Gut geregelt ist halb tot (III)

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Kurt Tucholsky in Paris 1928. Er blieb dem Deutschland der Extreme bis zum Tode fern

Die Kaiserreiche in Österreich, Deutschland, Russland und China gingen fast zur gleichen Zeit unter, als Telefone, Kinematographen, Autos, Flugzeuge, Rundfunk die Industrienationen durchdrangen. „Es ist alles schlechter geworden“, seufzten die Alten. „Aber mindestens eines ist besser geworden: die Moral ist schlechter geworden“, antwortete die Jugend und amüsierte sich in den Goldenen Zwanziger Jahren. Moral und Sexualmoral in der Weimarer Republik waren locker, Cabaret und Shows, Boulevard und Asphaltliteratur – Kurt Tucholsky, selbst ein Schwerenöter, kommentierte bissig seine Zeitgenossen, indem er 1931 die Persiflage einer Schulstunde zum Thema „Der Mensch“ veröffentlichte:

[…] Der Mensch gönnt seiner Gattung nichts, daher hat er die Gesetze erfunden. Er darf nicht, also sollen die anderen auch nicht.

Der Mensch zerfällt in zwei Teile: In einen männlichen, der nicht denken will, und in einen weiblichen, der nicht denken kann. Beide haben sogenannte Gefühle: man ruft diese am sichersten dadurch hervor, daß man gewisse Nervenpunkte des Organismus in Funktion setzt. In diesen Fällen sondern manche Menschen Lyrik ab. […]

Menschen miteinander gibt es nicht. Es gibt nur Menschen, die herrschen, und solche, die beherrscht werden. Doch hat noch niemand sich selber beherrscht; weil der opponierende Sklave immer mächtiger ist als der regierungssüchtige Herr. Jeder Mensch ist sich selber unterlegen.

Wenn der Mensch fühlt, daß er nicht mehr hinten hoch kann, wird er fromm und weise; er verzichtet dann auf die sauren Trauben der Welt. Dieses nennt man innere Einkehr.

Die verschiedenen Altersstufen des Menschen halten einander für verschiedene Rassen: Alte haben gewöhnlich vergessen, daß sie jung gewesen sind, oder sie vergessen, daß sie alt sind, und Junge begreifen nie, daß sie alt werden können.

1931 war „Der kleine dicke Berliner, der mit seiner Schreibmaschine die Welt vor der Katastrophe retten wollte“ (so nannte ihn Erich Kästner) schon im schwedischen Exil. Die 14jährige Weimarer Episode war „eine Demokratie ohne Demokraten“, die politischen Sitten wurden immer rauer. Aufschwung und Krisen folgten wie im Wechselfieber aufeinander, Arm und Reich standen in krassem Gegensatz, Kommunisten und Nazis eroberten die Straßen, die Parlamente, Zeitungen. Mit dem Fortschritt von Film und Rundfunk erreichte der Kampf um die informelle Macht, um die Deutungshoheit, eine neue Dimension. Desillusioniert, fast schon resigniert wandte sich Tucholsky noch einmal

An das Publikum

Oh hochverehrtes Publikum
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: „Das Publikum will es so!“
Jeder Filmfritze sagt: „Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!“
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
„Gute Bücher gehn eben nicht!“
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

So dumm, daß in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käm am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte…
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

Ja, dann…
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser -?
Ja, dann…
Ja, dann verdienst dus nicht besser.

Ohsers Vater-Sohn-Geschichten waren berühmt

Und dann wurde auf einmal alles ganz einfach mit den Regeln. „Führer befiehl – wir folgen“. Das gefiel… den meisten. „Da weiß man doch, wo’s langgeht!“

Die Teufelchen verschwanden im Exil, im Knast, im KZ. Oder im Untergrund. Obwohl es lebensgefährlich war, fanden subversive Informationen Schleichwege, blühte der politische Witz. Erich Ohser, Karikaturist und Illustrator von Büchern Erich Kästners wurde deshalb 1944 von einem gesetzestreuen Ehepaar namens Schultz angezeigt. Noch in der Haftanstalt Moabit verweigerte der Feind von Staat und Volksgemeinschaft uneinsichtig dem Freislerschen Volksgerichtshof das Geständnis und die Reue. Er nahm sich einfach das Leben.

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