich umgeschlagen, er wollte sie nicht auf den Gedanken bringen, dass er Sympathien für männliches Verhalten hegen könnte. Ein triebgesteuerter Greis und eine Motorradfahrerin, die mehr als zwanzig Jahre jünger war … Was würde sie dazu sagen, dass er sich mit einer Frau treffen wollte, die fast ebenso viel älter war als er? Er war offensichtlich auch triebgesteuert — womöglich lag das in der Familie.
„Darf ich mir noch ein Glas Wein nehmen?“
„Meinetwegen. Hauptsache, du kommst morgen früh aus den Federn.“
Draußen schnappte das Türschloss, die Omma kam zurück.
„Du musst ja der Omma nicht unbedingt sagen, dass ich das Bild vom Boden geholt habe.“ Gustav beeilte sich, die Mutter als Komplizin zu gewinnen. „Ich lege es morgen in die Truhe. Bei Tageslicht kann ich mich noch mal um die Ziegel kümmern.“
Frau Horbel grinste ihren Sohn an.
„Lass gut sein. Früher habe ich da oben auch gern herumgekramt. Mir reicht es, wenn du wenigstens die schlimmsten Löcher im Dach flickst. Nach acht Stunden Schufterei um die Familie zu ernähren, möchte ich das nicht auch noch.“
Die Wohnzimmertür öffnete sich. Mutter und Sohn, Verschworene der Dachbodenerkundung, blickten in das Gesicht der Großmutter und erschraken. Die alte Frau sah aus, als hätten die Gerippe sämtlicher Ahnen auf der Treppe Spalier gestanden, sie war bleich, ihre Haare zerzaust. Sie hängte ihre Handtasche über die Stuhllehne, schüttelte den Kopf.
„Was ist denn passiert?“ fragte ihre Tochter, aber die alte Dame schüttelte nur wieder den Kopf und brach in Tränen aus. Gustav merkte, dass er einen Kloß im Hals hatte. Sein Herz war seit je durch gefühlige Fäden mit seiner Großmutter verbunden; wenn sie weinte, wurde er todunglücklich. Er konnte nichts dagegen tun, nur wünschen, ihr irgendwie helfen zu können. Als Kind war er auf seine Mutter losgegangen, wenn es Streit gab und die Omma sich hinter ihren schmerzlichen Ausdruck flüchtete. Tiefe Scham und Reue erfüllten ihn, wenn er selbst das Wasser in ihre Augen getrieben hatte. Ihr Gesicht wurde dann ganz klein, es schnürte seine Brust zusammen. Jetzt aber war weder er Ursache des Schmerzes, noch die robuste Mama.
„Trink einen Schluck Wein, Omma“, stammelte er, füllte ein Glas, hielt es ihr hin. Sie schüttelte noch einmal den Kopf, griff nach dem Johannisbeerwein, nahm einen tiefen Schluck. Dann stellte sie das Glas hin, nestelte ein Taschentuch aus der Jackentasche, hob es an die Nase, seufzte und entließ mit einem Trompetenstoß die physiologischen Folgen des seelischen Aufruhrs. Sie blickte Gustav aus geröteten Augen an: „Weißt du, was mit dem netten rothaarigen Mädchen passiert ist, dieser — wie hieß sie doch gleich …?“