Fliehkräfte aus dem Reich der Mitte

Zwischen Big Money und Big Brother

Ein Bestseller ist dieses Buch schon, nichts fehlt: Politthriller, Liebesgeschichte, Sittengemälde, Familiendrama – alles so ungekünstelt wie glaubwürdig erzählt von einem 1968 geborenen Chinesen. Wie viele andere Autoren wird er seine Heimat schwerlich wiedersehen. Desmond Shum ist aber weder ein Dissident vom Range eines Liu Shaobo, Friedensnobelpreisträger, nur zum Sterben von Xi Jinping aus dem Kerker entlassen, noch ein Liao Yiwu, der mit aufsässiger, rebellischer Poesie, mit Romanen aus den Abgründen Chinas gegen die Kommunistische Partei zu Felde zog – er ist eigentlich ein Muster an Heimatliebe und Engagement, Liebling aller Schwiegermütter, gebildet, groß, sportlich, charmant. Doch er lebt heute mit seinem Sohn in England, seine geschiedene Ehefrau verschwand im September 2017 in Peking spurlos. Ihr einziges Lebenszeichen war seither ein Telefonat mit der flehentlichen Bitte, dieses Buch nicht zu veröffentlichen. Niemand weiß, was Whitney Duang widerfährt im Reich der totalen Kontrolle, im Reich des kollektiven Gehorsams, wo der einzelne Mensch keine Rechte, keinen Schutz vor den Mächtigen hat. Er hat nicht einmal mehr eine Stimme am Telefon, wenn der allmächtige Staat ihn isoliert.

Und damit wären wir bei wichtigen Motiven des autobiographischen Berichts „Chinesisches Roulette“: Bei den globalen Machtkämpfen von Staaten, multinationalen Konzernen und Organisationen, bei den beteiligten Truppen und deren Führern – und beim komplexen Zusammenspiel von materieller und informeller Dimension der Macht. Der Autor zieht seine Leser hinein in die spezifisch chinesische Dynamik dieses Zusammenspiels, zu einigen ihrer Quellen, Wirbel, Turbulenzen, Strömungsverläufe.

Shen Dong – so sein chinesischer Name – wurde in eine Familie mit „schlechtem Hintergrund“ hineingeboren – also verbannt ins Schattendasein unter der Roten Sonne Mao Zedongs. Sie litt Not, die Eltern kämpften als schlecht bezahlte Lehrer in Shanghai ums Überleben, förderten den Sohn mit Lektüre, reichlich Tadel und Prügeln: nicht ungewöhnlich für eine chinesische Kindheit. So wurde der kleine Dong – deutsch „Säule“ – auf vom Vater ererbte Eigenschaften trainiert: Zähigkeit, Hartnäckigkeit, Lebenswillen. Den bewies er, sechs Jahre alt, im eisigen Wasser eines Schwimmbeckens, und das Schwimmen wurde eine seiner Stärken. Die Mutter gab ihm wohl Umgänglichkeit und das Gespür für Menschen mit auf den Weg, Dong ging ihn außerhalb häuslicher Geborgenheit, aber voller Neugier.

Das änderte sich auch nicht, als 1978 zuerst Mutter und Sohn, später der Vater zu Verwandten nach Hongkong ausreisen durften. Der chinesische Staat hoffte auf zurückfließende Devisen aus der Kronkolonie. Tatsächlich schuftet sich Shen sen. im Laufe von sieben Jahren als Transportarbeiter in einem Tiefkühllager empor. Nachdem er nebenher den MBA-Abschluss in Betriebswirtschaft erworben hat, wird er zum Geschäftsführer, verdient in den 90er Jahren für seine – amerikanische – Firma Millionen im China-Geschäft mit Hühnchenteilen und wird als zu Reichtum gekommener Repräsentant Anfang des neuen Jahrtausends nach Shanghai zurückkehren.

Sein Sohn passte sich nicht ohne Probleme an die Schule in Hongkong an, auch dabei half der Sport seinem Selbstbewusstsein auf, schließlich schickten ihn die Eltern zum Studium nach Wisconsin in die USA – zwei Monate nach dem Massaker auf dem Tian `anmen

Mit scheelen Augen sehen sie, wie sich der junge Mann verändert hat, als er 1993 zurückkehrt. Zu eigensinnig und individualistisch erscheint ihnen dieser Desmond Shum mit seiner verwestlichen Kleidung und seinen Plänen. Aber er hat sich für China entschieden, obwohl er mit einer Greencard in den Staaten hätte bleiben können, und der einsetzende Wirtschaftsboom auf dem Festland treibt seinen Ehrgeiz. Er lernt schnell beim Handel mit Zigaretten und Bier für das sino-amerikanische Unternehmen TaitAsia – der Großinvestor ChinaVest hält Anteile – wie Zollschranken und rechtliche Hürden zu umgehen sind. Dass auch ein Marineoffizier der Volksbefreiungsarmee bereit ist, ein Kriegsschiff zum Schmuggel von Bier zu nutzen, überzeugt ihn vom möglichen Umgehen fast aller Regeln in dieser Geschäftswelt – und von der alles entscheidenden Wirkung der guangxi, der Netzwerke aus Beziehungen zu den politisch Mächtigen in China.

Er erlebt hautnah mit, wie der „Rote Adel“ – höchste KP-Führer vor allem aus der alten Garde und deren Söhne und Töchter – sich für den wirtschaftlichen Fortschritt unentbehrlich machen, indem sie Investitionen zulassen oder behindern. Sie werden reich. Die informelle Macht der Nomenklatura bleibt unbegrenzt, eine kritische Öffentlichkeit gibt es kaum, aber gerade das Geschäft mit der boomenden IT- und Elektronikbranche verspricht größte Gewinne, ebenso das mit Immobilien, dem Baugewerbe, … eigentlich mit fast allem, was anderthalb Milliarden Chinesen bis zu Maos Tod vorenthalten blieb. Desmond Shum will dabeisein, wenn der große Aufbruch in ein noch größeres Wachstum übergeht. 1997 wird er Repräsentant von ChinaVest in Peking.

Zu dieser Zeit wachsen die Widersprüche zwischen allgemeiner staatlicher Planung und Leitung, der Praxis einer plötzlich entfesselten Marktwirtschaft und der unangreifbaren informellen Herrschaft der KP so rapide wie die chinesische Wirtschaft. Nicht nur westliche Firmen scheitern an den chaotischen, für Ausländer kaum durchschaubaren Verhältnissen. 

„Die alten Gesetze waren nicht mehr anwendbar. Aber wenn die Partei neue Gesetze entwarf, schufen die Ministerien absichtlich große Grauzonen, damit die Behörden stets die Möglichkeit hatten, missliebige Marktteilnehmer zu verfolgen.“

Willkür, Rechtsunsicherheit, Korruption, geistiger Diebstahl: Nur wer sich hinter den Kulissen auskennt, wer guangxi hat in höchste Ebenen der informellen Macht, kann Geschäfte machen.

Desmond Shum hat Glück. Er lernt 2002 eine Unternehmerin kennen, deren Ehrgeiz seinem gleicht, deren Bildung, Begabung und Charme ihn bestricken: Whitney Duang erfreut sich enger freundschaftlicher Bande zu der ebenso unternehmungslustigen Ehefrau des Premierministers Wen Jiabao. Whitney und Desmond werden ein Paar, ihre Energien vervielfachen sich, aus Projekten werden mächtige Vermögenswerte und – wichtiger noch: sie bewegen sich zwischen stratosphärischem Überblick und detailreicher Kenntnis auf und ab im Gefüge informeller Macht. Das heißt auch: Sie balancieren elegant das für Geschäfte notwendige Ansehen, das Herzeigen prestigeträchtiger Statussymbole und die fürs Überleben wichtige Verschwiegenheit aus; sie verpflichten andere, indem sie mit noblen Geschenken und Einladungen signalisieren „Das seid Ihr uns wert!“, vermeiden gleichzeitig, Konkurrenten, störrische subalterne Beamte und schwierige Klienten zu provozieren.

Der Autor erzählt all das nicht streng chronologisch. Im Strom der Zeit zwischen 1970er und 2010er Jahren steuert er Inseln an: Die Biographien seiner und der Eltern von Whitney, die der Familie Wen und anderer Führungsfiguren, die von Freunden und Kollegen, Geschäftsleuten, Gaunern, stürzenden Funktionären, deren Kindern… Das Elend der Gefängnisse und des Wanderdaseins der unablässig durchs Land migrierenden Arbeiter kommen nicht in Sicht, aber wer hat sie nicht seit den 2000er Jahren in Dokumentationen sehen oder davon lesen können?

In dieser Zeit kulminiert das unternehmerische Leben von Desmond und Whitney. Sie investieren in ein gewaltiges Projekt: Ein Logistikzentrum neben Pekings Großflughafen, den Norman Foster zu den Olympischen Spielen 2008 baut. Der Grundstein wird nach Hürdenläufen durch Behörden, Widerständen untergeordneter Verwaltungen, tage- und nächtelange Marathonberatungen im Netz der guangxi endlich im Juni 2006 gelegt. Wenige Monate später ist es beinahe vorbei: Der staatliche Partner des Joint Venture, der Flughafenchef verschwindet infolge parteiamtlicher Untersuchungen. Da seine Unterschrift für Kredite unerlässlich ist, fehlt plötzlich das Geld.

Aber das Paar scheint vom Schicksal begünstigt. Es macht 2007 mehrere hundert Millionen Dollar Gewinn an der Börse, investiert privates Kapital, und im April 2008 rettet Desmond Shum einem wichtigen Planungsfunktionär während einer Reise in den USA das Leben, was dem Bau am Logistikzentrum enormen Schub bringt: Er wird in die „Familie“ im Stadtteil aufgenommen, verbringt viel Zeit mit Chefs der unteren Etagen, passt sich – wieder einmal – chinesischen Umständen an.

Andererseits führen Whitney und Desmond ein Leben in Saus und Braus auf ausgedehnten Reisen und mit Kaufräuschen im Luxus. 2009 bringt Whitney nach vielen Mühen um eine künstliche Befruchtung in New York den gemeinsamen Sohn zur Welt. Der Vater gibt ihm den griechischen Namen Ariston, und mit dem Kind verändert sich sein Blick auf die Zukunft, nicht nur was eigene Wünsche und Pläne, vielmehr was die Entwicklung Chinas betrifft. Er möchte darin Bedeutsames hinterlassen; das Paar stiftet für die neue Bibliothek der Tsinghua-Universität 10 Millionen Dollar, dazu Stipendien, fördert Kontakte zu Hochschulen in den USA.

Das zwölfte Kapitel leuchtet einiges aus, was Anfang der 2000er Jahre im Staats- und Parteiapparat ablief. Die schroffen Wechsel von scheinbarer Öffnung Richtung Westen, liberalisiertem Kurs in der Wirtschaft, freierem Meinungsaustausch und rigiden, restriktiven Maßnahmen gegen jeden kritischen Gedanken erlebten wir bei unseren Arbeiten fürs deutsche Fernsehen und Radio mit. Wir staunten 2005 in Kunming über mutige, realistische Beiträge beim Internationalen Festival des anthropologischen Films und die folgenden Diskussionen – im Jahr darauf war es verboten und hatte für einige Initiatoren üble Konsequenzen.

Die Doppelherrschaft der bürokratischen Systeme von Partei und Staat im Sozialismus mit ihren Machtkämpfen zwischen ideologischen Strömungen, personellen Verwerfungen, rechtlichen Grauzonen verunsichern alle Triebkräfte der Gesellschaft. Dass Gesetze rückwirkend in Kraft treten scheint hierzulande – noch? – ausgeschlossen, in China war und ist dies üblich. Von heute auf morgen kann als Korruption verfolgt werden, was zum Zeitpunkt des Geschehens noch als legal galt. Unter diesem Damoklesschwert leidet privates Unternehmertum ebenso wie Joint Ventures mit ausländischen Firmen: Die KP und ihr Sicherheitsapparat sind allmächtig und allgegenwärtig. Wann jemand “sein Gesicht” und damit seine soziale Existenz verliert, hängt von der Willkür ihrer Führer ab.

Manche Säuberung, mancher Absturz beginnt, wenn Informationen über die Geschäfte eines Funktionärs in westlichen Medien erscheinen, mancher Zweikampf wird zum Königsdrama von Shakespeare-Format – wie der zwischen Bo Xilai und Xi Jinping. Der Sieger ist bekannt, seine Politik der zentralistischen Befugnis und Kontrolle ebenso: Unter dem Vorwand, Chinas Weg zur Weltmacht von Korruption und westlicher Dekadenz freizuräumen, wurde er zum neuen Mao Zedong.

Whitney Duangs Netzwerk der guangxi zerreißt während der Machtkämpfe. Als Wen Jiabao wegen eines Artikels in der „New York Times“ über Geschäfte seiner Frau und Kinder unter Druck kommt, ergreift er für Xi Jinping Ping Partei, um sich zu retten. Sein gesamtes Vermögen schenkt er der KPCh. Viele “rote Adlige”, etliche Milliardäre, wie Jack Ma, einst bewunderter Herr von “Alibaba”, werden folgen. Der Staat dominiert heute wieder vollständig die Wirtschaft.

Desmond Shum erzählt im letzten Drittel seines Buches, wie er um “Genesis” kämpft, sein letztes großes Bauprojekt mitten in Peking, wie er Kontakte nach Amerika und Europa hält, andererseits fehlgeleitet von seiner Heimatliebe in Hongkong noch 2014 prochinesische Propaganda macht. Weil er an seinen Einfluss in der „Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes“ glaubt, einer von vielen scheindemokratischen Institutionen, schreibt er Xi Jinping einen Brief mit Reformvorschlägen, während landesweit jede Opposition erstickt wird. Er bekommt keine Antwort.

Wer weiß, wie eine Partei des Lenin- oder Mao-Typs auch kleinste organisatorische Einheiten beherrscht, indoktriniert, zur Kontrolle nutzt – egal ob Sportvereine oder Berufsverbände etwa von Künstlern, Wissenschaftlern, Journalisten, wer erlebt hat, wie in Schulen, Hochschulen, in jedem privaten Unternehmen Parteikomitees die Linie aufzwingen, der wird über Shums langen Weg zum bitteren Erwachen nur deshalb staunen, weil er das Reich von guangxi, dem informellen Verbindungsnetz nicht von innen kennt. Whitney verweigert sich dem Erwachen. Aber Konflikte zerreißen selbst die “im Himmel geschlossene”, von big money gesegnete Ehe, als das Vertrauen brüchig wird. 2013 trennt sich Desmond von ihr, 2015 geht er mit dem Sohn nach England.

“Chinesisches Roulette” macht – gerade weil das Buch nicht moralisiert, sondern das dramatische Geschehen einigermaßen nüchtern betrachtet – sehr anschaulich, dass nicht nur Asien durch das totalitäre System der KPCh bedroht ist, dass andererseits informelle Macht künftig über das Schicksal jedes noch so massiven Imperiums mehr entscheiden wird als materielle. Ist China “to big to fail”? Kollektivistische Heilsversprechen werden ebenso wie Hoffnungen auf Bürgerrechte derzeit durch die unmenschliche No-Covid-Strategie der KPCh in Shanghai beispielhaft exekutiert.

Ein kleiner, nicht lektorierter Fehler im letzten Absatz des 17. Kapitels ergibt eine hübsche Pointe: Xi Jinping, 2018 durch eine geänderte Verfassung ermächtigt, seine Amtszeit beliebig zu verlängern

“…tauchte auf Postern, Teetassen und Tellern auf. Sein Name erschien jeden Tag auf dem Titelblatt des Parteiorgans Renminbi Ribao.

Das „bi“ zuviel macht aus dem VolkRenmin – in der Volkszeitung das Geld – Renminbi. Ja, die Medien gehören Big Money und Big Brother. Das Volk zahlt für alles.

Desmond Shum „Chinesisches Roulette“, Droemer Knaur, München 2022, Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Gebauer

Der Artikel erschien erstmals am 19.April 2022 im Globkult-Magazin.

Pandemischer Besuch

Der Tod mäht in der Cholera Menschen nieder. Illustration aus Le Petit Journal Ende des 19. Jahrhunderts
Seuchenangst und Politik

Mit dem Virus kommt der Gevatter
Lupft den Zylinder und sagt: „Grüß Gott!
Habe die Ehre, Herr Wichtigmann,
wir treten jetzt eine Reise an“.
Geimpft und geboostert fühlst du dich sicher
Der meint nicht mich, erst ist ein anderer dran.
Du greifst zum Imfpass, doch die Seiten sind leer
Und auch beim I-Phone rührt sich nichts mehr.

„Moment mal“, fragst du den knochigen Gast,
„kann es sein, dass du’s etwas zu eilig hast?
Da sind ein paar Leute, die sind nicht geimpft
Die hole!“. „Ja“, sagt der Tod, „sonst werd ich beschimpft.
Doch der Impfpass bewahrte noch keinen vorm Sterben
Mag die Pharmalobby noch so sehr werben.
Ob an oder mit – ist dem Virus egal
Mir auch, mein Freund. Du hast keine Wahl.“

Sollst du nun lachen oder angstvoll erschauern?
Du bist dir gar keiner Krankheit bewusst.
Der Pieks ging ganz glatt – und Du hast ja gemusst.
Also sagst du: „Sehr geehrter Herr Tod
Ich war solidarisch. Ich hielt das Gebot
schützte mich und die andern vor schwersten Leiden!“
„Mensch“, nölt das Gerippe, „bloß nicht zu bescheiden.
Was du getan hast, verdient jedes Lob
Das weiß, wer je eine Statistik erhob.
Du bist dem Staat eine wertvolle Nummer
Machst auch den Medien keinerlei Kummer.
Du sorgst dafür, dass die Mühlen mahlen
Klar: soll’n doch die Ungeimpften bezahlen“.

„Das geht mir nun wirklich zu weit mein Herr
Ich folg‘ der Regierung ich denke nicht quer
Und doch hab ich nie irgendwen denunziert.
Von Wissenschaftlern ward ich geführt.“
„Drum eben“, lächelt das Knochengesicht,
„bist du mir so besonders wichtig.
Leute wie du machen alles richtig.
Ich nehm‘ dich mit, weil du dazugehörst
Und auf das solidarisch Sein schwörst.
Als Sterbefall bist du ein wichtiger Teil
der nächsten Kampagne für bessere Vakzine
auf dass Elite weiter verdiene:
Minister, Konzernchefs, die ‚Wissenschaft‘
Ohne Angst vor mir – wo wäre ihre Kraft?
Sie schützen vor jeglichem Ungemach
Versprechen’s davor, vergessen’s danach.

Nun Kopf hoch, mein Freund, die Sense ist scharf
Kein Trotz und Geschrei, wenn ich bitten darf.
Als Vorbild beim Impfen warst du im Glied
Jetzt hoffe nicht auf den Unterschied.“
Es saust die Sense, die knochigen Arme
Schwingen nach vorn: „Dass Gott sich erbarme!“
Kannst du noch schreien, dann bist du wach.
Dein Hauptabteilungsleiter sagt: „Guten Tach
Wünsche wohl zu ruhen, Herr Wichtigmann
Gelobt sei, wer den Büroschlaf ersann.
Nun sei’n Sie hübsch fleißig, ich wüsste zu gern —
Wenn sie so wollen ‚im Namen des Herrn’—
Was über Ihre Verlässlichkeit.
Für etliche Leute ist es soweit:
Wer, statt sich impfen zu lassen, herumspaziert
Corona leugnet und andre verführt
Dasselbe zu tun, der gehört in die Akten.
Es muss endlich Schluss sein mit diesen Beknackten.“
Spricht es, winkt dir „Habe die Ehre!“
Und hinterlässt eine ziemliche Leere.

Du sitzt vorm Computer und fragst dich entsetzt
Wird nicht dein Recht aufs Gröbste verletzt
Wenn der Tod gänzlich ungeimpfte Personen
Weil sie nicht erfasst sind, einfach vergisst
Während du – trotz Boostern nach -zig Mutationen –
Ohne vollständigen Impfschutz bist?
Die Impfpflicht muss her, Codes und Listen, nur munter
Der Staat soll gelobt sein, er setzt sie um.
Wer nicht funktioniert, der geht eben unter
Wichtigmann nicht. Der ist schließlich nicht dumm.

Chinas „Masterplan“ – und Europas Eliten

Titel zu "Der Masterplan" von Stefan Scheuer

Wieviel Freiheit bleibt Europa?

„China first!“ Das müsste Xi Jinping, Parteiführer der Chinesischen Kommunisten und Staatsoberhaupt des Reiches der Mitte nicht proklamieren, um die Linie seiner Politik klarzustellen. Wie Mao Zedong ist er Führer auf Lebenszeit, jede Art polititscher Opposition lässt er brutal unterdrücken. Als Liu Xiaobo, Friedensnobelpreisträger 2010, vor den Folgen des chinesischen Nationalismus warnte, verschwand er im Kerker, bis ihn seine Krankheit zum Tode begnadigte.

Xi Jinping gewährte der deutschen Kanzlerin den Wunsch, Liu Xia, die Witwe Liu Xiaobos, in die Freiheit des deutschen Asyls aufnehmen zu dürfen, Angela Merkel „gab er damit Gesicht“, die chinesische Gepflogenheit, Verhandlungspartner in aller Augen aufzuwerten. Sie durfte sich bedanken. Mir fielen sofort die „Freikäufe“ ein, mit denen die Bundesrepublik politischen Gefangenen aus der DDR heraushalf. Heute sind nicht Kommunisten dringend auf Geld und wirtschaftliche Zusammenarbeit angewiesen, sondern deutsche Politiker und Konzernchefs haben ohne die KPCh keine Zukunft. Und weshalb das so ist, darüber hat Stephan Scheuer ein hoch informatives Buch geschrieben, es stimmt für die Zukunft Europas und Deutschlands nicht optimistisch.

Schon im Vorwort reißt er auf, wie Maos „Volksrepublik“ in nur 40 Jahren vom Drittweltland zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht heranwuchs und inzwischen mit seiner Innovationskraft sämtliche Industriestaaten vor sich her treibt. In folgenden neun Kapiteln legt er dar, wie sich Xi Jinpings unbegrenzte Machtfülle parallel zum Wohlstand von fast 1,4 Milliarden Menschen steigerte, chinesische Internet-Konzerne wie Baidu, Tencent, Alibaba, Huawei zu den amerikanischen Konkurrenten – Google, Facebook, Amazon, Apple – aufschlossen und die Digitalisierung des Alltags nirgenwo weiter fortgeschritten ist als in China. Andrerseits expandieren chinesische Firmen auf alle Kontinente. Sie schaffen Infrastrukturen in Afrika und Südamerika, dringen mit Finanzdienstleistungen und Firmenkäufen sowohl zu den Verbrauchern wie in Unternehmen vor, diktieren das Tempo bei der Entwicklung von autonomer Mobilität, sind Marktführer bei Drohnen. „Sieben von zehn weltweit verkauften Drohnen stammen von DJI“, schreibt Stephan Scheuer. Er liefert zu den Zahlen spannende Geschichten über Erfolge und Misserfolge großer Konzerne. Fast alle beeindrucken durch ihre Lernfähigkeit zwischen der Dynamik globaler Märkte und den Einschränkungen staatlicher Bürokratie, der Abschottung durch die „Great Chinese Firewall“. Manche Biographien ihrer Chefs taugen zur Legende. Frank Wang (DJI), Jack Ma (Alibaba), Pony Ma (Tencent), Robin Li (Baidu) mögen durchaus westlichen Vorbildern ähneln, sie unterscheiden sich jedenfalls durch ihre vollkommene Loyalität gegenüber der Partei.

Auch die Lebensgeschichte von Justin Lin (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Filmregisseur) liest sich abenteuerlich: Von Taiwan schwimmt er 1979 kilometerweit ins verfeindete Rotchina, darf nach Jahren der Bewährung in Peking Wirtschaft studieren und auf Vermittlung des Nobelpreisträgers Theodore W. Schultz in Chicago promovieren. Er brachte es zum Chef-Ökonomen der Weltbank. Dass die Finanzkrise von 2008 von China gut verkraftet wurde, weil die Führung nicht sparte, sondern beherzt in Infrastruktur investierte, dürfte ihm zu verdanken sein. Stefan Scheuer nennt ihn den Chefstrategen – nicht nur für Chinas globale Expansionspläne. Der Ausstieg des Staates aus der Wirtschaft ist für ihn kein Ziel, und die Einparteienherrschaft infrage zu stellen, käme ihm nicht in den Sinn, im Gegenteil: Megafusionen von Staatsfirmen wie bei der Bahn, der Telekommunikation, bei Energiekonzernen, Banken und Autoherstellern dienen der globalen Expansion chinesischer Vormacht.

Alle technologischen Neuerungen nutzen die regierenden Kommunisten zugleich für ihr wichtigstes Ziel, eine „harmonische Gesellschaft“ aus konform handelnden „neuen Menschen“ zu schaffen – davon handelt Kapitel acht „Der Staat: Big Brother trifft Big Data“. Weitgehende Überwachung und soziale Kontrolle, ein darauf basierendes System von Belohnung und Bestrafung für jeden Einzelnen sind in manchen Städten und Regionen bereits realisiert, bis 2020 soll das flächendeckend funktionieren. Nicht nur Behörden, Verkehrsüberwachung, Fahrkarten und Flugtickets liefern Daten fürs Profil eines Bürgers, jede seiner Aktivitäten im Netz – Einkäufe, Online-Spiele, Finanztransaktionen, Chats… – fließen ein. Dank der uneingeschränkten Kooperation von Alibaba und Tencent, dank der hochentwickelten Auswertungs-Algorithmen von Baidu werden Bürger gläsern. Die wenigsten werden sich dagegen wehren, denn schon eine abweichende Meinung kann drakonisch geahndet werden.

Viele dieser Entwicklungen finden sich in journalistischen Berichten, Stephan Scheuer fasst sie klug zusammen, stellt sie in historischen Kontext etwa des Maoismus, bereichert sie um eigene Erfahrungen. Er zeigt, wie die Großmacht beginnt, Europa zu dominieren: Deutsche Autoproduzenten geraten unter Druck, wenn einer ihrer wichtigsten Märkte aufgrund staatlicher Planung auf E-Mobilität umgestellt wird, Fernziel: autonomes Fahren. Hier beginnen die Fragen. Datentechnisch ist ein autonomes Fahrzeug völlig transparent. Wird ein bürokratisches Monster wie die DSGVO chinesische Hersteller hindern, ihre Bauteile für Transfers zu nutzen? Standen bisher schon Smartphones aus China im Verdacht, ungeschützt gegenüber geheimdienstlichen Hackern zu sein, so wird etwa mit der Ausbreitung chinesischer Bezahldienste auch in deutschen Geschäften und Online-Märkten ein Zugriff des chinesischen Staates auf solche digitalen Quellen wahrscheinlicher. Wird aus dieser IT-Vormacht Chinas mit dem Blick etwa auf von künstlicher Intelligenz gesteuerte Kampfdrohnen bald eine miltitärische? Google hat sich in den USA aus einem entsprechenden Projekt zurückgezogen, Baidu wird das gewiss nicht tun.

Eine „Kombination aus Ignoranz und Selbstzweifel“ bescheinigt der Autor im letzten Kapitel dem „einst so stolzen“ Europa. Was die „Eliten“ von Politik und Wirtschaft anlangt, ist vor allem Ersteres auffällig.  Abgesehen von politischen und Finanzkrisen: Schon ein Blick auf die Bahn, die Verkehrsinfrastruktur, den Netzausbau und die Mängel im Bildungssystem löst begründete Zweifel daran aus, mit China auch nur gleichziehen zu können. Deutschland hat mindestens ein Jahrzehnt verloren. Sollte sich Europas Bevölkerung mit der EU so verbunden fühlen wie die Chinesen mit ihrem Land? Mancher Politbürokrat agiert, als würde er gern mittels IT und Medien nach chinesischem Muster die Bevölkerung umerziehen, jeden Widerspruch eliminieren. Affinitäten zu Marx, Lenin und Mao sind wieder en vogue. Der goldene Marx aus China in Trier ist eine Ironie der Geschichte.

Stephan Scheuer „Der Masterplan – Chinas Weg zur Hightech-Weltherrschaft“ 1. Auflage 2018, 208 Seiten ISBN: 978-3-451-39900-8, 22 €

Politbürokraten, Meutenmut und Populismus

Porträtfoto von Immo Sennewald 1983

1983 in Ostberlin: Der Autor kurz vorm Berufsverbot

Was Vera Lengsfeld, Monika Maron, Henryk M. Broder, Uwe Tellkamp und anderen Unterzeichnern der „Erklärung 2018“ widerfährt, erinnert deutlich an die Spaltung der Kulturlandschaft in der DDR nach der Ausweisung Wolf Biermanns durch das SED-Regime. Die parteitreuen Medien entfesselten eine Hetzkampagne gegen alle, die sich dem Protest zugunsten Biermanns anschlossen. Zu besichtigen war der Meutenmut besinnungsloser Mitläufer ebenso wie die Infamie von „Kunst- und Kulturschaffenden“ die aus der Hetzkampagne Vorteile für ihre Karriere gewannen. Die Ausreisewelle prominenter Autoren wie Günter Kunert, Jurek Becker, Hans-Joachim Schädlich, von Stars wie Manfred Krug und Armin Müller-Stahl, von Musikern, Malern, Regisseuren ebbte bis zum Zusammenbruch des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ nicht ab. Sie war Signal und Triebkraft für das Scheitern des „real existierenden Sozialismus. Die Politbürokratie West scheint inzwischen denselben Weg gehen zu wollen.

Brecht hat einmal das Problem von Leuten beschrieben, die auf absterbenden Ästen sitzen: Sie können nichts anderes als Sägen erfinden. Abgesehen davon, dass die DDR schon 1977 wirtschaftlich und moralisch dem Bankrott entgegentrudelte: Ihre politische Führung – das „Politbüro des ZK der SED mit dem Generalsekretär Genossen Erich Honecker an der Spitze“ blendete die Realität mit Hilfe der linientreuen Presse und des Staatsrundfunks sowie zahlloser „Massenorganisationen“ fast vollständig aus. Ob „Freie Deutsche Jugend“ (FDJ), „Freier Deutscher Gewerkschaftsbund“ (FDGB), „Demokratischer Frauenbund Deutschlands“ (DFD), „Kulturbund“, „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“ (DSF), in deren mindestens einer fast jeder Erwachsene Zwangsmitglied wurde: Sie alle bekräftigten in normiertem SED-Jargon ergebenst, dass Biermann verdientermaßen ausgewiesen worden sei. Wochenlang füllten parteifromme Journalisten die Zeitungsspalten, die Kanäle des DDR-Fernsehens und Rundfunks mit solchen Bekenntnissen. Wer sich dem zu verschließen suchte, gar eine abweichende Meinung äußerte, kam am Arbeitsplatz, in Schulen oder Hochschulen unter Druck. Nur mit Glück entzogen sich manche – im „Raketenschirm“ habe ich eine solche Szene festgehalten.

In Kneipen, Cafés, Zugabteilen, Kleingärten, Familien und unter Freunden konnte jeder, dem die Informationen über den äußerst zahmen, fast unterwürfigen Protest der „Dissidenten“ einigermaßen vollständig vorlagen, sich ein eigenes Bild vom Geschehen machen. Es war keineswegs „die Stimme des Volkes“, die täglich landauf, landab über die Zeitungen der SED, der Blockparteien, der Massenorganisationen guthieß, was Honeckers Politbürokraten anrichteten. Der Riss zwischen der Wahrnehmung von Herrschenden und Beherrschten wurde immer tiefer. Natürlich schrieben das SED und Stasi sogleich der „ideologischen Diversion“ zu, die von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten jenseits des „Antifaschistischen Schutzwalls“ betrieben werde. Es sollte sich bald zeigen, dass im Gegenteil die Kluft umso tiefer wurde, je mehr die Apparatschiks wirtschaftliche, politische und moralische Konflikte tabuisierten. Wer sie beschrieb, zur Diskussion und zu Reformen aufforderte, wurde schnell zum „feindlich-negativen Subjekt“, verdächtig der „politischen Untergrundtätigkeit“ (Stasi-Kürzel PUT), und riskierte die berufliche Existenz, gar die Inhaftierung.

Es ist bizarr, wenn heute ausgerechnet ARD und ZDF – seinerzeit einigermaßen glaubwürdige Quelle fürs zunehmend des Sozialismus überdrüssige Staatsvolk der DDR – einer selbsternannten „Antifa“ helfen, Schutzwälle gegen den „Populismus“ zu errichten – also gegen kritische Stimmen, die im Staatsvolk verbreitete, höchst brisante Fragen stellen. Die Kontrollstellen, die Autoren und Interviewpartner dort passieren müssen, sondern erbarmungslos alles aus, was „rechts“ ist. Wer Glück hat, geht als „umstritten“ durch, wer Pech hat, wird mit dem Stempel „Nazi“ versehen und ausgegrenzt. Der antipopulistische Schutzwall verweigert ohne Ansehen des Ranges auch ausländischen Wissenschaftlern, Künstlern – Politikern sowieso – den Zugang zum Reich der einzig reputierlichen Meinung, wenn sie einmal den Stempel „Rechtspopulist“ im Pass haben. Als hätten nicht dieselben Anstalten über Jahrzehnte – verstärkt durch das Aufkommen privater Sender und des Internets – mittels einer alle Programme dominierenden Quotenmechanik einem Populismus gehuldigt, der von „Medienforschern“ unter dem Schlagwort „Publikumsnähe“ durchgesetzt wurde. Gesendet wird, was gefällt, nicht was Fachjournalisten für mitteilungswürdig im Sinne des Grundgesetzes halten. So sehen die Programme aus. „Boulevardisierung“ und „Infantilisierung“ prägen die Vorabend- und Abendprogramme. Für Anspruchsvolleres bleiben Nachtstunden und Spartenkanäle. Zugleich wuchs bei der Anstaltsbürokratie die einigermaßen verwegene Überzeugung, im alleinigen Besitz des Wissens darüber zu sein, was „die Menschen da draußen“ verstehen, und wie man ihr Verständnis von der Welt – bei gleichzeitiger Versorgung mit Bundesliga, jeder Art sportlicher Mega-Events, Kriminalserien und -filmen, volkstümelnden und Talkshows – in Bahnen lenkt, die der politischen Stabilität dienen. Es ist ziemlich genau das Konzept, dem auch der DDR-Staatsfunk folgte. Allfälligen Ärger über das Agieren der Mächtigen durfte auch dort das Kabarett auffangen – redaktionell sorgsam betreut, versteht sich. Rechte Kabarettisten wollen „unsere Menschen“ nicht.

Gleichwohl schafften die Politbürokraten Ost es nie, den Zufluss unerwünschter Informationen über den erbärmlichen Zustand des Staatswesens gänzlich zu unterbinden. Das werden nicht einmal Putin und die Chinesischen Kommunisten schaffen. Jede Zensur, jedes NetzDG erschafft beim Volk, dem großen Lümmel, eine unstillbare Gier nach neuen, unkontrollierbaren Kanälen. Ja, es scheut sich nicht, „Fake News“ und „Hate Speech“ zu verbreiten, schon um die Mächtigen zu ärgern. Man könnte das als Folge gelungener Infantilisierung sehen. Um das Spiel offen zu halten, brechen Unterlegene (Kinder zumal) erfahrungsgemäß umso häufiger und drastischer die Regeln, je weniger sie noch zu verlieren haben. Daran lassen sie sich durch Zurufe wie „Loser“, „Pack“, „Abgehängte“ ebenso erfahrungsgemäß nicht hindern.

Politbürokraten in ihrer auf maximale Sicherheit programmierten, statistisch untermauerten Fixierung aufs Ziel des Machterhalts um jeden Preis (sie müssen ja nicht zahlen) verstehen das nicht. Gewohnt, Fehler möglichst niemals zuzugeben, bemerken sie am Ende nicht einmal den Übergang in den Verfolgungswahn. Sie können nur neue Stempel, Redeverbote und Schutzwälle erfinden, und sie rekrutieren und armieren fortwährend neue Hilfstruppen, gern aus dem Medien- und Hochschulprekariat, für den ideologischen Endsieg. Dank enger personeller Netzwerke insbesondere zu den Anstalten wachsen die Schutzwälle. Die ideologischen sind oft haltbarer als die aus Beton: Was der SED die Stasi und an der Innerdeutschen Grenze die SM-70 war, ist heutigen Propagandakräften das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Facebook, Twitter und andere „Soziale Netzwerke“ sollen dafür sorgen, dass sich digitale Grenzverletzer selbst liquidieren. Kein Bürokrat hat hier den Finger am Abzug, große Konzerne organisieren die Verantwortungslosigkeit für Sperren, gelöschte Profile und erstickte Meinungsäußerungen. Wenn diese Waffen gelegentlich nach hinten los gehen, trifft das nur als Kollateralschäden abrechenbare Hilfskräfte: Übereifrige Aktivisten der eigentlich guten Sache.

Es geht voran. Wer riskiert schon seine berufliche Existenz, seine Reputation als Autorin oder Kameramann, seine Reichweite als „Freier“, wenn er auf die ideologischen Grenzbefestigungen trifft, die das Scheitern von Politbürokraten und ihrer medialen Gefolgschaft etwa in der Flüchtlings-, Energie- oder Europapolitik ummauern?

Aber „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“ erwies sich schon für die Politbürokratie Ost als Strategie zum Absturz. Gerade im Reich der Ideen sind Vorstellungskraft und Vermehrung der „Grenzverletzer“ enorm. Das beginnt schon da, wo die Bezeichnung „Experte“ volkstümlich Schwätzer bedeutet, und „umstritten“ mutig. Ja, die politischen Witze aus dem Volksmund sind auch in „Sozialen Medien“ nicht selten unflätig. Gerade deshalb lohnt es sich, Peter Rühmkorfs Buch „Über das Volksvermögen“ nach fast 50 Jahren wieder zu lesen – eine brillante Verteidigungsschrift für das Recht auf freie Meinungsäußerung, wie es das Grundgesetz bestimmt.

 

 

 

Geld und Marx: Das Paradies

Breshnew_Honecker1972,_MiNr_1760Kapital sei Mehrwert heckender Wert, sagte Marx, und prognostizierte dem Kapitalismus eine große Zukunft, die alle Nationalstaaten auflösen, an deren Ende freilich der auf dem Holze der bürgerlichen Gesellschaft gewachsene Kommunismus die Alleinherrschaft antreten werde. Was daran funktioniert hat: Das parasitäre Wuchern politbürokratischer Organisationen, die mehr oder weniger den Dogmen von Marx und Lenin folgten. Dort, wo sie den Kapitalismus seine Arbeit tun lassen, sind ganze Funktionärsgenerationen in Gewerkschaften, Parteien, NGO bestens versorgt. Ihre Anhänger glauben Verheißungen wie der vom Ende der Ausbeutung, von der „Expropriation der Expropriateure“ von allgemeiner Gleichheit, vom Verschwinden jeglicher „Diskriminierung“, womöglich auch dem der Geschlechter; sie wählen Leute, die sie vor allem von der Verantwortung für ihr eigenes Leben befreien, gern auch von der für die Aufzucht von Kindern. Dann ist der Weg frei, sich ins Gestell zu begeben, demnächst volldigitalisiert, damit die Geldmaschinen laufen. China ist vermutlich Pionier der Entwicklung – und am nächsten an Orwells präzisen Szenarien.

Die Symptome des Totalitarismus sind von bequemen Verhaltensritualen maskiert: „Wieso soll gerade ich mich widersetzen? Wenn ich mich weigere, macht ein anderer den Job.“ „Wenn alle anderen das können – wieso du nicht?“ „Was bringt es mir, wenn ich durch Widerstand Schaden nehme?“ „Wer unbedingt auffallen will, muss auch die Folgen tragen.“

Niemand bietet komfortablere Möglichkeiten, sich befürsorgen zu lassen, sich an möglichst keinem Stein zu stoßen, als die Politbürokratie. Wer immer beim Ausgeben von Steuergeldern noch so krasse Fehlentscheidungen trifft, noch so gewaltige Schäden verursacht: Er ist abgesichert. „Organisierte Verantwortungslosigkeit“ heißt das – und ist eine Strategie so tödlich wie ein Krebs: Eigene Zellen paralysieren den Organismus durch Wucherungen und Metastasen, die sich nicht stoppen lassen. Rudolf Bahro hat in seinem Buch „Die Alternative“ 1977 vorhersagen können, wie das Sterben des „real existierenden Sozialismus“ nicht nur in der DDR ablaufen würde.

Wer heute sieht, wie vom Staat finanzierte Zusammenschlüsse – in diversen Rechtsformen aber mit sehr einseitig ausgerichteter Botschaft – ebenso eilfertig Ziele der Politbürokratie propagieren, wie es seinerzeit von Kommunisten initiierte „Massenorganisationen“ für Jugend, Frauen, Sport, Bildung und Kultur taten, wer die Penetranz wahrnimmt, mit der sie Hochschulen, Behörden und Justiz unterwandern, Menschen mit abweichenden Meinungen diffamieren, wie sie das vom Grundgesetz verbriefte Recht auf freie Meinungsäußerung diskreditieren, unterlaufen oder mittels des „NetzDG“ durch private Firmen auszuhebeln versuchen, der wird sich um die Zukunft unserer Gesellschaft sorgen müssen. Es ist angewandter Leninismus: Das Grundgesetz ist solchen Korporationen nur Instrument, eigene Dominanz zu erreichen – und die Deutungshoheit über den Sprachgebrauch ist der erste Schritt.

Politische Parteien und die Regierungen, an denen sie beteiligt sind, haben – so will es das Grundgesetz – Aufgaben im Interesse der Bürger zu erfüllen. Es kann nicht im Interesse der Bürger sein, dass Parteien und ihnen zuarbeitende Organisationen nur zum Zwecke des Machterhalts und der von ihnen bevorzugten Ziele Steuermittel einsetzen, dass sie die Unabhängigkeit der Medien eliminieren, dadurch Kritik an Fehlentscheidungen, Rechtsbrüchen und unerwünschten Entwicklungen erschweren oder gar ersticken.

Das Handeln der Regierung Merkel offenbarte in den vergangenen Jahren vermehrt und immer deutlicher politbürokratische Züge. Der Begriff einer „DDR 4.0“ drängt sich auf, und die „Große Koalition“ will offensichtlich daran nichts ändern. Wem daran liegt, dass Demokratie, soziale Marktwirtschaft, Rechtsstaat in Deutschland und Europa in Zukunft erhalten und weitergeführt werden, der kann diese Regierung nicht unterstützen. Er sollte allerdings nicht darauf hoffen, dass eine Partei – gleich welchen Namens – ihm die Arbeit der Opposition abnimmt. Besser wäre allemal, mit den hoch bezahlten Abgeordneten seines Wahlkreises Klartext zu reden, auch mit Journalisten, Gewerkschafts- und sonstigen Funktionären. Und – ja! – noch ist das Internet ein offener, unkontrollierter Raum für den Meinungsstreit, anders als in China. Nutzen wir ihn – so lange es ihn gibt.

 

 

Wozu Freiheit – warum nicht?

Bundesarchiv Bild 183-1986-0813-460, Berlin, Parade von Kampfgruppen zum Mauerbau

Die Freiheit, sich mitmarschierend in Gefangenschaft wohlzufühlen

Egal ob sich Einer (oder Eine) Hilfe von Angela Merkel, Donald Trump, Erdogan, Xi Jinping, der UNO oder dem lieben Gott erhofft: Diese Hoffnung gründet sich auf einem den Menschen ebenso gemeinsamen wie unausrottbaren Missverständnis. Die Gattung war ungemein erfolgreich, weil sie sich mit Hilfe der Frage „Warum?“ ertüchtigte, Geschehenes aus dem Gedächtnis abzurufen, daraus musterhafte Abläufe zu konstruieren und sich für vergleichbares künftiges Geschehen zu wappnen. Die Methode funktionierte prima, so lange sie sich immer wieder an der Realität messen musste, im Fall des Versagens zum Lernen und verbesserten Konstruktionen führte.

Spätestens seit dem Siegeszug von Relativitätstheorie und Quantenphysik ist der systematische Fehler der Frage „Warum“ offensichtlich. Wer sich des Geschehens vergewissern, wer halbwegs brauchbare Szenarien für die Zukunft haben will, muss fragen „Wozu?“ – und er muss die treibenden Impulse aller am Geschehen Beteiligten erkunden, nicht nachdem etwas geschehen ist, sondern bevor oder während es geschieht. Ein erster, wichtiger Schritt: Er muss alle nach dem „Warum“ Fragenden daraufhin betrachten, mit welchem Ziel sie fragen und welche dem Einzelnen oder einem Kollektiv (Sippe, Stamm, Religion, Nation, Korporation) nützlichen Zwecken das Konstrukt aus vermeintlichen Ur-Sachen dient. Dann wird es spannend, und dann beginnen Konflikte.

Merkel, Trump, Putin, Erdogan, Xi Jinping… beanspruchen nämlich wie alle massenhaftes Heil Versprechenden, allein im Besitz sicherer Gewissheiten von Ur-Sachen zu sein. Wissenschaft, die den Namen verdient, würde das nicht tun. Für sie gibt es keine Gewissheiten – außer bei Gott, dessen Existenz sie für unbeweisbar hält. Damit lag sie in der Konkurrenz zu allen Religionen, was den praktischen Nutzen für das Gedeihen der Gattung anlangt, meist vorn. Freilich, wie gesagt nur dann, wenn sie den Namen verdiente, und die Kriterien dafür haben sich in der Geschichte der Menschheit ziemlich überzeugend herausgebildet: anhand ihrer Verifizierbarkeit. Davon handeln und das belegen die Annalen der Gattung. Man kann sie in Frage stellen, allerdings nicht, ohne die Ziele des In-Frage-Stellens ihrerseits kritisch zu prüfen. An dieser Stelle fallen Religionen ebenso durch, wie der Marxismus-Leninismus, Rassentheorien, Metaphysik und neuere Spielarten wie der Genderismus. Ihre Ziele sind erwiesenermaßen erkenntnisfeindlich, weil sie ihre Falsifizierbarkeit a priori nicht zulassen. Zu erkennen ist das an der mehr oder weniger ausgeprägten Brutalität, mit der sie Widerspruch und abweichende Meinungen verfolgen, bis hin zur Denunziation, zur Hexenjagd auf „Abweichler“ und Ungläubige. Allzu oft haben sie Herdenimpulse, tribalistische Reflexe des seit je kollektiv gebundenen Menschen-Wesens auf ihrer Seite. Die modernen Medien beweisen es ebenso wie die Kulturgeschichte.

Die Wissenschaft selbst gerät immer wieder unvermeidlich in diesen Konflikt: Welchen Zielen folgt sie? Wem dient sie? Vergewissert sie sich ihrer Fehler und Grenzen? Ist sie bereit zu lernen? Lässt sie dem Individuum die Wahl, Für und Wider abzuwägen? Nimmt sie qualifizierten Widerspruch auf? Ist sie geduldig genug, Unwägbares in Rechnung zu stellen? Oder strebt sie den „Godmode“ einer Objektivität an, die wähnt, sich aus eigener Machtvollkommenheit jeder Subjektivität entschlagen zu können? Dann wäre die Deutungshoheit einer Quasi-Religion ihr eigentliches Ziel – der unmündige Mensch. Also eine Religion der Un-Menschlichkeit.

Die demokratischen, rechtsstaatlich verfassten Gesellschaften des Westens müssen sich daran messen lassen, ob sie dem Einzelnen eine Wahl lassen, dazu Nein zu sagen. Sollen Menschen frei und auf eigene Verantwortung – Risiko und Haftung inklusive – handeln, oder als verantwortungslose, quotengesteuerte Herdentiere in der Vormundschaft von Politbürokraten, die sie der Verantwortung entheben? Dann sieht ihre Zukunft chinesisch aus.

Feminismus – wer gewinnt?

Cover_Rakenschirm_webEin Handlungsstrang des Romans befasst sich mit Silvia, einer in der DDR aufgewachsenen Künstlerin. 20 Jahre nach dem Untergang des SED-Staates sucht sie ein selbständiges Leben: frei und von Zensur unbehelligt. Findet sie Verbündete? Kann sie sich behaupten – oder muss sie sich an Organisationen, Verbände, Sponsoren binden? Welche Rolle werden Männer dabei spielen?

Sieben Jahre sind es, seit der „Raketenschirm“ entstand. „Gender-Mainstreaming“ ist Teil der Politbürokratie. Zeit, über Feminismus und Macht neu nachzudenken.

Die Fotoausstellung ist ein Erfolg, aber das genügt nicht. Es muss viel mehr herauskommen als knapp drei Minuten Interview in einem Magazin von RTL 2 über Schönheitsoperationen im Genitalbereich, es hätten sich die Vertreter aller Medien einfinden sollen, die der bunten Zeitschriften, die vom Boulevard – freilich, viel lieber noch die von „Psychologie heute“, vom „Spiegel“, vom „Stern“; am liebsten wäre sie mit einem „Geo“-Reporter samt Fernsehteam nach Afrika gereist, um eine Reportage über den Kampf gegen die Genitalverstümmelung zu produzieren, ergreifender, beredsamer, bilder- und spannungsreicher als alles, was zum Thema je publiziert worden ist. Stattdessen meldet sich nicht einmal die „Emma“.

Dabei ist sie vollkommen sicher: das Thema „Weibliche Genitalien“ ist ein ganz großes, größer noch ist die Unwissenheit darüber, die der Frauen zumal, denn immer mehr von ihnen rasieren nicht nur die Schamhaare, sondern lassen sich die kleinen Labien von Chirurgen zurechtstutzen, die Vagina verengen, einige, um männlichen Wünschen, die meisten, um der eigenen Vorstellung zu genügen, was sie begehrenswert, was sie in der Welt des Begehrens unwiderstehlich machen kann. Sie haben zahllose Vorbilder. Jeden Tag können sie erfahren, was zählt, wenn die Zahlen an Geburtstagen schmerzhaft vorrücken, was sie tun müssen, dem Verfall des Weiblichen entgegenzuwirken, auch, was es kostet. Zahlen sind Qualen. Aber dank der Medien können sie sich vergewissern , mit dieser Qual nicht allein zu sein, können gar Hilfe finden, ohne sich Sport und anderen Zumutungen unterwerfen zu müssen. Die Sucht, sich selbst zu vervollkommnen, grassiert. Hatten die Medien schon immer alle Märkte vorangetrieben – für jegliche wahnhafte Begierde – so treibt nun das Internet den Markt vervollkommneter Weiblichkeit vor allen anderen: Direkte Links führen zu Pillen, Kuren, Kliniken. Die Schönheitschirurgen, die ihnen zu Dumpingpreisen nacheifernden Quacksalber modellieren fremde, vergolden sich die eigenen Nasen.

Silvia, die rothaarige Leipzigerin Mitte Fünfzig, kinderlos, verwitwet, zweimal geschieden, kann einfach nicht verstehen, wieso angesichts dieser bedrohlichen Tendenz zur Selbstverstümmelung ihre Botschaft von der Schönheit und Perfektion des naturbelassenen weiblichen Genitals im Internet ungehört verhallt, auch beim Fernsehen. Sie hat Zuspruch erfahren von vielen Seiten; eine Nichte breitete auf eigenen Wunsch als photographisches Pendant zu einem schillernden Falter die kleinen Schamlippen wie Schmetterlingsflügel aus. Die Fotos sind allesamt großartig, auch die Texte. Silvia hat fernöstliche Kulturen zu Zeugen berufen, dazu die medizinische Wissenschaft, sie hat fast alles getan, um Aufmerksamkeit zu erregen. Dass selbst Alice Schwarzer nicht ihre Impulse aufnimmt, schreibt sie deren Neid, dem Alleinvertretungsanspruch weiblicher Interessen zu. Einzig ein popliger TV-Produzent aus Sachsen-Anhalt bietet an, ein Video für ihre Homepage zu produzieren und in Stendal eine Podiumsdiskussion zu verfilmen. Dabei ist nicht einmal Geld zu verdienen, sie hat abgelehnt. Eine der großen Anstalten müsste finanziellen Rückhalt bieten, das Marketing muss der „Mission Vulva“ angemessen sein.

Sie wird weiter recherchieren müssen im Internet, in den Communities, sich profilieren bei facebook, MySpace, XING, linkedin, twitter und wie die Plattformen heißen, die Erfolg versprechen bei der Suche nach den erfolgversprechenden Kontakten, sie wird ein Auge haben müssen auf die Konkurrenz, sie ist nicht die Einzige, die ans Potential des Themas glaubt; Schwestern sind unterwegs, finden Beachtung mit Büchern, werden interviewt, tauchen in Talkshows auf. Letztlich hängt alles an persönlichen Beziehungen. So war es immer, so wird es bleiben, niemand weiß das besser als sie.

Gemeinwohl oder Populismus?

 

Pyramid_of_Capitalist_System

Hierarchien funktionieren. Auch noch fürs Gemeinwohl der Zukunft?

Ein florierendes Gemeinwesen – das durfte ich zu meinem Glück nach der Flucht aus dem „real existierenden Sozialismus“ erfahren – offenbart sich nicht in Reden von Politikern, auf Parteitagen oder bei öffentlich zelebrierten Jubelfeiern. Es verhält sich damit vielmehr wie mit der Gesundheit: So lange sie intakt ist, wird sie kaum wahrgenommen. Ihr Wert, ihre Bedeutung offenbart sich erst dann, wenn Bedrohungen, Störungen, Verletzungen nicht mehr zu ignorieren sind. Von einem gewissen Punkt an – da nichts mehr zu beschönigen und zu beschwichtigen ist, Schmerzen das Denken okkupieren, Fieber ausbricht, der attackierte Organismus die Abwehr mobilisiert, alles andere zweitrangig wird, von diesem Moment der Qual an wird Realität anders wahrgenommen. Es ist der Moment der Wahrheit. Die singulär harte und scharfe Kante des Ereignishorizonts bricht jede Lüge. In unserer Zeit wachsender Konflikte heißt das: Ein Gemeinwesen ist in Not, wenn Grundfunktionen gefährdet sind, etwa diese:

  • Menschen dürfen frei und ohne Furcht vor Verfolgung durch den Staat oder andere Korporationen ihre Meinung äußern, sich versammeln, Parteien und Unternehmen gründen, ihren Beruf und ihre Religion ausüben etc., so lange sie sich auf dem Boden einer verfassungsmäßigen Ordnung bewegen, die den Namen verdient. Die „Verfassung der DDR“ (eigentlich waren es drei) verdiente ihn nicht, sie schuf der Willkür der SED-Diktatur freie Bahn. Zum Wesen dieser totalitären Ordnung gehörten auch Medien, die sich weitgehend der Parteilinie anpassten.
  • Eltern erziehen ihre Kinder zu selbständigen, verantwortungsbewussten, hilfsbereiten und rücksichtsvollen Persönlichkeiten, nicht zu „Anspruchsberechtigten“.
  • Im Zusammenleben mit Nachbarn kann sich gegenseitiges Vertrauen entwickeln. Der Haustürschlüssel kann stecken bleiben. Auch wenn alle unterschiedliche Interessen und widerstreitende Meinungen haben: Konflikte lassen sich viel besser von den Beteiligten selbst ohne juristische Mühewaltung lösen. Polizei und Justiz müssen nur ausnahmsweise eingreifen.
  • Jede und jeder kann sich ohne Zwang fürs Gemeinwesen engagieren – sei ’s in einem Verein, in einer Partei oder durch ein Ehrenamt, ohne dass dadurch Privilegien begründet würden. Solidarische Hilfe wird allen Bedürftigen zuteil, auch wenn sie sich selbst nicht engagierten: Vorbilder wirken meist besser als Strafen.
  • Kollektive und Korporationen – egal ob staatlich, religiös, sonstwie ideologisch oder wirtschaftlich ausgerichtet – können elementare Menschenrechte Einzelner nicht aushebeln, davor schützt das Recht.

Wenn demgegenüber der Wunsch nach mehr Staatsgewalt, mehr Regeln und Einschränkung individueller Rechte hochfiebert, ist das nicht die Stunde der „Populisten“, sondern die der Politbürokraten. Ihnen liegt nicht am Gemeinwohl, sie gieren nach Macht, die ihnen der Zugriff auf Positionen im Staat verschafft. Sie versprechen Verunsicherten Sicherheit durch mehr Kontrolle, sie nehmen ihnen die Verantwortung ab – in einem System der organisierten Verantwortungslosigkeit haben sie die Hände an den Hebeln. Und wenn Krisen, Kriege, Katastrophen ein Land, einen Kontinent ruinieren dann werden sie unsichtbar im luxuriösen Exil oder hinter Pappkameraden aus der zweiten Reihe.

Das sagt die historische Erfahrung. Und wer sie ignoriert, ist verurteilt, den nächsten Untergang zu erleben. Er kann dann seine Ignoranz mit Ausreden entschuldigen – wie Uropa seine Stimme für die NSDAP, Opa die für die SED und Papa die für…

Suchen sie sich was Passendes aus. Es passt fast alles auf Politbürokratie.

Demokratie ohne Demokraten – war da was?

Bundesarchiv Bild 102-08215, Berlin, Verfassungsfeier im Stadion

Die Weimarer Republik feiert noch sich selbst – Lechtsrinks schaufelt ihr das Grab

Das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ – schon das Wort ist als bürokratisches Monstrum kenntlich – erweist sich als das, wofür Heiko Maas und die Seinen es erfanden: Als Mittel, die Meinungsfreiheit organisiert und automatisiert abzuschaffen. Der Trick: Staatliche Zensur wird an private Unternehmen von kartellartiger Macht ausgelagert, schönes Beispiel politischer Falschmünzerei.

Anhand der von Facebook und Twitter geübten Praxis zeigt sich schon jetzt: Auf lange Sicht erledigte die Politbürokratie gern jede Opposition – anders kämen solche Gesetze nicht zustande, denn es gab von dort vernehmlichen, anhaltenden Protest. Das Schlimme: Die Wahrnehmung eines großen Teils der Bevölkerung ist dank Quotenmechanik und Umfrageverblödung derart auf konforme Mediokratie konditioniert, dass sich für Krisen immer passende Sündenböcke finden, dass Konflikte als störend, Auseinandersetzungen um Demokratie als Angelegenheit der Parteien betrachtet werden. Nachdem diese und ihre mediale Gefolgschaft die Leute zum Stimmvieh und sich gegenseitig unangreifbar gemacht haben, was ein aberwitziges Wachstum der Bürokratie mit sich brachte, scheinen sie jetzt mit den Mitteln der Digitalisierung den letzten Schritt zur chinesischen Harmonie à la KPCh gehen zu wollen. Sie sperrt alles, was nicht nach ihrem Geschmack ist, und wem solche Harmonie – oder Gleichschaltung – nicht schmeckt, der landet – wie der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo hinter Gittern, bis der Tod Harmonie herstellt, oder wie der Schriftsteller Liao Yiwu im Exil, wenn er Glück hat.

Mit der Gleichschaltung hat Deutschland reichlich Erfahrung. Ich lese gerade Kästners „Notabene 45“ – und möchte über die ewige Wiederholung Desselben schier verzweifeln, denn der DDR-Bürger richtete sich mit der nämlichen Indolenz unter der geistigen Hoheit des Politbüros der SED ein, wie seine Eltern bei den Nazis. Die erkennbar zur Katastrophe führende Realitätsferne herrschender Ideologen hinderte die Eifrigsten in der Masse der Mitläufer nicht, jeden Oppositionellen als Quertreiber, Störenfried, gar Verräter zu denunzieren – bis zum bustäblich allerletzten Moment vor dem Knall. Und danach gab es kaum eine Schamfrist, ehe den Dissidenten wieder leidenschaftlich am Zeug geflickt wurde.

Hier wirkt ein Herdenimpuls, dem mit noch so guten Argumenten und historischer Erfahrung nicht beizukommen ist, es gibt eine speziell deutsche Ausprägung, sie ist literarisch, filmisch in all ihren Scheußlichkeiten dokumentiert, ohne an Wirkung zu verlieren.

Was bleibt? Sich auch künftighin von der Herde fernzuhalten, dem medialen Einverständnis mit Argumenten zu begegnen, Schützengräben zu meiden und der einzig unwiderlegbaren Wahrheit gefasst zu begegnen.

Deuter und Diktatoren

Vierbeiner gut – Zweibeiner schlecht!

Wenn Politiker im Kampf um die Deutungshoheit auf dem Weg zur Macht Herdenimpulse nutzen – tut das die Gegenseite, wird sie gern als „populistisch“ geschmäht – leisten immer noch die Methoden der Schweine in Orwells „Farm der Tiere“ gute Dienste. Allerdings zeigt sich, wie bei Orwell nachzulesen, dass die Realität ziemlich hartnäckig widersteht, wenn Ideologen sie schweinemäßig umzulügen versuchen.
Das Wort „Freunde“ erlebte in der DäDäÄrr auf diese Weise einen Bedeutungswandel. Stalinismusverträglich wurde es von der Politbürokratie auf jeden beliebigen Einwohner der Sowjetunion gemünzt. Es gab eine „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, wer nicht berufliche Nachteile in Kauf nehmen wollte, wurde Zwangsmitglied – „freiwillig gezwungen“ nannte das der Volksmund. Da insbesondere die Chefs der KPdSU wenig freundschaftliche Gefühle weckten, drückte „die Freunde“ umgangssprachlich das Gegenteil aus: Misstrauen, Hohn, Spott.
Die meisten Russen haben nicht verdient, in diesem Sinn als „Freunde“ bezeichnet zu werden. Das legt die Frage nahe, ob es nicht als zu verfolgende „hate speech“ einzuordnen ist, überhaupt irgendeine Menschengruppe so zu bezeichnen.
Oder anders gewendet: Darf jemand wie Heiko Maas es als „hate speech“ einordnen, wenn ich ihn als Freund, als hm, äußerst honorigen Volksvertreter oder leuchtenden Verfechter des Grundgesetztes bezeichne? In Kenntnis meiner Denkweise könnte er sich womöglich beleidigt fühlen. Das Problem hat E.T.A. Hoffmann im „Meister Floh“ schon einmal illustriert: der Geheime Rat Knarrpanti sah sich jederzeit imstande, Personen zu kriminalisieren. Habe man einen Delinquenten erst einmal inhaftiert, meinte er, fände sich schon das passende Delikt, ihn auch gerichtsfest beliebig lange hinter Gitter zu bringen. Die böse Satire Hoffmanns auf den seinerzeitigen Berliner Polizeidirektor fiel folgerichtig unter Zensur, der Autor entging selbst strafrechtlicher Verfolgung nur, weil ihn der Alkoholtod dahinraffte.
Ich überlege, ein „Dschungelbuch der Deutungen“ zu schreiben, das die ganze Komplexität solcher tierisch-menschlichen Phänomene zumindest aufscheinen lässt. Aber womöglich wäre das nur ein ebenso hoffnungsloser Versuch wie die Texte von Peter Panther, Theobald Tiger,… alias Kurt Tucholsky, den Erich Kästner einmal als kleinen dicken Berliner beschrieb, der versucht habe, mit seiner Schreibmaschine eine Katastrophe aufzuhalten. Die Umdeutungen haben wieder Konjunktur in der Politbürokratie und ihrer ideologischen und journalistischen Gefolgschaft.
Die Einwohner der DäDäÄrr durften zwar Tucho lesen, der war ja Antifa, aber nicht Orwell. Manchmal frage ich mich, ob der Applaus für die Weisen von damals nicht den heutigen Herden als Ersatz fürs Nachdenken über die Verhältnisse im eigenen Gatter dient. In der Regel befreit sie von ihrem Schicksal nur der Schlachter oder ein Wirbelsturm. Aber in stürmischen Zeiten der Freiheit sind Herdentiere meist ratlos, sie wecken nostalgische Wünsche nach verlorener Stallwärme. Zu besichtigen etwa bei den ihrer Sowjetunion beraubten Freunden.
Was bleibt? Tiefes Misstrauen gegenüber Deutern. Tieferes Misstrauen gegenüber Deutern von Gut und Böse. Tiefstes Misstrauen gegenüber Deutern, die Herdenimpulse in Dienst nehmen wollen, indem sie Propaganda als Heilsversprechen ausgeben.