Liz Taylor an der Köttelbecke

Sie wissen nicht, was eine Köttelbecke ist? Dann wissen Sie wenig über das Ruhrgebiet und seinen besonderen Charme. Keine Ahnung, ob Reste davon die nächsten Jahre, geschweige Jahrzehnte überleben werden. Sein Gesicht wird von Migrationsprozessen verändert wie nie zuvor – charmanter wird es kaum werden. Dabei waren die ineinander verklumpten Städte zwischen Dortmund und Duisburg schon im 19. Jahrhundert Schmelztiegel der Zuwanderung: Aus allen deutschen Kleinstaaten und Osteuropa, vor allem Polen strömten Arbeiter herbei. Im Kaiserreich wurde “der Pott” Schwungrad der wirtschaftlichen Prosperität, nach dem II. Weltkrieg Kernreaktor des Wirtschaftswunders. Die Schlote rauchten, Abraumhalden und Müllkippen wuchsen, Bäche und Flüsse erstickten am Unrat aus Siedlungen und Fabriken. Wegen der vom Bergbau verursachten Erdbewegungen konnten Abwässer nicht unterirdisch abgeführt werden, so transportierten zahllose offene Kanäle des “Emschersystems” – die sogenannten Köttelbecken – stinkende Fracht zum gleichnamigen Fluss, er wurde zum schmutzigsten Europas.

Boye Direkteinleitung von verschmutztem Wasser
Einleitung von Schmutzwasser in die Boye 2005 (Foto: Diplo in der Wikimedia CC 3.0)

Seit der Wert von Kohle und Stahl dahinschwand, kämpfte die inhomogene, raue, zähe, zunehmend multiethnische Bevölkerung des eigenartigen Konglomerats zwischen Rheinland und Westfalen erbittert darum, sich vom Sanierungsfall der Bonner Republik in eine Zukunftsregion zu wandeln. Schon Ende der achtziger Jahre konnte einer dort unter blauem Himmel zwischen ergrünenden Industriebrachen, renaturierten Gewässern, Denkmälern der Gründerzeit auf stillgelegten Bahnlinien radeln und daneben Beweise erfolgreicher Startups finden – ein Computerspiel aus Wattenscheid wurde in den 1999 epidemisch: die Jagd auf Moorhühner.

Damals begann auch das große Vorhaben der “Emschergenossenschaft”, aus Köttelbecken wieder muntere, lebendige Bäche zu machen. Unser Garten grenzte an einen der offenen Abwasserkanäle, ein Stacheldrahtzaun trennte das Grün von der Betonrinne. Wir pflanzten Knöterich, er überwucherte rasch das hässliche Markenzeichen des Ostberliner Sozialismus, ließ allerdings im Sommer, wenn wenig Wasser floss, manch übelriechenden Schwaden durch. An diesem Ort entstand das erste Kapitel von „Der menschliche Kosmos“, zehn Jahre nach dem Ende der DDR und mit etlichen Jahren Erfahrung als freier Produzent von Fernsehfeatures für die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (ÖRR). Es hat die Überschrift

Die Lust am Quälen und die Widerstandskraft der Banane gegen die Frage „Warum“

Emscher in Recklinghausen
Die Emscher bei Recklinghausen im Januar 2005 (Foto: Stahlkocher in der Wikimedia CC 3.0)

…Unsere Nachbarn am anderen Ufer, ein Ehepaar von etwa sechzig Jahren, waren fast immer in ihrem Gärtchen. Sie hatten sich sogar einen kleinen runden Pavillon mit grünen Fensterscheiben gebaut, obwohl es vom Liegestuhl nur ein paar Schritte ins Haus waren. Wir wunderten uns anfangs, wieso jemand sich in einem Gartenhaus grüne Gardinen vor die Fenster hängte, bis wir bemerkten, dass es weiße Stores hinter grünen Scheiben waren, die uns befremdeten, vermutlich ein Sonderangebot. Ebenso befremdlich erschien uns, dass im Pavillon, den aufzubauen einiges Geld und gute zwei Wochenenden handwerklicher Arbeit gekostet hatte, offensichtlich nur Gartenmöbel untergestellt wurden. Auch dieses Rätsel löste sich: der Pavillon beherbergte etwas viel Kostbareres. Dort stand – in Reichweite, nicht etwa in der eine Gehminute entfernten Küche – der Kühlschrank, und im Kühlschrank war das Bier.

Für unsere Nachbarn war wichtig, das Bier in der Nähe zu haben, weil sie sich fast immer stritten. Sie redeten ausdauernd aufeinander ein, und die wellenförmig aufbrandenden Gespräche gipfelten in Beleidigungen. Ein solcher Zyklus der Aufregung lief aber nicht synchron mit dem Leeren einer Bierflasche ab. Wir konnten zunächst nicht herausfinden, wer von beiden mehr und schneller trank, aber einerlei: es wäre anscheinend einem Koitus Interruptus gleichgekommen, hätten sie eine besonders heftige Attacke wegen einer leeren Flasche, also eines Ganges in die Küche, unterbrechen müssen. Tatsächlich war der Kühlschrank im Pavillon mit den grünen Fensterscheiben Teil eines ebenso detailliert wie unbewusst inszenierten und mit nicht nachlassender Energie aufgeführten Dramas.

Die beiden quälten einander mit Hingabe, sie genossen im Gleichmaß Bier und Beschimpfungen (die Texte variierten so wenig wie die Biermarke), sie büßten an Schwung und Emotionalität nie ein. Es wäre sinnlos, Gründe für das Gezänk finden zu wollen, nicht einmal Anlässe ließen sich erkennen – außer dass die Sonne schien und Bier im Kühlschrank war.

Prügel in der Ehe – wie bei Wilhelm Busch – ahndet hierzulande der Gesetzgeber.

Soweit wir den zu uns über den Zaun herüber wehenden Sprachfetzen vertrauen konnten, währte die Beziehung trotz periodischer Konflikte an der Grenze zur Gewalttätigkeit schon 40 Jahre. Wir begannen zu verstehen, dass Mann und Frau nicht um Gründe von Ärgernissen stritten, die auszuräumen waren. Sie stritten schon gar nicht um Veränderungen ihrer Umgangsformen miteinander. Bei all der wiederkehrenden Aufregung, all dem Reden und Gestikulieren, während sie sich gegenseitig aufreizten und ankeiften, ging es im Gegenteil darum, dass sich NICHTS verändern sollte, sondern dass jeder immer wieder aufs Neue seine Rolle, seine Wahrnehmung von sich selbst gegen den anderen verteidigte. Es handelte sich um eine Dynamik, deren Ziel das Gleichgewicht war. Und genau deshalb, um dieser zum Ritual gewordenen Dynamik willen, unterscheiden sich die Konflikte unserer damaligen Nachbarn nicht von den meisten heutigen Konflikten zwischen Parteien, Völkerstämmen, Nationen, religiösen Gemeinschaften. Dort allerdings kann ein Gewaltausbruch Schlimmeres bewirken als ein blaues Auge und ein paar zerschlagene Bierflaschen.

Dieses Buch will sich – wie im Vorwort angekündigt – mit der Dynamik menschlicher Wechselwirkungen befassen und dabei die vertraute Perspektive des Denkens verlassen. Wir sind gewohnt, das Handeln der Menschen auf seine Gründe hin zu untersuchen. Aber diese Suche führt nur zu ebenso begrenzten Einsichten, wie die Vorstellung, dass die Sonne im Osten auf- und im Westen untergeht. Wer nach Gründen fragt, entwirft eindimensionale Modelle von zurückliegenden Ereignissen. Im Falle unseres Ehepaares hieß das etwa, dass die Frau ihren Mann einen Schlappschwanz nannte, weil er seinen ehelichen Aufgaben unzureichend nachgekommen war. Natürlich könnte jeder daraufhin den Mann als den am Konflikt Schuldigen ausmachen. Als unbeteiligter (und von den Streitenden nicht bemerkter) Beobachter könnte er sich mit dieser Einsicht zufrieden geben und sein Urteil über die Verhaltensmuster der nachbarlichen Ehe fällen.

Dadurch wird er mit großer Wahrscheinlichkeit völlig falsch urteilen. Wie falsch, wird ihm spätestens klar, wenn er von dem Ursache-Wirkungs-Schema auf andere eheliche Konflikte schließt, womöglich auf seine eigenen. Er ist nämlich nie „objektiv“ urteilender Beobachter, schon deshalb, weil der Streit im Garten statt in der Wohnung geführt wird und die Nachbarn sehr wohl mit Zuhörern rechnen. Der Beobachter ist als unsichtbarer Richter an den Wechselwirkungen beteiligt, wird von den Streithähnen mit allen möglichen Gefühlen und Trieben bombardiert, als wollte jeder der beiden ihn auf seine Seite ziehen. Der Zuschauer soll nicht ihre Behauptungen prüfen, er soll Partei werden. Der „Schlappschwanz“ hat mit der erotischen Leistungsfähigkeit des Mannes weniger zu tun, als mit der Absicht der Frau, ihn öffentlich zu demütigen. Beobachter sind nicht „unbeteiligt“, sie sind sich des emotionalen Widerhalls der Streitereien kaum bewusst, ebenso wenig, wie sie den dauernden Kraftaufwand kaum bemerken, den unser Körper der Schwerkraft entgegensetzt, damit wir aufrecht gehen können.

Der Streithahn reagierte auf den „Schlappschwanz“ stets mit routinierter Abwehr, und seine Reaktion fiel für die Frau so wenig überraschend aus, wie er selbst von den Demütigungsversuchen überrascht wurde. Das Drama an der Köttelbecke führte nicht zur Auflösung der Ehe, es erhielt sie am Leben.

Edward Albee hat Ähnliches in sein brillantes Theaterstück „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ hineingeschrieben; der Film mit Elizabeth Taylor und Richard Burton wurde vermutlich schon deshalb zum Klassiker, weil die beiden Schauspieler sehr nahe an eigenem Erleben agierten. Dramen wie die von Albee lassen uns beispielhaft nachempfinden, dass Sozialgebilde – nichts anderes ist eine Ehe – den gleichen Strategien folgen, wie andere lebendige Formen: Sie bilden in sich relativ geschlossene, dennoch für den Energie- und Stoffaustausch mit der Umwelt offene, dynamische Systeme mit dem Ziel der Selbsterhaltung und Reproduktion. Nicht nur – aber am einfachsten – durch Ausbrüche von Gewalt und Zerstörung werden wir Mitfühlende von Dramen und absolvieren meist unbemerkt ein „Mitspielen“ unserer eigenen Gefühle und Konfliktstrategien. So verwickeln uns Bühne, Film, manchmal sogar das Fernsehen in die Dynamik von Sozialgebilden, etwa einer Ehe an einer amerikanischen Kleinstadtuniversität oder an einer Köttelbecke in Wattenscheid.

Wollen Sie mehr über „Der menschliche Kosmos“ lesen? Die Urfassung von 2006 ist in Auszügen bei Google books. Das neugefasste Vorwort ist online, ebenso ausgewählte Kapitel, zu denen Sie über das Vorwort gelangen. Wenn Ereignisse in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur es nahelegen, tauchen solche Texte in Kommentaren des Weblogs und „social media“ auf.

Ein Kommentar zu “Liz Taylor an der Köttelbecke

  1. Pingback: Die Lust am Quälen und die Widerstandskraft der Banane gegen die Frage “Warum” | Publizist im Space

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..