Gut geregelt ist halb tot (II)

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Zum grundsätzlichen Problem von Regeln: der Frage, ob sie vernünftig sind. Sie hat offensichtlich viel mit Informationen zu tun. Hatten oder haben Obrigkeiten, von denen Regeln bestimmt werden, sichere Informationen über die Zukunft? Informationen mit denen sie „den Nutzen der Regierten mehren, Schaden von ihnen wenden […] und gegen jedermann Gerechtigkeit walten lassen“ könnten?

Pyramide der Macht
Die Machtpyramide des Kapitalismus

Haben sie natürlich nicht. Sonst wären sie nämlich Gott. Das konnte Priestern und Majestäten die’s „von Gottes Gnaden“ waren, egal sein. Sie beanspruchten die Deutungshoheit, sie sahen sich im Besitz göttlicher Weis- und Wahrheit. Sie standen auf dem Gipfel der Pyramide nicht nur der materiellen, sondern auch der informellen Macht. Kaum anzugreifen, gar zu erschüttern, bis heute für die allermeisten „Führungskräfte“ das Ziel, aufs Innigste zu wünschen. Aber der Teufel steckte seit je im Detail. Es gibt einfach keine sichere Information über die Zukunft. Wenn ein Irrtum, um des Machterhalts willen nie eingestanden, offensichtlich wird, womöglich verbunden mit katastrophalem Schaden, kann das Herrscher stürzen. (Barbara Tuchmann „Die Torheit der Regierenden“)

Des Teufels Handlanger waren vor allem informelle Gegenspieler der Majestäten: Das konnten einfach – wie zuzeiten von Marie Antoinette – die Gerüchteküche und im Untergrund schwärende rebellische Umtriebe sein oder hundert Jahre später ein heller Kopf wie Frank Wedekind. Er wurde, durch den Tod seines Vaters und eine große Erbschaft unabhängig, ausgerechnet im Dreikaiserjahr 1888 (Wilhelm I. „greiser Kaiser“, Friedrich III. „weiser Kaiser“, Wilhelm II. „Reisekaiser“). Seine Dramen „Frühlings erwachen“, und „Der Erdgeist“ waren Theaterskandale in den 90ern. Unterm Pseudonym Hieronymos schrieb Wedkind für den „Simplicissimus“. Ein stark gefragtes Blatt mit Karikaturen, in dem untergründige Kritik und Witze an die literarische Oberfläche sprudelten.

Es war die Boomzeit des Deutschen Kaiserreiches, als Elektro- und Chemieindustrie aufkamen – BASF und Siemens erste Niederlassungen in China gründeten – das Bahnnetz in Deutschland Rekordausmaße annahm, die ersten Autos und Telefonanlagen gebaut wurden und – obwohl die Verhältnisse relativ liberal waren, als die Sozialistengesetze 1890 aufgehoben wurden – soziale und politische Spannungen wuchsen. Die Polizisten mit preußischer Pickelhaube – zum großen Teil ehemalige Unteroffiziere – waren weniger gut geschützt als heutige, teilten aber kräftig aus. Volkswitz und Gassenhauer halten die Erinnerung frisch.

Wilhelm II in Paradeuniform

Wilhelm II., der Reisekaiser, war auf Städtereisen, noch lieber zur See unterwegs – bis zu 200 Tage im Jahr. Vier Jahre seines Lebens soll er auf seiner Dampfjacht „Hohenzollern“ verbracht haben. Kreuzfahrten durch das Mittelmeer, Korfu, Italien, Türkei, Kanaan, jedes Jahr für mehrere Wochen auf „Nordlandreise“ in die norwegischen Fjorde – und immer unternimmt der erlauchte Seefahrer ausgiebige Landausflüge.

Der „Reisekaiser“ ist auch ein Medienkaiser: In der Glanzzeit Illustrierter Zeitschriften und der ersten Bewegtbilder kostümiert er sich prächtig und liebt es, photographiert zu werden. Und er hat imperiale Pläne: Mit Sultan Abdulhamid II. will er den Bau einer Bahnlinie von Konstantinopel bis Bagdad und an den Persischen Golf realisieren. Ein Wirtschaftskorridor von beiderseits 20 Kilometern soll deutschen Unternehmen zugute kommen. Es ist ein Projekt von vergleichbarem Ehrgeiz wie heute Xi Jinpings neue Seidenstraße; immerhin ist Deutschland die drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt.

Pomp und Eitelkeit des kaiserlichen Auftritts in Palästina reizten Frank Wedekind zu einer Spottrede anlässlich dieses Staatsbesuchs. Ebenso wie die Karikatur von Thomas Theodor Heine auf dem Titelblatt des „Simplicissimus“ wurde sie als Majestätsbeleidigung bestraft, die Ausgabe mit der Schmähung beschlagnahmt. Wedekind und Heine mussten in monatelange Haft auf der Festung Königstein. Man fragt sich unwillkürlich, mit welchen Strafen heute ein Kritiker der „Neuen Seidenstraße“ unter Xi Jinping zu rechnen hat.

Für den „Simplicissimus“ war es die beste Werbung, er erlangte in der insgesamt ziemlich vielschichtigen und politisch liberalen Presselandschaft des Kaiserreichs höchste Bekanntheit. So findet der Teufel bis heute immer neue Verbündete: Mit jeder Regel, jedem Gesetz kommt zugleich die Energie in die Welt, sie zu ignorieren, zu umgehen oder außer Kraft zu setzen. Sie lässt sich durch Kontrolle, Zensur, Moralnormen nicht schwächen noch gar ausrotten. Frank Wedekind in seinem Gedicht „Erdgeist“:

Werbeplakat des "Simplicissimus" von Thomas Theodor Heine 1896

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2 Kommentare zu “Gut geregelt ist halb tot (II)

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