Ein Gespräch mit Zukunftsperspektive

Ein nobles Café in Berlin Anfang der 2010er Jahre. Silvia, Künstlerin Anfang 60, trifft sich mit ihrem älteren Halbbruder Hermann. Sie haben sich jahrelang nicht gesehen, er hat ihr gerade geholfen, eine Malware-Attacke mit pornographischen Inhalten auf ihre Website abzuwehren. Von ihrer Mutter vermittelt, verabredet sich Silvia daraufhin mit dem Verwandten, den sie in übler Erinnerung hat. Sie will ihm keinen Dank schuldig bleiben.

Der Schnauzbart irritiert sie, die runde Brille erinnert an historische Vorbilder aus den Jahren der Oktoberrevolution, der Anzug am fülligen, dennoch fest und sportlich trainiert wirkenden Leib stammt von einer Nobelmarke, unterm Doppelkinn ist der Kragen offen, keine Krawatte, ein Dreitagebart, kahle Stellen im grauschwarzen Stoppelhaar: Als sich Hermann Hofrichter zu Silvia an den Tisch setzt, mit „Freundschaft“ grüßt, grinst, wirkt er entspannt und locker. Er muss bald 65 sein.

„Du siehst nicht aus wie ein Rentner“, sagt seine Halbschwester.

„Ich bin bestens in Form, ficke jede Braut dreimal hintereinander, sie muss nur gut genug aussehen, Danke fürs Kompliment. Kann ich was für dich tun?“

„Hast du schon, dafür wollte ich mich bedanken.“ Hermann lacht: „War mir ein Vergnügen. Hätte nie gedacht, dass ich mal ’ne Mösengalerie gegen Kinderficker verteidigen müsste. Gläschen Prosecco?“

Silvia versucht, dagegenzuhalten: „Klar. Du bist potent, ich bin trinkfest.“ Der Bruder steckt das unkommentiert weg, winkt der Bedienung. Das noble Café in Charlottenburg ist leer um diese Tageszeit, sie sind ungestört.

„Einen Prosecco bitte, für mich ein stilles Wasser und einen Pfefferminztee, ich bin Alkoholiker. Hemmungen hattest du nie, Geschmack leider auch nicht. Wovon lebst du eigentlich?“ Die Serviererin verzieht keine Miene, stöckelt davon.

„Keine Ahnung. Irgendwie geht ’s.“

Gegenwart und Zukunft entspringen den Plänen, Verstrickungen, Entscheidungen vieler zurückliegender Jahre. Nichts ist vergangen, nicht einmal die Gedanken.

Hermann nickt versonnen: „Das Tolle an diesem Land: es lässt seine Spinner nicht verhungern. Mal sehen, wie lange ’s noch funktioniert.“ Silvia ahnt, dass jetzt der Katechismus folgt. Hermann fasst nach einer schmalen Mappe, holt ein Notepad heraus, macht ein paar Fingergesten. „Die Spinner haben sogar genug Geld, es in die Revolution zu investieren. Schau mal: das ist in den letzten drei Tagen hereingekommen.“ Er hält ihr den glänzenden Bildschirm hin. Sie überfliegt Tabellen, eine Grafik. „Möchtest du nicht auch spenden? ,Heal the World, Make It A Better Place … For You and For Me … And the Entire Human Race’ …“, summt er.

„Wusste nicht, dass du singen kannst. Was macht ihr mit diesem riesigen Haufen Geld? Möchtest du nicht etwas davon in eine Kulturstiftung für – sagen wir: meine Mösengalerie – stecken?“

„Prosecco, Pfefferminztee, Wasser – korrekt?“ Die Serviererin lächelt den Graubart mit der Revoluzzerbrille an, als sei er Steve Jobs.

„Klar.“ Hermann beobachtet Silvias Reaktion. „Nur nicht sofort. Schau – es ist so: Wir haben dir geholfen, jetzt könntest du für uns etwas tun. Dein Ziel, den Mädchen und Frauen dieser Welt Beschneidungen, Zwangsehen, Sklavenhandel und so weiter zu ersparen, ist auch eines der Ziele unserer NGO, eines nur, aber die anderen werden dir auch gefallen.“

„Du redest jetzt nicht vom ‚Leninistischen Aufbruch‘?“ Silvia ist platt.

„Ach was. Solche kindischen Etiketten kleben sich nur Schwachköpfe und verkalkte Veteranen des Kalten Krieges an. Im Zeitalter des Internets verlaufen Revolutionen vollkommen anders – oder hast du den ‚Arabischen Frühling‘ verschlafen?“

„Natürlich nicht, und ich bin besonders gespannt darauf, wie er sich auf die Lage der Frauen auswirken wird.“

„Siehst du. Frauensolidarität bleibt wichtig. Wir haben sehr renommierte Aktivistinnen, die einschlägige Foren betreuen, neue Kräfte gewinnen, starke Argumente – vor allem Bilder – beisteuern. Die Welt muss sich ändern, Nachhaltigkeit, Klimawandel, soziale Gerechtigkeit … du weißt schon.“ Hermann nippt an seinem Tee, gießt ein halbes Glas Wasser nach, als handle es sich um das Wodka-Wasser-Ritual. Silvia ist es unheimlich wie je in seiner Gesellschaft. Sie erinnert sich noch, wie er Stalin zitierte, von unversöhnlicher revolutionärer Einstellung sprach.

„Partei und Proletariat sind also passé?“

„Weder Marx noch Lenin konnte wissen, wie der Kapitalismus sich im Detail entwickeln würde, im Großen haben sie mit ihren Lehren Recht behalten. Aber die Globalisierung und die neuen Medien stellen andere Aufgaben. Man kann Ziele heute nicht mit den Mitteln des 19. oder 20. Jahrhunderts erreichen. Die Organisationsformen sind völlig verändert. Ein Konzern, eine Bank – sie mögen global noch so mächtig, noch so gut aufgestellt sein – sind durch entsprechende Informationsströme erschütterbar, genau wie irgendeine Diktatur. Wikileaks hat das bewiesen, Anonymous, … na, du weißt schon. Es muss niemand mehr auf die Straße gehen, sich als fahnenschwenkender Märtyrer niederschießen lassen, wenn er eine Chemiefabrik kaputtmachen, einen Banker zum Kniefall bringen will. Informationen über eine verseuchte Landschaft, einige Dutzend betrogene Anleger reichen: Sie müssen nur groß genug sein für Nachrichten in den Leitmedien, eine große Zahl von Menschen dazu bringen, sich uns anzuschließen: Dominanz in den Medien ist das neue Kapital, und das Internet ist die Methode der Akkumulation. Wir sind die Guten, wer zu uns gehört, gehört an die Macht.“

„Was zu beweisen wäre.“ Silvia lacht. Hermann zuckt die Schultern, trinkt, bestellt neuen Tee, neues Wasser. „Noch einen Prosecco?“

„Klar.“ Sie schüttelt den Kopf. „Du willst also das Proletariat per Internet mobilisieren.“

„Ich will dir helfen, mit deiner Mösengalerie berühmt zu werden und nicht von Almosen zu leben. Kapierst du nicht: Wir schaffen es, dass jeder, der wie du und deine Mutter eine bessere Welt will, sich engagieren kann. Wir bündeln die Energien – und wir haben die Technik dafür.“

„Und wie nennt sich das Ganze? Nicht mehr Kommunistische Partei?“

„Tu nie alle Eier in einen Korb. Auch Utopisten, Grüne, Tierschützer, jede Sorte sozialistischer Bewegungen konkurrieren in dieser Welt. Sogar Religionen.“ Hermann bläst einen verächtlichen Lacher durch die Nase. „Die Kunst besteht darin, ständig neue Netze zu knüpfen, den Leuten die Überzeugung zu vermitteln, dass sie auf der richtigen Seite stehen, zur ‚Heal-the-World‘-Bewegung gehören, die Kunst ist, dabei als Bewegung so groß wie irgend möglich zu werden. Und natürlich das Geld dafür einzusammeln.“

„Bei den Spinnern.“

„Und bei denen mit schlechtem Gewissen, bei denen im Hintergrund, im Dunkeln wenn ’s sein muss …“

„Erpressung.“

„Quatsch. Wiedergutmachung. Wenn du die Moralinsäure weglässt, kriegst du vielleicht endlich eine Mahlzeit hin, die überall auf der Welt gegessen wird. Oder möchtest du auf eine große Kosmetikfirma als Sponsor für deine Muschibildchen verzichten?“

„Der Kommunist rettet die Frauen der Welt mit L’Orèal – oder isses Beiersdorf?“

„Der Kapitalismus hat sich mit dem Kommunismus seinen Totengräber erschaffen. Die Form der Bestattung konnte Marx nicht vorhersehen. Du und Deine Mutter – ihr passt besser an die Spitze als zum Fußvolk. Das wollte ich dir gesagt haben, deshalb habe ich nicht gezögert, für dich etwas digitalen Dreck wegzuputzen. Niemand zwingt dich zu einer Entscheidung. Achte einfach mal im Internet genauer darauf, wohin der Wind weht und in welche Richtung die Massen sich bewegen. Wo vorn ist, sind wir.“

Silvia lacht ein wenig gezwungen: „Sagst du deshalb nicht mehr ‚bljatj‘?“

„Ich trinke auch keinen Wodka mehr.“

„Aber wenn du mich und Meinesgleichen einlädst – womöglich schubsen wir Frauen dich weg von der Spitze.“

„Nur zu. Ich konnte schon früher – anders als du und dein schneidiger Genosse Leutnant Lampert – mein Ego zügeln, habe gelernt, in den hinteren Reihen treu zu dienen. Zahlen!“ Hermann legt einen großen Schein auf den Tisch und wendet sich zum Gehen, ohne auf Wechselgeld zu warten.

Auszug aus dem Roman „Raketenschirm“, erschienen 2013 im Salier Verlag

Jenseits-Kollektive

revolution_noir.jpg“Revolution Noir” ist der Titel einer Anthologie mit Texten von 16 russischen Autorinnen und Autoren, darunter Julia Kissina, die das Buch beim Suhrkamp-Verlag herausgegeben hat. Sie hat jeden Beitragenden – außer sich selbst – mit einer skurrilen Zeichnung porträtiert, im Anhang finden sich Kurzbiographien. Alle Porträtierten erscheinen als weltläufige, mit Preisen und internationaler Beachtung ausgezeichnete Schriftsteller, einige mit Doppelbegabung als Maler wie Kissina, als Filmemacher oder Musiker.

Alexander Pjatigorski (1929 – 2009) Philosoph, Orientalist, emigrierte 1974 nach London, im selben Jahr wie Juri Mamlejew, (1931 – 2015), der in die USA ging, an der Cornell-Univerität unterrichtete, in den 90er Jahren nach Russland zurückkehrte, dort die literarische Bewegung des metaphysischen Realismus begründete. „Sprung in den Sarg“ heißt seine groteske Parabel auf die Rituale der Stalinistischen Schauprozesse. Sie zeigt, wie sich eine so unheilbar wie unspezifisch kranke Tante dem (Familien-)Kollektiv eines russischen Dorfes bis zur Selbstaufgabe unterwirft. Die Angehörigen wollen sie nicht mehr durchfüttern, also wird sie zu einem inszenierten Tod gedrängt. Figuren und absurde Dialoge erinnerten mich sogleich an Bulgakow, aber solche Assoziationen nehmen dieser wie  anderen Geschichten nichts von ihrer Originalität.

Pjatigorskis Spiel mit der unzuverlässigen Wahrnehmung und der noch unzuverlässigeren Erinnerung an einen Mord dagegen findet im globalen Dorf statt; die Kindheit der Handelnden in sowjetischen Zeiten wird austauschbar. Bei den Jüngeren Autoren ist das noch  deutlicher: Die meisten, in den 60er Jahren geboren, wuchsen heran, als der Stalin-Terror vorbei war, die Politbürokratie Breshnews ins Koma fiel und die Perestroika die Verhältnisse aufwirbelte. Allein diese Biographien lassen erwarten, dass ihr Blick auf Geschichte und Realität des eigenen Landes wie auf die Welt ein  besonderer ist.

Julia Kissina erläutert selbst in dem kurzen Essay „Abschied von Dostojewski“, was die „Russische Neue Welle“ oder „Dritte Avantgarde“ ausmacht. Sie entstand zu Beginn der achtziger Jahre, vom „Samisdat“ beflügelt, eine ihrer Hauptrichtungen nannte sich „Noir“. Natürlich fiel mir die zur selben Zeit florierende „Bohème des Ostens“ am Prenzlauer Berg ein. Literarische Unterströmungen finden sich überall in Diktaturen, längst formen sie eine eigene Tradition jenseits der offiziellen Kultur, und in diesem Jenseits finden sich länderübergreifend kollektive Geisteshaltungen der Subversion. Die von Kissina ausgewählten Texte offenbaren eine Fülle an einschlägigen Begabungen, einige gefielen mir besonders:

Polina Barskowa nähert sich in „Laubriss“ wunderbar poetisch Jewgeni Schwarz und Witali Bianki an, indem sie ihnen im apokalyptischen Leningrader Blockadegeschehen fiktiv begegnet. Mich hat gefesselt, wie sie sich dabei Literatur und Geschichte einverleibt. Andrej Monastyrski entführt als Ich-Erzähler, als “Der atheistische Spion” den Leser in einen von religiösen Wahnvorstellungen getränkten Alltag, auf eine philosophisch-literarische Gespensterbahn mit witzigen blasphemischen Wendungen. Waleri Nugatow zeigt Franz Kafka beim Abstieg ins literarische Establishment von Prag 1938. Der Außenseiter als Bestsellerautor und Familienvater – die schräge Idee leuchtet zumindest insofern ein, als jede Gesellschaft von ihren Außenseitern lebt – sie verdaut sie nur auf unterschiedliche Art.  Alexej Parschtschikow überrascht mit Beobachtungen eines Studenten der Veterinärmedizin, die ebenso scharf wie humorvoll und poetisch sind, und Pavel Pepperstein fliegt mit seinem „Menschenfresser-Flugzeug“ quer durchs Genre moderner Schauergeschichten. Die spröden Liebesgeschichten von Julia Belomlinskaja führten mich wieder zurück in die 80er Jahre und mein eigenes Erleben: Wer damals wirklich befreit schreiben wollte, durfte nach einer Öffentlichkeit nicht fragen, er oder sie tauchte bestenfalls in eines der jenseitigen Kollektive ein, wo man meist befristet liebte und überlebte. Der von mir hochgeschätzte Vladimir Sorokin schließlich ist mit einem wunderbar durchgeknallten, rabenschwarzen Capriccio zum Thema Globalisierung vertreten.

Natürlich gefällt so etwas – wie das ganze Buch – Leuten mit einem Nagel im Kopf, die schreiben um zu überleben. Gleichwohl wird seine Qualität auch diejenigen überzeugen, die noch nicht ganz vom wohlgefälligen Geräusch der Quotenmaschinen betäubt sind. Das ist nicht zuletzt den Übersetzern zu danken. Ohne mir ein fachlich begründetes Urteil anzumaßen: Olga Kouvchinnikova, Ingolf Hoppmann, Annelore Nitschke und Olga Radetzkaja finden einen jeweils besonderen Ton für ihre Autoren. Derlei läse ich gern öfter, auch wenn sich mir nicht alle Texte erschließen wollten. Die Übersetzer sollen gelobt sein, vor allem die mit engen Kontakten ins Jenseits.

 

 

Vom Glück, einen Nagel im Kopf zu haben

sorokin_telluriaUnter Theaterleuten in Ostberlin war in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine geläufige Redensart, Einer oder Eine habe “einen Nagel im Kopf”. Solche Figuren fielen dadurch auf, dass sie sich abweichend von der Normalität verhielten. Die Normen setzte eine totalitäre Gesellschaft –  also changierte die Bedeutung der Redensart: Wer einen Nagel im Kopf hatte, konnte ein Psychopath sein, ein Idiot oder jemand, der sich auf irgend mögliche Art und Weise den Regeln, Bedrohungen und Verführungen vermeintlicher Normalität durch skurriles, paradoxes oder sonstwie dekonstruktives Verhalten entzog. Jedenfalls schwang, wenn das Prädikat vom Nagel im Kopf, einem langen gar, oder – Superlativ – einem rostigen, vergeben wurde, weniger Häme als eine gewisse Achtung mit. Der Nagel im Kopf war eine mit kollektiver Erwartung unvereinbare Lebensform.

Vielleicht ist das Sorokins genialer Kunstgriff: Dass in einer zukünftigen Gesellschaft der Nagel im Kopf zur kollektiven Wunschvorstellung werden könnte. Dass in nicht allzu fernen Tagen nach allerlei Kriegen der Eurasier gegen Wahabiten und Salafisten, nach zwiespältigen Bündnissen mit Chinesen sich – in Russland zumal – seltsame neue Kleinstaaten bilden könnten, deren einer im fast unwegsamen Altaigebirge zur neuen Schweiz aufstiege, nicht als Hort des Geldes, sondern als Hort des Tellurs, Rohstoff für einzigartige Nägel. Ein Keil aus dem seltenen Element, kunstvoll eingeschlagen möglichst von Fachleuten, verschafft dem Kopfinhaber das wahre Glück auf Erden. Das Tellur korrodiert, der Nagel “rostet” und entfaltet eine enorm vitalisierende Kraft, leider macht das süchtig. Deshalb mangelt es nicht an Schwarzhändlern, Fälschern und scheiternden Selbstversuchen.

In dieser schrägen Welt, bevölkert von allerlei Chimären, Zwergen, Riesen, Abenteurern, tun die Menschen, was sie schon immer taten, tun und zweifellos auch in hundert Jahren noch tun werden. Sie tun es mit phantastischen Gadgets, einer Art Zauberschwämmen etwa, die “Grips” heißen und das Smartphone in holographische Dimensionen erweitern, sie tun es in verwahrlosten Vierteln oder einsam im Wald. Sorokin erzählt das in mannigfachen Stilformen und Redeweisen,  etwa der eines Kentauren, und ich gestehe, selten in meinem Leben bei einer Lektüre mehr gelacht, den Schmerz hinterm Sarkasmus intensiver gespürt und mich einem eigentlich Fremden näher gefühlt zu haben. Den Reichtum an Einfällen aus dem Russischen ins Deutsche zu retten, bedurfte es eines Übersetzer-Teams. Ich muss nicht alle Namen nennen – sie haben es toll gemacht.

Gern nähme ich diesen Autor unter meine ganz persönlichen Serapionsbrüder auf. Es ist eine Runde, in der E.T.A. Hoffmann gespenstert, Edgar Allan Poe, Franz Kafka und Michail Bulgakow mit Entsetzen Scherz treiben. Noch im erbarmungslosen Buchmarkt überleben sie dank unübertrefflicher Appelle an die Angstlust der Leser, egal ob subtil oder wie  beim Kasperltheater. Natürlich ist “Tellluria” auch voll bitterer Satire. Es schürt die Sucht nach intellektuellen Wechselbädern: Lässt sich der irrationale Mensch am Ende dank einer Heilsgeschichte doch mit der Realität versöhnen?

Erwartet wer eine Antwort? Ein “Utopia” in “Telluria”?  Für den ist, glaube ich, dieses Buch nicht geschrieben. Eher für Romantiker mit einem sehr langen, rostigen Nagel im Kopf.

Vladimir Sorokin „Telluria“ bei Kiepenheuer und Witsch
Aus dem Russischen vom Kollektiv Hammer und Nagel
ISBN: 978-3-462-04811-7
Erschienen am: 01.08.2015
416 Seiten, gebunden, 22,99 €

Größen und Werte

Frühling in Baden-BadenHätte ich mir träumen lassen, was für aberwitzige Zeitsprünge ich in diesen Tagen erlebe? Da schiebt sich aus der Vierteljahrhundert-Perspektive zusammen, was zusammengehört: Ich werde aus der DäDäÄrr freigelassen, fliege und tanze durch einen März 1989, der genauso sonnig, trocken und blütengesäumt ist wie der in diesem Jahr. Ich bin im Glück, und auf dem Tian’anmen-Platz stehen hoffnungsvolle Menschen gegen die KPCh-Diktatur auf wie heuer auf dem Majdan gegen die Macht von Oligarchen und ihren Marionetten. Die Propaganda der letzten größten Führer aller Zeiten macht aus Demonstranten Staatsfeinde, Nazis, Terroristen, kriminelle Gewalttäter, Anarchisten, auf dass sie zusammengeschossen, verstümmelt, in Gefängnisse, Lager, Folterkeller verschleppt, ihre Familien bedroht und erpresst werden können. Bestenfalls entkommen die Gedemütigten in den Westen – wie ich vor 25 Jahren. Dort kreischen oder gackern – je nach Zielpublikum, jedenfalls fern der Gefahr – Massenmedien; sie haben die Führer so fest im Blick wie die Bilanzen: in tyrranos! Und jede Menge Mitleid für die Opfer, möglichst unverbindlich.

Ja, es bekommt den Massen gut, ein wenig Mitleid zeigen und die eigene Führung als kleineres Übel erleben zu dürfen. Das fällt um so leichter, als eben jene Medien ihre Politiker gewohnheitsmäßig zu Pappkameraden stilisieren: Knallchargen für die TV-Unterhaltung. Nichts lässt die Kassen besser klingeln, als wenn ihr Aufstieg und Fall in raschem Wechsel zu begackern ist: Zwergenwerfen als Volkssport. Das freilich gefällt auch den größten Führern aller Zeiten. Sie nehmen die freien Medien der Freien Welt entsprechend ernst.

Die Entkommenen reiben sich die Augen: Je kraftvoller die Beschimpfungen aus den Redaktionsstuben erschallen, umso schneller verrauschen sie in der nächsten aufbrandenden Welle: einem Olympiakandidaten ist ein Unfall widerfahren, knapp vor den Spielen im Lande eines der größten Führer! Das Volk der Nationaltrainer zittert. Ein Volksheld hat Steuern hinterzogen, eine Diva war untreu, wird plötzlich furchtbar fett oder furchtbar mager, oder entdeckt ihr tiefes Verständnis für kraftvolle Männer an der Spitze der Politik: In Diktaturen wird schneller entschieden, gehandelt, gesiegt. Wer braucht Verlierer?

Keiner. In dieser Welt ist jeder zum Erfolg verurteilt, und dieser Erfolg muss messbar sein. In Zahlen, Quoten, Bilanzen. Hier nun beginnen die wirklich ernsten Zweifel: Mit welchem Maß messen jene, die möglichst große Mehrheiten als Erfolg bejubeln, die andererseits breite Spektren von Meinungen und politischen Formen, also mühsame Dispute als lästigen Auswuchs der Demokratie ansehen? Die dem Mainstream huldigen und eigentlich ganz froh sind, in den Ländern mit größten Führern aller Zeiten Geschäfte machen zu können, weil dort schnell entschieden, gehandelt, verwertet wird?

Größe imponiert. Und in den Weltreichen des vollkommenen Quantifizierens und Verwertens von allem und jedem in Geldform, wo die Masse ihre Bedürfnisse und Wünsche am Geld ausrichtet, wo über Armut und Reichtum amtliche Zahlen und Statistiken entscheiden, wird niemand mehr seine Rechnungen ohne die Gröfaz-Wirtschaften machen wollen. Das ist gut, weil erfahrungsgemäß eine florierende Wirtschaft auch Diktaturen ein Minimum an Liberalität und rechtlichen Regeln abverlangt, sogar Formen der Demokratie. Der Wohlstand in China hat ein Vierteljahrhundert nach dem Massaker vom Tian An Men Sprünge gemacht, es gibt eine zufriedene Mittelschicht. Träumt noch jemand, was die Demonstranten träumten? Wovon träumen jene, die heute den Ruf Russlands, die Unabhängigkeit und Kultur ihrer Heimat zwischen Kamtschatka und der Krim gegen Oligarchen und Putinismus verteidigen? Ihre Träume sind zu groß. Wenn sie in den Westen entkommen, versteht sie fast niemand.

Es ist in den Weltgegenden des quantifizierten Wohlstandes wenig Platz für alles, was sich nicht in konvertibler Währung, nicht als Marktwert beziffern lässt. Menschliche Größe dürfen Verlierer zeigen. Wir klopfen ihnen medial auf die Schultern und haben Mitleid – Sprüche und Spenden. So hält man sie sich vom Hals.

Aufs Siegen fixiert: Massenwahn und Kriegsgefahr

Reichstag_Giebel2„Du musst steigen oder sinken,
Du musst herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboss oder Hammer sein.”
 


Soweit Goethe. Im  6. Kapitel von “Der menschliche Kosmos” geht es um Dominanz, zugehörige Rituale und Rollenspiele und wie Medien die Massen darauf konditionieren, gebannt auf die Spielchen der Mächtigen zu starren – ohnmächtig.

 


Es ist die klassische Entscheidung. Immer wieder einmal verkürzt sie sich auf die platte, mechanische Frage nach der Macht, die Frage „Wer – wen“ . Damit wird der systematische Fehler unserer Wahrnehmung, die Reduktion komplexer Prozesse auf simple Kausalitäten, total und brutal zum politischen Prinzip erhoben. Leider haben die katastrophalen Folgen solcher Machtpolitik wenig Einsicht bewirkt. Dem systematischen Fehler folgt der Auswertungsfehler. Aber es ist mit dem engen Blick auf ewige Abfolgen von Ursache und Wirkung, Täter oder Opfer sein, Gewinner oder Verlierer, eben noch viel schwieriger als mit dem Sonnenauf- und untergang, der die Kopernikanische Wende um Jahrhunderte überdauert hat: Wir sehen die Erddrehung so wenig wie die Wechselwirkungen von Umgebung, Auge und Gehirn, wir sehen, was uns unser Gehirn sehen lässt. Und an unserem Verhalten erscheint uns nichts so selbstverständlich wie Dominanz.
Vor jedem Handeln liegt eine Entscheidung. In den allermeisten Fällen sind wir uns dieser Entscheidungen nicht bewusst. Wenn wir zurückschauen, ergibt sich fast ausnahmslos, dass einer der Handelnden die Tendenz hatte zu dominieren. Es gab immer einen Sieger, einen „Hammer“ und einen „Amboss“. Unsere Geschichtsschreibung und insbesondere die Massenkultur suggerieren, dass ein Sieg, dass das Beherrschen des Gegners wünschenswert ist: „The Winner Takes it All“. Egal was die Siege kosten – sie sind zunächst und vor allem Siege. Das macht Despoten so gefährlich, denn ihre Legitimität bedarf heute mehr denn je rechtfertigender Feindbilder und bejubelter Siege. Gefolgschaft lässt sich nur mit beidem rekrutieren, mit dem zwei-Komponenten-Kleber des “Wir sind mehr” und “Die anderen sind minder”.

In den Kommentarsträngen des social web tobt sich das mit Bezug zu jeglichem politischen Konflikt unvermeidlich aus. Bliebe es nur dabei, sollte’s mir recht sein. Die Vorstellung, dass sich ideologisch gebenedeite Masse, dass ihr Anführer sich von der Woge massenhafter Zustimmung emportragen lässt, der Welt den Sieger zu zeigen, diese Vorstellung ist mir zu gut vertraut, als dass ich gelassen dem anschwellenden Geschrei lauschen könnte. Noch’n bisschen Goethe gefällig?

„Diesem Amboss vergleich‘ ich das Land, den Hammer dem Herrscher

Und dem Volke das Blech, das in der Mitte sich krümmt.“

Leseempfehlung: Peter H. Wilson „Der 30jährige Krieg“