Gut geregelt ist halb tot (I)

Das Zeitalter der Mobilität hat uns vom Laufen zum Fahren, zum Rasen, gar zum Fliegen gebracht. Damit diese Fortbewegung von inzwischen Milliarden Menschen nicht fortwährend mit Unglück, Stau, gar Kollaps, Tod und Chaos einhergeht, braucht es Regeln. Es gibt sie, sie wurden und werden fortwährend geändert, angepasst, umgangen und gebrochen.

Verkehrszeichen für Kreisverkehr in Deutschland
Im Kreise geht die Reise…

Dabei gab es ein Wechselspiel: Der Mensch passte die Technik seinen Bedürfnissen an – schneller, höher, weiter, sicherer, komfortabler – neue Regeln mussten her: Gurtpflicht, Tempolimits, Überholverbote, Rettungsgassen. Das Verhalten der sich fortbewegenden Menschen änderte sich nur insofern, als die Regeln Routinen hervorbrachten – etwa das Anlegen des Gurtes oder routinierte Blicke auf Instrumente, Ampeln, Verkehrszeichen, Kreuzungen (rechts vor links), mögliche Blitzer am Fahrbahnrand.

Die Grundimpulse des Menschen blieben indessen fast unverändert: Erlangen und Vermeiden. Ebenso Gefühle wie Liebe, Hass, Neid, Zuneigung, Angst, Furcht, Bewunderung, Erstaunen, Empörung… Sie alle fahren mit. Und wenn ich vom Verkehr spreche, ist er natürlich nur ein Beispiel dafür, wie Menschen im Alltag miteinander „verkehren“.

In den vergangenen Jahren haben wir einen Wust wechselnder Regeln, sich verändernder Begründungen dafür, eine Flut widersprüchlicher Informationen erlebt wie kaum je zuvor. Woran muss, woran kann ich mich halten? – Welche Information trifft zu? Welche Regel hat Sinn? Welche Maßnahme? Wem kann ich vertrauen und – was ist die Wahrheit?

Damit wäre ich beim lieben Gott und beim Teufel, bei der Bibel und einem Verhalten, das sich schon bei den Kleinsten findet: Die Lust, Regeln zu brechen – oder eigene aufzustellen und durchzusetzen. Adam und Eva machten’s vor: Erbsünde, sie wurden aus dem Garten Eden verbannt.

Klar: Bei Gott im Himmel ist die Allmacht er bestimmt die Regeln. Auf den Einspruch von Atheisten hin gebe ich natürlich zu, dass die Regeln des Universums gelten, aber von da an kämen Sie vielleicht zu einem ausschweifenden Text über Relativitätstheorie und Quantenphysik, aber nicht zu einem unterhaltsamen Atikel. Mit Gott, Satan und Regelbrüchen, auch Sünde genannt geht das. Man versteht trotzdem gut, dass Regelbrüche im Umgang mit Naturgesetzen üble Folgen haben können. Wer versucht, die Physik zu bescheißen, riskiert halt Bruchlandungen und Blackouts.

Zurück ins Paradies – zu Gottes Werk und Teufels Beitrag.

Im Bürgerkrieg verwundet, in Revolutionskämpfen 1914 in Mexiko verschollen: Ambrose Bierce

Ambrose Bierce war ein amerikanischer Autor von Kurzgeschichten, sein Humor war tiefschwarz. Manche hielten ihn für einen Menschenfeind; liest einer seine Texte, begreift er, wie ein lebens- und kriegserfahrener, zutiefst Mitfühlender sich in den Sarkasmus rettet. 1911 verfasste er „The Devils Dictionary“. Unterm Stichwort „Satan“ ist zu lesen, dass dieser

„Einer der beklagenswerten Irrtümer des Schöpfers“ gewesen sei, „von diesem in Sack und Asche bereut. Als Erzengel eingesetzt, machte Satan sich vielfältig unbeliebt und wurde schließlich des Himmels verwiesen. Bei seinem Abstieg hielt er auf halbem Weg inne, neigte denkend einen Moment lang das Haupt und ging schließlich zurück. »Eine Gunst möchte ich erbitten«, sagte er.
»Nenne sie.«
»Wie ich höre, ist der Mensch in der Mache. Wenn er fertig ist, wird er Gesetze brauchen.«
»Was, du Wicht! Du, sein berufener Widersacher, seit dem Morgengrauen der Ewigkeit von Haß auf die Seele des Menschen erfüllt — du bittest um das Recht, seine Gesetze zu machen?«
»Pardon; worum ich bitten möchte, ist, daß ihm gestattet werde, sie selbst zu machen.«
So ward es beschlossen.“

Von den Göttern zu Propheten, Majestäten und anderen Obrigkeiten – sie alle hielten sich selbst ungern an Regeln und wussten das auch stets fintenreich zu begründen. Die Menschen konnten sich ihre Herrscher nur selten aussuchen, und selbst dann machte sich Satans List, die Gesetze den Menschen selbst zu überlassen, bemerkbar: Egal ob die Macht dynastisch – also in Familien – vererbt, ob sie durch wie auch immer geartete Wahlen an unterschiedlichste Regierungen gelangte oder einfach mit Gewalt oder durch Korruption angeeignet wurde: sie fiel immer wieder einmal in die Hände von Idioten. In Ambrose Bierce‘ „Des Teufels Wörterbuch“ steht dazu

Idiot, der — Angehöriger eines großen und mächtigen Stammes, der menschliche Belange stets beherrschend beeinflusst und kontrolliert hat. Die Aktivitäten des Idioten beschränken sich nicht auf ein bestimmtes Gebiet des Denkens oder Handelns, sondern durchdringen und regeln alles. Er hat in allem das letzte Wort; seine Beschlüsse sind unanfechtbar; er bestimmt die Mode in Meinungs- und Geschmacksfragen, diktiert Sprachfehler und schreibt ultimativ Verhaltensweisen fest.“

Die Folgen werden in der Litertur oft behandelt, auch bei Goethe, im „Faust, Prolog im Himmel“ während einer Zwiesprache des Herrgotts mit Mephisto:

„Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen“, erklärt der Teufel, „Ich sehe nur wie sich die Menschen plagen. Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag, Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. Ein wenig besser würd’ er leben, Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennts Vernunft und braucht’s allein Nur thierischer als jedes Thier zu seyn.“

Damit wären wir bei einem grundsätzlichen Problem von Regeln angekommen: Der Frage, ob sie vernünftig sind.

Weiterlesen in Teil II

Die Uhren des Lebens

Die barocke Standuhr - vermutlich aus dem 18. Jahrhundert - verschwand im Antikhandel der KoKo
Die Uhr – vermutlich aus dem 18. Jahrhundert – verschwand 1971 im Antikhandel der KoKo

Töne und Geräusche, die 1953 das Sterben meines Großvaters begleiteten, kamen aus dem barock geschwungenen, hölzernen Körper unserer Standuhr. Sie war mindestens hundert Jahre älter als ihr Besitzer. Ihr Klang war – wie bei Violinen aus jener Zeit – unverwechselbar, und sie hatte ein Gesicht aus Messing und Zinn, über das filigrane Zeiger wanderten. Zur Viertelstunde schlug eine helle Glocke an, zur vollen eine dunklere. Tage und Nächte meiner Kindheit hindurch ließ sich diese unbeirrbare Stimme vernehmen. 

Ab und zu steckte der schon von Krankheit Gezeichnete eine Kurbel nacheinander auf drei ins Zifferblatt eingelassene Vierkantbolzen. Wenn er sie drehte, wickelten sich im Gehäuse Schnüre mit daran hängenden bleiernen Zylindern auf drei Wellen. Ihre Last trieb Zeiger und Schlagwerk an. Das Ritual des Aufziehens – bis heute werden mechanische Uhren „aufgezogen“, auch wenn man die darinnen arbeitenden Federn eigentlich zuzieht – faszinierte den Enkel ebenso, wie das Hin und Her des Pendels und das kaum sichtbare Sinken der Gewichte. Ich wollte unbedingt dabei sein, wenn Opas Ritual begann, und bettelte immer wieder darum, die Tür zum Bauch öffnen zu dürfen. Oben, im Kopf unseres stummen Familienmitglieds, tickte die Hemmung, sie brachte den Perpendikel darunter mit dem Vollmond aus Messing am Ende ins schwingende Gleichmaß: Staunend stand ich davor.

Wo es tickte, verbargen sich drei Geheimnisse: Das Kreisen der Zeiger, der Stundenschlag und das musikalische Gedächtnis. Die Uhr gehörte zu uns wie eine sehr alte Person. Ehe sie ihre Stimme erhob, atmete sie asthmatisch ein: dann spannte das zugehörige Gewicht die Federn an den Glocken. Tag für Tag sagte sie immer dasselbe; wenn sie schwieg, wachte mein Großvater auf. Er hatte vergessen, sie aufzuziehen. Das dritte Geheimnis waren Walzer und andere Melodien, die silberhell wie aus einer Spieldose erklangen, und deren Titel ich leider vergessen habe. Es waren welche von Mozart dabei und von Johann Strauß, ein vergilbtes Blatt auf der Innenseite der Tür des Gehäuses fürs Schlagwerk listete sie auf.

Eine – “Les Cloches de Corneville” hieß sie – erklang nur in Bruchstücken. Das lag daran, dass auf der wie ein Igel mit vielen Stacheln versehenen stählernen Walze Lücken klafften, dort die Metallzinken des Spielwerks nicht angerissen wurden. Aber genau diese Störung erregte meine besondere Aufmerksamkeit: der stockende Rhythmus verbarg eine Botschaft, die ich gar zu gern entschlüsselt hätte. Die Uhr stammte vermutlich aus dem 18. Jahrhundert. 1971, als unser Haus abgerissen wurde, verschwand sie im Antikhandel des Stasi-Devisenbeschaffers Alexander Schalck-Golodkowski; die Decken in den sozialistischen Plattenbauten waren für sie zu niedrig.

Vor kurzem erst fand ich heraus, dass “Les Cloches de Corneville” eine 1877 in Paris uraufgeführte Operette von Robert Planquette ist, damals ein Kassenschlager mit 500 Vorstellungen hintereinander, Riesenerfolg auch in London, und dass die Uhr vermutlich einen Ausschnitt – vielleicht einen Walzer – wiedergab. Auf YouTube ist das ganze Werk zu hören, die Partitur läuft mit im Bild, während es erklingt. Die Notenschrift macht – wie das Ineinander von Stahlstiften und Tonzungen bei unserer Spieluhr – sichtbar, wie die Zeit vergeht: die Mechanik der Musik. Als Kind schaute ich dem ebenso gebannt zu, wie später der Bewegung der Nadel am alten Grammophon der Familie, aber dort war das mechanische Abtasten der Rille schon fast so unsichtbar wie Jahrzehnte später bei einer CD: Es verschwindet in der enormen Informationsdichte von Schallwellen, die sich mittels moderner Technik aufnehmen und digital komprimieren lassen. Musikliebhaber haben sich längst an diese Qualität des Hörens gewöhnt: Nuancen bei der Interpretation durch verschiedene Orchester, Solisten, Sänger sind zu erkennen. Fachleute können sie sogar unterscheiden – am Tempo, an der Dynamik, an der Zusammensetzung des Orchesters, der Technik des Dirigenten…

Mit etwa sechs lernte ich Blockflöte spielen. Der Unterricht war schrecklich, der Lehrer ein Pedant, ein rechter Wiedergänger des 1766 von Theodor Gottlieb von Hippel in seinem Lustspiel als „Der Mann nach der Uhr“ verspotteten. Kaum dass ich ein paar Töne spielen konnte, triezte er mich mit einem Metronom und bewies mir immer wieder, dass ich zu Hause faul gewesen und, statt zu üben, meinem Spieltrieb gefolgt war. „Du pfuschst!“ warf er mir vor, er blies mir den Marsch zum Ticken des für die Musikwelt segensreichen Geräts von Johann Nepomuk Mälzel. Die Geschichte Mälzels – er reiste ab 1804 mit dem legendären „Schachtürken“ durch Europa und Nordamerika – liest sich abenteuerlich. Erfunden hatte den angeblichen Automaten, in dessen Innerem allerdings ein Schachspieler die Figuren zog, Wolfgang von Kempelen. Selbst gekrönte Häupter wie Friedrich der Große und Napoleon sollen dem Schwindel aufgesessen sein, das Ganze flog auf, trotzdem fanden sich Nachahmer. Meine Geschichte als Musikschüler scheiterte am Ticktack des Metronoms und der Taktik des unerbittlichen Pädagogen. Vergeblich wies meine Großmutter mich aufs zuhause ungenutzt herumstehende Klavier hin. Sie bedrängte mich niemals, aber der Lehrer mit dem moralischen Rohrstock verdarb jeden Antrieb zum Üben. Meine Liebe zur Musik blieb, auch die zu Physik und Mathematik. Letztere leistete meiner Faulheit Vorschub, denn mit ihrer Hilfe ließen sich allerlei verborgene Botschaften im Räderwerk des Alltags entschlüsseln, nützliche – weil mühseligere Lösungswege verkürzende – Algorithmen und Formeln finden. Und damit wäre ich wieder bei den Uhren und beim Schachspiel.

Nicht ganz so alt wie die Standuhr ist eine Taschenuhr der Schweizer Firma Longines, von meinem Großonkel 1906 bei einem Meininger Juwelier erworben. Sie ist ein Erbstück, aber ich habe sie mir redlich verdient, weil ich den alten Herrn in seinen letzten Jahren rasierte, mehr noch weil ich mit ihm Schach spielte. Es war eine Quälerei, ich verlor immer. Natürlich lernte ich mit der Zeit dazu, las einschlägige Bücher, schloss mich einem Schachclub für Schüler an, aber es reichte nie, auch nur eine Partie für mich zu entscheiden. Onkel Walter hatte auf jeden Zug eine Antwort, kannte alle Eröffnungsvarianten und vermutlich beherrschte er genügend meisterliche Spielverläufe, um erbarmungslos meine Figuren abzuräumen. Ich verlor die Lust. Er bemerkte es, ließ mich gewinnen, nur um mir anschließend zu erklären, an welchem Punkt er mir einen spielentscheidenden Vorteil gewährt hatte. Aber da er mein Taschengeld aufbesserte, wenn ich mit dem Trockenrasierer die grauen Stoppeln in seinem Gesicht abmähte, schluckte ich das Niedermähen meiner Bauern, Offiziere, gar der Königin.

Jahrzehnte später stellte sich heraus, dass beim Schach elektronische Rechenmaschinen dem Menschen derart überlegen sind, dass selbst Weltmeister ihnen unterliegen. Brutale Rechenkraft schlägt Intelligenz. Das liegt an der mathematischen Beschränktheit des Spiels mit seiner Grundaufstellung, den Regeln der bewegten Figuren bis zum Ende im Matt oder Patt. Trotz dieser fast jedem System eigenen Beschränktheit wurde die angeblich dem Menschen überlegene „künstliche Intelligenz“ Lieblingsthema in Politik und Medien. Onkel Walters Taschenuhr hat – anders als einige Generationen von Rechnern und Notebooks – überlebt, tickt zuverlässig weiter, ebenso verlässlich dauert der Streit darüber an, ob sich die Welt dank dem Ticktack der Digitalisierung mittels KI beherrschen lassen wird, wenn nur Datenmengen und Verarbeitungstempo hoch und die verwendeten Algorithmen intelligent genug sind. Ultimative Hoffnung sind Quantencomputer, die Aufgaben höchster Komplexität bewältigen können – aber auch sie müssen programmiert werden, ihre „Lernprozesse“ hängen also an Grundmustern und Vorschriften, mit denen sie „gefüttert“ und „erzogen“ werden.

Etwa zur selben Zeit wie die Operette von den Corneviller Glocken entstand ein Lied des Österreichischen Dichters Johann Gabriel Seidl; es heißt „Die Uhr“, war bis weit ins 20. Jahrhundert bekannt und beliebt. Carl Loewe hat es vertont, berühmte Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey und Thomas Quasthoff nahmen es auf.

Ich trage, wo ich gehe,
Stets eine Uhr bei mir;
Wie viel es geschlagen habe,
Genau seh ich an ihr.

Es ist ein großer Meister,
Der künstlich ihr Werk gefügt,
Wenngleich ihr Gang nicht immer
Dem törichten Wunsche genügt.

Ich wollte, sie wäre rascher
Gegangen an manchem Tag;
Ich wollte, sie hätte manchmal
Verzögert den raschen Schlag.

In meinen Leiden und Freuden,
In Sturm und in der Ruh,
Was immer geschah im Leben,
Sie pochte den Takt dazu.

Sie schlug am Sarge des Vaters,
Sie schlug an des Freundes Bahr,
Sie schlug am Morgen der Liebe,
Sie schlug am Traualtar.

Sie schlug an der Wiege des Kindes,
Sie schlägt, will’s Gott, noch oft,
Wenn bessere Tage kommen,
Wie meine Seele es hofft.

Und ward sie auch einmal träger,
Und drohte zu stocken ihr Lauf,
So zog der Meister immer
Großmütig sie wieder auf.

Doch stände sie einmal stille,
Dann wär’s um sie geschehn,
Kein andrer, als der sie fügte,
Bringt die Zerstörte zum Gehn.

Dann müsst ich zum Meister wandern,
Der wohnt am Ende wohl weit,
Wohl draußen, jenseits der Erde,
Wohl dort in der Ewigkeit!

Dann gäb ich sie ihm zurücke
Mit dankbar kindlichem Flehn:
Sieh, Herr, ich hab nichts verdorben,
Sie blieb von selber stehn.

Mir erscheint das Lied als eines der vielen Zeugnisse des Zusammenwachsens von Menschen und Maschinen in Malerei, Literatur, Musik – also des heraufkommenden, von der Mechanik dominierten Zeitalters. Darinnen wird der stetige, verlässliche Gang des Uhrwerks Herz gelobt und bestaunt, andererseits als Hinweis auf beschränktes menschliches Trachten und Handeln gesehen, letztlich als Gott vorbehaltenes Geheimnis des Lebens gepriesen: Ein Herz kann niemand neu erschaffen. Moderne Medizin kann manches reparieren, Kunstherzen taugen aber bis heute nur als kurzzeitiger Übergang zur Transplantation – und auch die ersetzt nicht, was einmalig, unnachahmlich, unverwechselbar dem Original vorbehalten war. Es hat seine eigene Zeit, wie der ganze Mensch, der im Lied seine letzte Reise antritt, dankbar und demütig.

„Geschenk“ zum 80stender Urenkel

Nachdem meines Großvaters Uhr abgelaufen war, der „Omma“ das Aufziehen des Enkels wie des antiken Werks zufiel, sang sie dieses Lied immer wieder einmal mit ihrer brüchigen alten Stimme – und es half ihr, nachdem sie zwei Weltkriege, den Verlust des Ehemanns und Familienbesitzes in der DDR überlebt hatte, nicht zu verzagen. Sie wurde 91, umsorgte geduldig, großmütig und hilfsbereit die „alleinerziehende“ Tochter, zwei Enkel, noch den Urenkel bis fast zum Schluss. Erst als die Enkelin samt Söhnchen wegzog, die Kräfte nachließen, während Demenz ihren Geist verwirrte, zeigte sich, wie stark ihr Herz war. Dabei hatte sie, seit ich mich erinnern kann, über Herzschwäche geklagt und Medikamente geschluckt – das war besonders an ihr. In innerfamiliären Konflikten sank sie in sich zusammen und wurde depressiv. Eine „Störung des Herzrhythmus“ als intelligente Strategie der Schwächeren?

Douglas Adams hat in „Per Anhalter durch die Galaxis“ immerhin das Vorkommen von Depressionen bei Robotern angedeutet. Marvin, die suizidal gefährdete KI, wurde bis heute nicht realisiert, vermutlich weil kein Nutzen für Psychiater und Pharmaindustrie erkennbar ist. Immerhin soll mittels „Artifical Intelligence“ Musik im Stil von Bach, Mozart oder Beethoven komponiert werden können, Gedichte wie von Charles Baudelaire geschrieben oder Familiengeschichten wie aus der Feder von Balzac, Dramen von Tschechow… Zugleich erfreuen uns Medien mit erschütternden, gar empörenden Geschichten über die psychischen Defekte großer Meister – narzisstische Persönlichkeitsstörungen sind besonders beliebt.

Freilich lässt sich eine „KI“ oder „AI“ mit allem jemals Komponierten füttern, Algorithmen fürs Verwenden von Wortschatz, Rhythmus, Reimen, Metaphern lassen sich vorstellen; ebenso mag es sich mit Werken der Bildenden Kunst verhalten – was dabei entsteht, kommt doch nicht über das Stadium elaborierter Kopien, meisterhafter Fälschungen hinaus, mit denen bestenfalls betrügerische Geschäfte erblühen. Die Täuschung liegt jedenfalls im Auge (oder Ohr) des Publikums. Der schöpferische Akt, der auf dem Heranwachsen einer Persönlichkeit, in jahrelangem Üben, Scheitern, den einzigartigen genetischen Voraussetzungen und den ebenso singulären, unwiederholbaren Lebensumständen begründet ist, wäre mit noch so gewaltiger Potenz digitalen Ticktacks nicht herstellbar.

Doch wird sich der Mensch wohl niemals von dem begehrlichen Blick auf göttliche Allmacht abbringen lassen, ebenso wenig werden die Mächtigen dieser Welt darauf verzichten, mit Versprechen ihre Anhänger zu locken, die einzuhalten sie nicht in der Lage, meist nicht einmal gesonnen sind. Was allerdings die Realität verspricht – und darauf ist Verlass: Noch jedes von ihnen verheißene Paradies erwies sich als Hölle, nur die Fristen der Metamorphose waren verschieden. Ihre „inneren Uhren“ liefen so unerbittlich ab wie die eines jeden Lebens.

DAS BÜNDNIS – eine Farce

ER Da bin ich. Es war wieder ein harter Kampf.

SIE Gleich sagt er wieder, dass ich ihn lieben muss…

ER HÄNGT EIN PLAKAT AUF Das habe ich für dich entworfen.

AUF DEM PLAKAT STEHT: „ALL MEINE LIEBE, ALL MEINE TREUE
GILT UNS!“

SIE …dass er alles für mich tut…

ER Die Frau steht wahrhaft im Mittelpunkt: Du! All meine Fürsorge gilt dir. Das ist der reale
Feminismus.

SIE … wie schlimm die anderen Männer sind…

ER Wenn du wüsstest, wie die Machos die Frauen unterdrücken. Überall entrechtete, betrogene, unterdrückte Frauen.

SIE … dass ich bei ihm in Sicherheit bin…

ER Bei mir genießt du Geborgenheit, eine gesicherte Existenz.

SIE … wie kalt es draußen ist…

ER Ich habe sie gesehen: die Frauen ohne Obdach, ohne Schutz, ohne Arbeit…

SIE … wie ich mich frei entfalten kann…

ER Hast du eingekauft? Ich habe Hunger.

SIE … wie anderswo – was?

ER Ich habe Hunger.

SIE Ich auch.

ER Ich habe dich etwas gefragt.

SIE Ich‘ liebe dich. All meine Liebe, all meine Treue…

ER Nein! Ja. Gut. Aber hast du eingekauft?

SIE Ich habe es versucht. Aber seit du mir das andere Bein auch abgeschnitten hast…

ER Du genießt die vollen Vorzüge unseres Gesundheitswesens, umfassende medizinische
Betreuung und die Einrichtungen zur Rehabilitation. Die Holzbeine aus der von mir
in erfolgreicher Gemeinschaftsarbeit zum Welthöchststand entwickelten Holzbeinproduktion…

SIE Es funktioniert nicht.

ER Lass mich bitte ausreden. (ÄNGSTLICH) Liebst du mich etwa nicht mehr?

SIE All meine Liebe, all meine Treue gehören nur dir.

ER Und nichts verbindet dich mit den bösen, herrschsüchtigen Machos?

SIE Alles verbindet mich mit dir und nichts verbindet mich mit den bösen, herrschsüchtigen Machos.

ER Alles für dich, alles durch dich, alles mit dir. Hast du eingekauft?

SIE Ich bin zu spät gekommen.

ER Das ist unmöglich. In meinem umfassenden Programm der entwickelten Strategie des Warenerwerbs unter den Bedingungen der verschärften Auseinandersetzung mit den Machos habe ich in schöpferischer Anwendung der Lehren der Klassiker des Feminismus nachgewiesen, dass wir dem Machismo um eine ganze historische Epoche voraus sind.

SIE Mit einem Holzbein ging es ja auch noch ganz gut, wenn ich mich sehr angestrengt habe, aber…

ER Wie redest du denn?

SIE Es gab objektive Schwierigkeiten.

ER So?

SIE Die Einsparung des Kniegelenks an dem zweiten Holzbein…

ER Vertraust du mir etwa nicht?

SIE Doch aber es funktioniert nicht.

ER Die Neuentwicklung erfolgte auf streng wissenschaftlicher Grundlage. Planmäßig hättest du die anderen überholen müssen.

SIE …ohne sie einzuholen. Ich weiß. Aber ich bin gar nicht erst auf die Beine gekommen

ER Du hast uns schweren Schaden zugefügt. Bist du dir dessen bewusst?

SIE Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht schneller, Die anderen haben Rollstühle. Außerdem habe ich Hunger.

ER Eben. Du isst zuviel. Deine Ansprüche übersteigen unsere Möglichkeiten. Jetzt willst du auch noch einen Rollstuhl. Dabei habe ich schier unermessliche Mittel in die Einsparung des Kniegelenkes investiert. Das hat man von seiner Großzügigkeit. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Methoden der Machos …

SIE Ja?

ER Fressen, fressen; das ist alles, woran du denkst. Fressen und Rollstuhlfahren. Denkst du auch daran, dass man für Rollstühle dort nicht nur die Beine, sondern die eignen Kinder verkauft? Denkst du auch an die armen Frauen mit den
abgeschnittenen Ohren?

SIE Abgeschnittene Ohren! Das ist schrecklich.

ER Damit nicht genug. Es gibt welche, denen man den Mund zuklebt, die sich den Gehörgang selbst zustopfen, damit sie nichts mehr hören von all dem Elend. Keiner hört überhaupt auf irgendwen. Es gibt keine Werte. Keine Moral.

SIE Schrecklich.

ER Da fahren sie herum, in ihren Rollstühlen: ohne Beine, ohne Ohren, immer auf der Jagd nach Fressen und hören nicht, wenn jemand leidet und um Hilfe schreit.

SIE Das stimmt. Sie hören nichts. Sie sind so schnell an mir vorbeigefahren, dass ich nichts erkennen konnte, und ich bin zu spät gekommen. Niemand hat mich um Hilfe rufen hören.

ER Ich höre dich immer. Ich höre dich, ich sehe dich, bei mir bist du geborgen. In Sicherheit.

SIE Ja.

BEISCHLAF

ER Du musst jetzt einkaufen gehen. Es ist für uns, für unsere Zukunft, für die gemeinsame Sache, für unser Kind. Es ist eine Frage des Bewusstseins.

SIE Für unser Kind … Für den Feminismus.

ER Für uns.

SIE Für uns.

SIE RAPPELT SICH AUF, FÄLLT WIEDER HIN

SIE Mit zwei Beinen war ich schneller.

ER Willst du damit sagen, dass das System falsch ist? Unser System? Willst du unsere Errungenschaften in Frage stellen? Das Gesundheitswesen, das dich keinen Pfennig kostet? Unsere Macht, die uns zur Beherrschung der Natur verholfen hat? Die Rolle der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen? Beine! Wir beherrschen die Technik, wir sind der Natur überlegen. Beine! Wo wir fliegen können!

SIE Zum Einkaufen?

ER Zum Einkaufen! Jawohl! Sollen sie doch mit ihren Rollstühlen herumfahren, ohne Planung und Leitung. Wenn du nur willst, beweisen wir unsere Überlegenheit. Wir fliegen.

SIE Fliegen. Bas wäre schön.

ER Wir brauchten überhaupt keine Kniegelenke mehr. Wir könnten sie völlig einsparen.

SIE Darf ich nicht wenigstens eines behalten?

ER Wo denkst du hin. Auf diesen Sieg über die Natur werden wir nicht verzichten. Allerdings…

SIE Ja?

ER Es gibt da ein Problem…

SIE Welches?

ER Die Machos versuchen offensichtlich, sich einen Vorsprung zu verschaffen. Sie arbeiten an der Reduzierung des Luftwiderstandes.

SIE Des Luftwider …??

ER Des Luftwiderstandes. Jedes fliegende Objekt hat ihn. Auch du. Wir müssten ihn drastisch herabsetzen. Die abgeschnittenen Beine sind eine großartige Errungenschaft! Sie reduzieren den Energieaufwand für den Flug fast um
die Hälfte, aber der Luftwiderstand…

SIE Was ist damit?

ER Du hast so schrecklich abstehende Ohren.

SIE Was?

ER Damit geht es natürlich nicht.

SIE Was?

ER Fliegen. Zum Einkaufen fliegen. Fliegen für unser Kind, für unsere Zukunft.

SIE Ich verstehe nicht.

ER Es ist eine Frage des Bewusstseins, der Werte, der Moral. Wir brauchen eine große freiwillige Initiative von dir. Wenn du fliegen willst, müssen wir die Ohren abschneiden. Du willst doch fliegen für uns, zum Einkaufen? So wie du bist, kannst du es nicht schaffen. Mit diesem schrecklichen Luftwiderstand.

SIE Nein.

ER Du weigerst dich?

SIE Ja.

ER Du stellst dich gegen den Fortschritt?

SIE Ich habe immer alles getan, was du von mir verlangt hast.

ER Wir. Was wir von uns verlangt haben. Soll das alles umsonst gewesen sein?

SIE Ich möchte nur meine Ohren behalten.

ER Das ist egoistisch, kleinlich, reaktionär.

ER ZIEHT EINE BANANE HERAUS,ISST.

SIE Woher hast du die Banane?

ER Hart erarbeitet. Auch du könntest Bananen essen, wenn du mehr Initiative zeigen und es dir nicht auf meine Kosten bequem machten würdest.

SIE Woher hast du die Banane?

ER Darüber bin ich dir keine Auskunft und schon gar keine Rechenschaft schuldig. Gerade jetzt, wo du dir jedes Vertrauen verscherzt hast, kann ich dir unmöglich derart wichtige, geheime Informationen geben. Bewähre dich.
Lerne fliegen. Dann könntest du die erste beim Einkaufen sein und wir hätten immer Bananen.

SIE Ich habe Hunger.

ER ZIEHT EINE ZWEITE BANANE HERAUS

ER Ich könnte dir etwas abgeben. Als Vertrauensvorschuss sozusagen.

ER HÄLT IHR DIE BANANE VOR DIE NASE. SIE SCHNAPPT DANACH, ER ZIEHT DIE BANANE WEG.

ER Natürlich müsstest du etwas guten Willen zeigen.

SIE Was soll ich tun?

ER Die erste Etappe der freiwilligen Initiative „Flug zu den Bananen“ beginnen. Wenigstens ein Ohr muss fallen.

SIE Nein. Nein. Nein.

ER Gut. Damit ist alles klar. Du hemmst unseren Aufbau. Du stellst alles in Frage. Du machst dich zum Bundesgenossen unseres Gegners. Du weißt, wozu du mich zwingst.

SIE Ich will doch nur meine Ohren behalten.

ER Meine. Meine. Das ist die Sprache des Feindes.

SIE Du hast doch selbst gesagt, dass die Machos Ohren abschneiden.

ER Du vergleichst MICH mit den Machos? Mich, den Befreier vom Machismo?

ER STÜRZT SICH AUF SIE, SCHNEIDET EIN OHR AB, ISST ES AUF, HAT EINEN ORGASMUS.

ER Es tut mir leid, aber ich musste diese Maßnahme ergreifen. Das wirst du einsehen. Der Feind ist überall. Mitten in unseren Reihen. In dir. Ich bin über dein Versagen tief betroffen, es schmerzt mich. Nur die tiefe Sorge um dich hat mich bewogen, einzugreifen, denn unsere Errungenschaften müssen geschützt werden. Es lebe das Bündnis von Mann und Frau. Nieder mit dem Machismo!

SIE Wohin gehst du?

ER Ich muss mich erholen. Der Feind könnte die kleinste Schwäche auf unserer Seite nutzen. Ich muss stark sein für uns, für unser Kind, für unsere Zukunft.

ER LEGT IHR MESSER UND VERBANDPÄCKCHEN HIN.

ER Wir brauchen dich. Auf dich kommt es an. Mach mit! Flug zu den Bananen!

ER VERSCHWINDET.

SIE Manchmal möchte ich weglaufen. SIEHT SICH ÄNGSTLICH UM

SIE Einfach weg. Weit, weit weg, egal wohin. Wenn er das wüsste. Ich glaube, er schlüge mich tot.

Wenn ich Beine hätte. Ja. Oder wenigstens einen Rollstuhl. Aber so; ohne Beine bei den Machos. Ganz allein. Eine unter vielen, ohne Arbeit, ohne Obdach. Ohne Chance gegen die Machofrauen. Ohne Rollstuhl und mit dem hohen Luftwiderstand.

Jetzt ist er nur noch halb so hoch.

Ich bin schlecht. Ich bin egoistisch. Wir haben so lange zusammen gelebt und ich will alles im Stich lassen: die Sicherheit und Geborgenheit, die er für mich geschaffen hat, meine Arbeit, unsere gemeinsame Zukunft, den
Feminismus. Unser Kind.

Ich bin schlecht. Er ist so stark und ich bin so feige. SIE NIMMT DAS MESSER.

Trotz allem vertraut er mir.

Für unser Kind, unsere gemeinsame Zukunft. Flug zu den Bananen! SIE SCHNEIDET DAS ANDERE OHR AB.

ER WIRD VON EINER JUNGEN SCHÖNEN FRAU HEREINGEROLLT, IN EINEM WUNDERBAREN ROLLSTUHL

ER Es ist erreicht! Sie haben mich anerkannt! WIRFT IHR EINE BANANE ZU.

ER Wir rüsten ab. Wirf das Messer weg, oder besser: gib es her.

SIE Wer ist das?

ER Das ist das Neue Wesen. Das Neue Wesen in unserem gemeinsamen Haus.

SIE Sie hat Beine, sie hat Ohren, wer ist sie, wo kommt sie her?

ER Meine Initiative war erfolgreich, alle haben es erkannt: wir brauchen das Neue Wesen. Schluss mit den Kämpfen, Schluss mit der Unterwerfung der Natur. Gib das Messer her.

SIE Wo kommt ihr her, woher hast du den Rollstuhl?

ER Gib sofort das Messer her.

SIE VERSUCHT SICH AUF DAS NEUE WESEN ZU STÜRZEN. KURZER, HOFFNUNGSL0SER KAMPF; ER NIMMT IHR DAS MESSER WEG, DROHT IHR.

ER Es wird nicht mehr gekämpft. Spürst du nicht, wie die Luft frischer und leichter wird, wenn das Neue Wesen auftritt?

ER KÜSST DAS NEUE WESEN

ER Natur! Natur!

SIE Du warst bei den Machos!

ER Und sie mussten mich endlich anerkennen. Es waren zähe Verhandlungen. Gefällt dir der Rollstuhl? Es ist das neueste Modell.

SIE Du hast gesagt, es gibt dort nur Frauen ohne Beine und ohne Ohren.

ER Die meisten. Ja. Aber jetzt lebt man dort wieder natürlicher. Wir haben uns geeinigt. Keinem wird mehr weh getan. Ohne Grund.

ER STREICHELT SIE, SIE STÖSST IHN WEG.

SIE Was wird aus mir, was wird aus unserer
gemeinsamen Zukunft, unserem Kind.

ER Seine Beine sind in guten Händen.

SIE Du hast es verkauft, für das neueste Modell. An die Machos.

ER Wir haben jetzt ein GEMEINSAMES HAUS. Bananen für alle, Rollstühle für alle. Irgendwann.

SIE Es ist noch nicht einmal geboren, und du hast es verkauft.

ER Es wäre sowieso kein besonders schönes Kind geworden. Von einer Frau ohne Beine, ohne Ohren. Was wäre das schon für eine Zukunft. Die Zukunft gehört dem Neuen Wesen. Wir haben uns geeinigt, alles wird gut.

SIE SCHREIT. DAS NEUE WESEN KLEBT IHR DEN MUND ZU.

ER Alles wird gut.

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Déjà vu (II)

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Enzyklopädische Erklärungen tun das Phänomen „Déjà vu“ als Täuschung des Gedächtnisses ab. Was dabei genau geschieht, ist einschlägiger Wissenschaft nicht klar; sie sieht eine Korrelation zu Erkrankungen. Mystiker verweisen auf Begebenheiten „in einem früheren Leben“. Ich bliebe lieber bei real auffindbaren Zusammenhängen. Cees Nooteboom, niederländischer Autor, sagt, Erinnerung sei „wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will“. Unzählige Beispiele für optische, akustische und kognitive Täuschungen belegen, wie uns das Gehirn irreleitet. Nootebooms Landsmann Douwe Draaisma hat einige lesenswerte Bücher zum Thema verfasst, die ich gern empfehle.1

Hieronymus Bosch - Die Hölle
Träume – Bilder aus einem früheren Leben? Hieronymus Boschs Bild der Hölle

Déjà vu erscheint weniger rätselhaft, wenn man dem Gedanken folgt, dass „Gedächtnis“ keine Ablage von Erinnerungen ist wie ein Archiv, eine Bibliothek oder irgendein Datenspeicher, sondern die ununterbrochene Bewegung eines ganzen Universums von Möglichkeiten, das sich dem realen Geschehen überlagert. Ich stelle mir eine riesigen Menschenmenge vor, darin jeder einzelne mit Reden und Handeln beschäftigt, die ich durchquere. Die ganze Zeit über empfängt mein „leibliches Gedächtnis“ – Körper und Geist untrennbar miteinander verbunden – chaotisch Eindrücke aus dem Geschehen um mich herum, aber nur bei bestimmten, musterhaften, verdichten sich die Signale zum Impuls des Erkennens. Und dieses „Erkennen“ ist nicht zwangsläufig an vorausgegangenes eigenes Erleben gebunden, sondern an die genetisch bedingte Kompositionsweise der Musterkennung, an eine unüberschaubare Menge von Antizipation strategischer Wendungen, deren sich niemand bewusst sein könnte, die sich nie kausal ordnen, geschweige beherrschen ließen.

So gesehen wäre erklärbar, weshalb und wie wir träumen. Manche reden davon, etwas sei ihnen „in einem früheren Leben“ widerfahren. Tatsächlich unterscheidet das Gedächtnis nicht immer scharf zwischen real oder nur im Film, im Traum, beim Lesen oder aus dem Hörensagen empfangenen Inhalten – allerdings trennt es wichtig und unwichtig in existenziellen Situationen viel schneller als es das Bewusstsein könnte. Das kann auch schief gehen, denn die antizipierte Gefahr ist womöglich gar keine – aber Schnelligkeit geht vor, antizipiert wird „quick’n dirty“.

Weshalb schreibe ich diese längliche Vorrede zu einem kurzen Text – recht eigentlich einer Farce oder einem Guignol? Weil die enormen Informationsmengen, mit denen Menschen hier und heute überflutet werden, fast ausschließlich auf ihre Inhalte hin und auf ihren vermeintlichen Gehalt an Realität betrachtet werden. Das Wort „Fakten“ wurde zu einer Monstranz, die all diejenigen vor sich hertragen, die ihre Form der Informationsvermittlung gern unangreifbar machen möchten. In den herkömmlichen ebenso wie in den neuen, „sozialen“ Medien toben unerbittliche Kriege um Wahrheit oder Lüge, redliche Information oder „manipulierte“, um die Deutungshoheit zwischen Gut und Böse, falsch und wahr.

So weit, so anthropologisch konstant. Begleiten Sie mich nun einmal – spaßeshalber – in die Welt der Träume. Dort sind Regeln der Logik und Kognition weitgehend außer Kraft. Nicht so die Antizipation, nicht die Antriebe zum Erlangen und Vermeiden, weder Ängste noch Lüste: Dort finden sich Konflikte ebenso wie Erlösendes, Beglückendes. Ich erlebe immer wieder einmal Schwerelosigkeit, kann schweben, stürze auch ab ins Leere, ohne Furcht vorm Aufschlag übrigens.

Ballonfahrt ins Blau - Wer träumt sich da nicht hinauf?

Ballonfahrt ins Blau – Wer träumt sich da nicht hinauf?

Wie kostbar diese jenseitigen Welten sind! Das Gehirn befasst sich dort nur noch eingeschränkt mit unmittelbaren Reizen; es wird vom Unbewussten, vom Erinnern, von Wünschen und Ängsten bewegt. Es muss ihnen folgen in gegenstandslose, phantastische, manchmal furchterregende Geschehnisse. Was im Alltag nicht zu merken ist – dass hinter Entscheidungen nur selten vernünftiges Abwägen steht – wird hier und jetzt universelles Programm. Alles ist möglich. Es muss nur einen Kondensationskeim geben, an den sich chaotisch schweifende Erinnerungen anheften können, egal ob sie frühkindlichem Erleben oder einer Fernsehserie entspringen. Von diesem Keim aus vernetzen und verweben sich Landschaften, Figuren, Situationen innerhalb von Hundertstelsekunden. Sie sind flüchtig, aber sie können stärker wirken als real Erlebtes.

Jeder, der Katzen oder Hunde hält, kann sie ab und zu beim Träumen beobachten, und jeder Neurophysiologe kann Ihnen heutzutage erklären, um was für eine wichtige Lebensfunktion es sich handelt. Gleichwohl rätseln Wissenschaftler immer noch daran herum, was Menschen in Morpheus‘ Umarmung geschieht. Interessant wird es, wenn das Bewusstsein für einen kurzen Moment in den Traum „hineinspringt“ – etwa um zu sagen „Du träumst ja nur!“ Man weiß heute, das manche Menschen in sogenannten Klarträumen Inhalte sogar beeinflussen können. Zweifellos existieren Übergänge zwischen Traum und Kognition, sonst kämen keine Gesprächsfetzen, gar Dialoge (allerdings von der schrägen Sorte) vor. Sich daran erinnern zu wollen, produziert wieder nur Bruchstücke, und bisher war nie jemand in der Lage zu überprüfen, inwieweit sie mit dem Geträumten tatsächlich übereinstimmen.

Hirnforscher wollen aufklären, was da “wirklich” geschieht. Sie wollen mittels hochpräziser Messung elektromagnetischer, hormoneller, zellbiologischer Abläufe die Traum- und Gedankenwelten vermessen. Aber dieses “wirklich” bedeutet doch immer nur, dass mit apparativ begrenzten Methoden Daten erfasst und Modelle konstruiert werden. Diese Modelle müssten in irgendeiner Form verifizierbar sein – etwa indem man aus mit ihrer Hilfe entworfenem elektromagnetischen Geschehen einen vorhersagbaren Traum entstehen ließe, also – wie im Film „Inception“ – bewegte Bilder ins Traumgeschehen einspielte, dem der Träumer nicht entfliehen kann.

So etwas ist Wunschvorstellung aller Despoten, Geheimdienste, vieler Produzenten mehr oder weniger schlechter Sci-Fi-Texte, Filme, Spiele. Vermutlich steckt schon viel Geld in einschlägigen Forschungen. Ihre Konsequenzen gehen – was ökonomische und politische Macht anlangt – über Kernkraft, Gentechnik, IT und Internet hinaus. Sie verschärfen alle Fragen nach menschlicher Verantwortung bis tief ins Persönliche. Aber stirbt infolge solcher “digitaler Transparenz” des Individuums nicht jedes Vertrauen, sogar das zu sich selbst?

Damit bin ich beim déjà vu meines Guignols von 1988 und einer sehr erfolgreichen Methode der Stasi: Dem „Zersetzen“ von Persönlichkeiten – im Sprachgebrauch des Mielkeschen Liebesministeriums „Personen mit feindlich-negativer Einstellung“. Fürsorge und Abhängigkeit, das Spiel mit Misstrauen, ritualisierte Bekenntnisse, der Wechsel von Drohungen und Heilsversprechen, Einschwören auf gemeinsame Feinde, Gesinnungskitsch: Das alles findet sich im Alltag heutiger Kämpfe um die Deutungshoheit, also die informelle Macht.

Mir half damals „Das Bündnis“, mich nicht „zersetzen“ zu lassen. Das déjà vu erheitert und erschreckt zugleich, denn die Methoden sind im Schwange; noch ist es allerdings möglich, sich zu wehren.

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1  Douwe Draaisma: Das Buch des Vergessens. Warum unsere Träume so schnell verloren gehen und sich unsere Erinnerungen ständig verändern. Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer. Galiani, Berlin 2012

  Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird. Von den Rätseln unserer Erinnerung. Aus dem Niederländischen von Verena Kiefer. Eichborn, Frankfurt am Main 2004.

Der Artikel ergänzt die Veröffentlichung auf „Acta Litterarum“

Déjà vu

“Wir entscheiden”, sagte der Stasi-Mitarbeiter in der Abteilung “Inneres” beim Stadtbezirk Prenzlauer Berg, “ob und wann wir ihre Übersiedlung in die BRD gestatten!”

Das war 1988, “wohn-haft” in Berlin, Hauptstadt der DDR, durfte ich seit Jahren nicht mehr als Regisseur und Hochschullehrer arbeiten, denn ich hatte gewagt, die Deutungshoheit der SED zu leugnen. Politisch und ökonomisch war ihre Macht längst brüchig. Die mächtigsten Männer der Sowjetunion mussten in internationalen Konferenzen – vor allem der KSZE – bei den Menschenrechten Kompromisse gegenüber dem Westen eingehen, wollten sie den Zusammenbruch ihres Landes und des Warschauer Verteidigungspakts unter Planwirtschaft und Rüstungswahn zumindest hinauszögern. Die – immer noch brutal verfolgte – Opposition vor allem in Ungarn und Polen erstarkte, sogar in der DDR wuchs der Widerstand. Hunderttausende forderten Freiheit der Meinung und der Reise. Das heißt: Sie griffen die am härtesten armierten Bastionen der Politbürokraten an: Die Ideologie und den “antifaschistischen Schutzwall”. In Parteizentralen und ihren “Sicherheitsorganen” war Daueralarm, ebenso beim Propaganda-Apparat: den staatlichen Sendern und Zeitungen, in Schulen und Hochschulen. Die bis zur Absurdität ermächtigten Kontrolleure verloren die Kontrolle – und bekamen sie nie mehr zurück.

Irreversibilität hat mich seit je beschäftigt. Für den Physiker war es ein universelles und irritierendes Phänomen, im Alltag kann es jeden zur Verzweiflung treiben, weil sich nichts ungeschehen machen lässt. Eine Millisekunde unaufmerksamer Bewegung, die Teetasse kippt ihren Inhalt ins Notebook, es verröchelt. Die Millisekunde lässt sich nicht zurückdrehen, mit keinem noch so gewaltigen Energieaufwand. Das gilt auch im Universum der Gedanken. Eine Folge davon ist, dass uns die Zeit immer schneller zu vergehen scheint, wenn wir altern: Zu viele Gedanken – erwünschte und unerwünschte – vertreiben sie uns unablässig.

„Die versiegelte Welt“ von Ulrich Schödlbauer liegt in einem seltsamen Zwischenreich: Immer wenn ich mich dort lesend hineinbegebe, verwandelt sich zuvor Gelesenes: Situationen und Gestalten changieren. Nichts anderes ist zu erwarten, da ja der Leser jedes Mal ein anderer ist: Begriffe sind anders aufgeladen, neue Zusammenhänge erkannt, auch hat sich seine Erfahrung in einer Realität verändert, deren Wandel durch keine Form von Wahrnehmung, Auswertung, Simulation geistig zu fassen, geschweige zu beherrschen ist. All diese Vorgänge, das gesamte Geschehen ist im Mikrokosmos der Neuronen ebenso irreversibel – also unumkehrbar – wie das Geschehen im Universum.

Vielleicht ist das unter den „Kränkungen“, die der Mensch während seiner Interaktion in der physischen, sozialen, psychischen Sphäre erlebt, die ärgste: dem Lauf der Zeit gegenüber ist er ohnmächtig. Er kommt von der verschütteten Tasse nicht los, einmal abgesehen davon, dass er sich mit dem Schaden befassen muss, wird er noch eine Weile – je nach Temperament – über die fatale Millisekunde stolpern, ihre Ursachen, Vermeidbarkeit, mögliche Mitschuldige…

Unser Leben besteht aus einer astronomischen Anzahl solcher Momente der Entscheidung. Die wenigsten davon fällen wir bewusst. Und selbst die vermeintlich bewusst gefällten beinhalten unbewusste Impulse. An ihrem tiefsten Grund treffen sie sich mit den Überlebens-Algorithmen von Viren, mit der Dynamik von Elementarteilchen und Galaxien. Jeder Versuch, aus naturwissenschaftlicher Sicht daraus auf menschliches Verhalten zu schließen, geht fehl, weil in Jahrmilliarden irreversibler Prozesse eine Komplexität gewachsen ist, die sich nicht „nachrechnen“ lässt.

Mit nichts anderem beschäftigt sich aber der Mensch, wenn er Mathematik, Physik, Chemie, Biologie erforscht, um Muster zu entdecken, nach denen sich Komplexität entwickelt. Er konstruiert Modelle, Apparaturen und Gebrauchsgegenstände, mit denen er sie zu beherrschen sucht. Dabei hat er es erstaunlich weit gebracht, womit ich mich aber nicht weiter aufhalten will, denn ein Ziel – das wichtigste, in der Mythologie, Kunst, Literatur, im Film, in den Labors immer wieder anvisierte – hat er bis heute nicht erreicht: sich selbst zu erschaffen, oder einen Zwilling, ein Gegenüber, welches ihm vollständig durchschaubar, also steuerbar wäre, zugleich die Schwelle der Unsterblichkeit überschritte, wäre nur der genetische Code samt Umgebungsbedingungen zu reproduzieren

Das freilich gelänge nur, wenn er nicht weniger als das ganze Universum neu erschüfe. Alle anderen Versuche brachten bisher nichts als Chimären, mechanische Ungetüme, kurzlebige Missgeburten und Alpträume hervor. Und doch…

Bisweilen begegnet einer Figuren und Verhaltensweisen, Ritualen, Redensarten, Konflikten, Gewalttaten einer längst vergangenen Zeit ganz direkt. Sie laufen ihm über den Weg, sie rücken ihm buchstäblich auf den Leib, sie schüchtern ihn ein oder bringen ihn zum Lachen, und das mit einer körperlich verstörenden Vertrautheit, wie sie aus Büchern, historischen Abhandlungen, niemals zu gewinnen wäre, nicht einmal aus Filmen. Nur ausnahmsweise treten ihm Personen noch einmal gegenüber, bei denen der Ausspruch „hat sich überhaupt nicht verändert“ passen würde. Vielmehr sind es Charaktermasken und Handlungen, bei denen nur die Kostüme gewechselt haben. So als ereignete sich Erlebtes – zumindest Erinnertes oder auch Geträumtes – ein zweites Mal.

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Masken der Macht – Gesichter der Ohnmacht (IV)

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Die alte Machtpyramide – überwunden oder nur mit immer neuem Personal?

Zeit und Gelegenheit, sich den beiden Dimensionen von Macht zuzuwenden: der materiellen und der informellen, oder anschaulicher: der von Besitz und sozialem Rang. In beiden prägt sie sich aus: Alle dynamischen Systeme von Wirtschaft, Politik, Kultur – sie mögen noch so unterschiedliche Formen haben – folgen dem Prinzip:

Leben = Materie + Information.

Auf diese karge Formel bringt es der Naturphilosoph Bernd-Olaf Küppers in seinem Buch „Die Berechenbarkeit der Welt – Grenzfragen der exakten Wissenschaften“. „Materie“ umfasst – gemäß der Einsteinschen Äquivalenz E = m . c2 (Energie = Masse, multipliziert mit dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit) – auch die Energie. „Information“ ist zwar ein im Alltagsgebrauch definierter Begriff, er birgt jedoch mindestens ebenso viele unerklärte Phänomene wie die berühmte „dunkle Materie“ und „dunkle Energie“ der Kosmologie. Dass Physiker, Mathematiker, Biologen, Informatiker sich gleichwohl der Berechenbarkeit der Welt immer weiter zu nähern suchen, ist unbestreitbar.

Dahinter steckt freilich auch der Wunsch, sie zu beherrschen. Das Wechselspiel unvermeidlicher Kommunikation ist immer eines von Führen und Führen lassen. Es beginnt bei der Geburt, bewegt Familien, Peergroups, konstituiert Schulen, Arbeitsverhältnisse… Und es geht unvermeidlich mit Konkurrenz, mit Konflikten einher, weil Macht auf besondere Weise antizipiert wird. Nichts maskiert sich dabei in menschlichen Umgangsformen besser, als das Streben nach Dominanz, nichts ist älter. Habgier und Herrschsucht haben mit jedem Zugewinn an Wissen Schritt gehalten, und dass Unterwürfigkeit eine ebenso alte Strategie zur Teilhabe an der Macht ist, leuchtet ebenso ein, wie die besondere Eignung eines mit Empathie Begabten für die Rolle des Sadisten.

Die Macht, Regeln setzen und soziale Rollen verteilen zu können, dürfte das höchste Ziel in ihrer informellen Dimension sein. Mittel der Rollenverteilung sind Rituale: Kleider- und Sitzordnungen, Zeremonien, Wettbewerbe um Ehrenpreise, Wahlen und – im Zeitalter der allumfassenden Quantifizierung – „Rankings“.

Wie und wann beginnt Selbständigkeit? Kreativität? Auf welche Rollen trainieren Familie, Schule, Arbeitswelt?

Der Umgang mit Kindern belehrt schnell über den unerschöpflichen Einfallsreichtum, mit dem kleine Menschen ihre Interessen durchsetzen. Geschickte Eltern antworten ihrerseits mit immer neuen und flexiblen Manövern. In glücklichen Verhältnissen laufen sie darauf hinaus, den Absichten des Kindes nicht einfach zu folgen oder sie brachial zu vereiteln, sondern seine Aufmerksamkeit auf neue Ziele zu lenken. Das ist zunächst auch eine Form der Dominanz, aber dabei lernen beide Seiten. Sie lernen, ohne je dauerhaft funktionierenden Patent(d)lösungen zu finden, sie handeln und feilschen mit immer anderen Methoden um den aktuellen Kompromiss, die Führung wechselt. Gewisse Regeln und Rituale werden, so lange sie für beide Seiten zweckmäßig sind, respektiert und eingehalten – bis zumeist das Kind sie bricht. Eltern erleben das schwache, unterlegene Kind als Despoten. Paradox?

Hier zeigt sich der blinde Fleck des Dominanzprinzips: Schon bevor sie ein Verhältnis gesetzt hat, ist Dominanz von diesem Verhältnis abhängig. Sie kann nur bestehen, wenn sie sich zugleich auf den Erhalt des Verhältnisses verpflichtet – sich also zum Diener macht. Um es auf ein anderes beliebtes Paradox zu bringen: „Beherrsche mich!!!“ sagt der Masochist zur Domina. Letzte Konsequenz der Dominanz wäre die Unsterblichkeit des Einzelnen oder die unzerstörbare Weltherrschaft eines sozialen Systems.

Dieser Artikel ergänzt die zuerst veröffentlichte Fassung im Globkult-Magazin

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Masken der Macht – Gesichter der Ohnmacht (II)

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„Jenaer Thüringer Alte Herren 1850“: Was verraten Kopfform, Nase, Stirn einer Silhouette?

Kehren wir zu Lichtenberg zurück, einem kleinen Mann, der von Kindheit an unter einer verkrümmten Wirbelsäule litt, bucklig war, und doch schon zu Lebzeiten als Gelehrter mit außerordentlichem Scharfblick sowohl wie seiner Fähigkeit zu präzisem Beschreiben und wissenschaftlicher Argumentation wegen gerühmt wurde. Als es ab 1775 Mode wurde, die „Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“ des Schweizer Pfarrers Johann Caspar Lavater als Übungsbuch dafür zu nutzen, jederzeit und überall aus Köperformen und Gesichtszügen auf Charaktere zu schließen, reagierte er mit bissiger Polemik. Dem gesellschaftlichen Mainstream, der sich mit Spekulationen über Nasen, Kinn, Stirn und anderen Eigenheiten unterhielt, entgegnete er souverän. Sein Essay „ Über Physiognomik wider die Physiognomen“ besticht auch heute noch. Dass anhand modischer Schattenrisse auf seelische Aktivität im Hintergrund geschlossen wurde, entlarvte er als der Astrologie vergleichbaren Trug. Aber er erkannte – und das war eine herausragende Leistung – wie bedeutsam der nonverbale Anteil der sprachlichen Kommunikation ist.

„Ohnstreitig gibt es eine unwillkürliche Gebärden-Sprache, die von den Leidenschaften in allen ihren Gradationen über die ganze Erde geredet wird. Verstehen lernt sie der Mensch gemeiniglich vor seinem 25. Jahr in großer Vollkommenheit. Sprechen lehrt sie ihn die Natur, und zwar mit solchem Nachdruck, daß Fehler darin zu machen zur Kunst ist erhoben worden. Sie ist so reich, daß bloß die süßen und sauren Gesichter ein Buch füllen würden, und so deutlich, daß die Elefanten und die Hunde den Menschen verstehen lernen. Dieses hat noch niemand geleugnet, und ihre Kenntnis ist was wir oben Pathognomik genannt haben. Was wäre Pantomime und alle Schauspielkunst ohne sie?“

„Expressiv“: Mimik im Stummfilm ist der des Theaters ähnlicher als die Mimik heutiger Medien

Der Begriff „Pathognomik“ setzte sich nicht durch, aber kein geringerer als Charles Darwin trug dazu bei, dass die „wortlose Weltsprache“ als starker Signalweg der menschlichen Kommunikation erkannt wurde. Dass sich zugleich mit den Bildermedien, mit ihrer Verbreitung für Zwecke der Werbung und Propaganda ebenso wie mit dem Siegeszug des Spielfilms auch die Ausdruckspsychologie als wissenschaftliche Disziplin etablierte – Karl Jaspers veröffentlichte dazu Anfang des 20. Jahrhunderts erste Texte – ist nicht verwunderlich: Die ins Überlebensgroße gesteigerte, expressive Mimik des Stummfilms ergab ganz neue Studienmöglichkeiten. Davon profitierten zahllose Forscher, auch solche die während des Dritten Reiches rassische und eugenische Theorien damit begründen wollten. Aber das war es nicht allein, was 1973 der Ausdruckspsychologie an deutschen Universitäten den Garaus machte.

Der Versuch, aus Mienen, Gesten, Lauten Rückschlüsse auf den emotionalen Hintergrund des „Senders“ zu ziehen, erwies sich als äußerst fehlbar. Trotzdem ist es ein allgemein beliebtes wie von Medien gern genutztes Verfahren, über Gefühle, Lebenslagen und Charaktere von Menschen zu mutmaßen. Im Werkzeugkasten des inzwischen als „Framing“ gehandelten Manipulierens von Informationen zu Propagandazwecken ist es immer griffbereit. Sie haben zweifellos selbst schon erlebt, wie unvorteilhaft Sie auf einem Foto wirken können, wenn die Kamera Sie von unten erfasst. Ihr Blick auf dem Bild „von oben herab“ hinterlässt beim Betrachter einen überheblichen Eindruck, ebenso wie der „aus den Augenwinkeln“ einen des Misstrauens. Sie können leicht damit experimentieren, welchen „Gefühlshintergrund“ andere nur infolge einer veränderten Kopfhaltung bei Ihnen vermuten, wenn Sie eine Serie davon aufnehmen: Blick in die Kamera von oben, von unten, mit geneigtem, vorgeschobenem, zurückgezogenem, leicht gedrehtem Kopf; dabei sollten Hals und Schulteransatz im Bild sein um die Relation zum Körper mit zu erfassen. Tun sie das alles möglichst entspannt und emotionslos. Sie werden staunen, wie viel Emotion andere aus den Fotos herauslesen.

Dieser Artikel ergänzt die zuerst veröffentlichte Fassung im Globkult-Magazin

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Die Weisheit des Heimatkundigen

Vor Hans-Jürgen Salier empfinde ich tiefen Respekt. Nicht nur weil er 1990 – noch vor der Währungsunion und dem Ende der DDR – in Hildburghausen seinen Verlag “Frankenschwelle” gründete. Seit wir uns – einige Jahre später – erstmals begegneten, erschien mir seine Arbeit als Historiker wie Unternehmer in Südthüringen unschätzbar. Dort hatte der SED-Staat wirtschaftliche und kulturelle Stärken der ganzen Region durch Enteignen, rigides politisches Bevormunden und ein brutales Grenzregime bis auf wenige kleine Widerstandsnester abgewürgt. Zu denjenigen, die eigensinnig Auswege suchten – unter gelegentlich unvermeidlichen Rumpfbeugen, unter dauernder Beobachtung der Stasi, von der SED mit viereckigen Rädern fürs Wagenrennen um berufliche Ziele ausgestattet – gehörte der Deutschlehrer Hans-Jürgen Salier. Das achte ich umso höher, als ich, von meinem Deutschlehrer Siegfried Landgraf zu widerständigem Denken ermutigt, meiner nahe gelegenen Heimatstadt Suhl gleich nach dem Abi 1969 entfloh, der DDR kurz vorm Mauerfall entkam; Hans-Jürgen Salier blieb.

Den Bezirk Suhl im Südwesten kujonierten besonders engstirnige SED-Funktionäre. Auch in der „autonomen Gebirgsrepublik“ wurden Straßen und Schulen nach sozialistischen Säulenheiligen umbenannt, Denkmäler gestürzt, Geschichte geklittert, gewachsene Traditionen unterdrückt oder bis zum Vergessen ignoriert. Dadurch entlarven sich heute wieder die Nachfahren der SED alias „Die Linke“ ebenso wie in ihrem Bemühen, die Sprache mit doktrinären Phrasen zu verunstalten und den DDR-Sozialismus weichzuzeichnen. Ende der 80er Jahre gehörte Hans-Jürgen Salier zu den Mutigen, die dem wirtschaftlich, ökologisch, moralisch hinfälligen „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ in einer friedlichen Revolution die Macht entwanden. Seine Notizen aus jener Zeit beweisen, wie waghalsig und doch besonnen sich Bürger ihre Freiheit und Selbstbestimmung zurückholten, ohne Rache zu üben. Sie ersparen dem Leser auch nicht die bittere Einsicht, dass die Apparatschiks der DDR samt Hilfstruppen in den Medien im vereinigten Deutschland seit 30 Jahren Karriere machen und reichlich ideologisch verblendeten Nachwuchs heranziehen konnten.

So überrascht wie ermutigt wird jeder Leser aus Saliers „biographischen Notizen“ erfahren, wie der Historiker sich in einer von den Überwachern unterschätzten und mangels Sachkenntnis nie durchschauten Nische schon in den DDR-Jahren internationales Renommee verschaffte: Als Philatelist. Beim Lesen wird auch klar, dass es dazu enormer Geduld und Hartnäckigkeit bedurfte. Unter den Augen hauptamtlicher und inoffizieller oder „gesellschaftlicher“ (IM, GSM) Stasimitarbeiter pflegte der Sammler Netzwerke überallhin. Philatelistenverband und Kulturbund spielten mit, denn Saliers Arbeiten ernteten Medaillen auch im „Nichtsozialistischen Währungsgebiet“. Das brachte Devisen. Nur der lukrative Handel mit Marken und Münzen aus der Nazizeit blieb der zuständigen staatlichen Stelle vorbehalten: der „Kommerziellen Koordinierung“ des Stasi-Majors und letzten Hoffnungsträgers von Erich & Erich: Alexander Schalck-Golodkowski. Salier erlebte das DDR-Schlusskapitel als Lektor im Berliner „transpress“-Verlag, auch dessen Niedergang im „Rette sich wer kann!“-Taumel der „Wendezeit„. Sowenig er den von der SED selbst erfundenen „Wende“-Begriff akzeptierte, so konsequent suchte er den eigenen Weg Richtung Marktwirtschaft und Demokratie.

Carl Joseph Meyer (1796-1856), berühmt als „Lexikon-Meyer“, verlegte sein „Biblio-graphisches Institut“ nach Hildburghausen.

Es ist nicht übertrieben, Hans-Jürgen Salier in den Fußstapfen eines anderen berühmten Unternehmers in Hildburghausen wandeln zu sehen. Nicht nur, weil beide daselbst als Verleger arbeiteten, sondern weil sie sich mit Leidenschaft unter hohem finanziellen und politischen Risiko für die Volksaufklärung engagierten. „Im Land der Anderen“ versteht darunter – ebenso wie Saliers frühere Bücher – keineswegs jene sich ans Publikum anbiedernde „trinkbare Information“, die ein SWR-Fernsehdirektor im Quoten-Zeitalter seinen Autoren fürs „Storytelling“ verordnete. Im Gegenteil: Genaue Datierung, Fußnoten, Bezüge zu Personen sind mit der Sorgfalt des Sammlers und Historikers vermerkt – anspruchsvolle Texte; und sie werden ebenso wie die dreibändigen „Grenzerfahrungen“ aus dem Bezirk Suhl an der Grenze zu Bayern und Hessen, die bis 2005 bei der „Frankenschwelle“ erschienen, als wichtige Dokumente der Zeitgeschichte dienen können. Für DDR-Unkundige erläutert ein Glossar am Ende des Buches Begriffe und deren Missbrauch im „Kaderwelsch“* der SED. Wer darüber Ausführlicheres erfahren möchte, findet es im gerade erschienenen E-Book des Leipziger Verlags.

2009 waren Hans-Jürgen Salier und ich gemeinsam in Hildburghausen unterwegs, für den SWR-Hörfunk entstand das Feature „Wikipedias Urgroßvater: Der Lexikon-Meyer“. Mich erstaunten Saliers Sachkenntnis wie seine Heimatverbundenheit. Sie spricht aus dem Programm seines Sohnes Bastian, der 2006 in Leipzig den Salier Verlag als Nachfolger der „Frankenschwelle“ gegründet hat. Auch Joseph Meyers Sohn Herrmann Julius führte in Leipzig das Werk seines Vaters fort. Den Saliers und ihren Büchern wünschte ich einen mindestens ebenso großen Erfolg: Damit nicht wieder selbst verschuldete Unmündigkeit National- oder „Real“-Sozialisten zur Macht verhilft und Thüringen, Deutschland und Europa verdunkelt.

*) Zum Begriff gibt es ein Gedicht von Bertolt Brecht in den „Buckower Elegien“ [Nr. 11] DIE NEUE MUNDART. Es lohnt immer, sie zu lesen.

Hans-Jürgen Salier

Im Land der Anderen – Begegnungen mit dem Sozialismus in der DDR.

Salier Verlag
Mai 2020 – 283 Seiten, 14,90 €

Wovon Medien – themenunabhängig – leben

Unser Gehirn hat ein Problem: “WARUM” ist seine Lieblingsfrage. Und die Antwort erfolgt reflexhaft – seit Millionen Jahren. Was das für unsere Wahrnehmung und unser Zusammenleben bedeutet, damit befasst sich Kapitel 4 in “Der menschliche Kosmos”.

4. Kapitel

Mir nützt, was anderen schadet – das egozentrische Weltsystem
Wahrnehmung und Wahrnehmungsfehler des egozentrischen Weltsystems. Rollenspiele vor der Gaskammer. Mitleid und Schadenfreude als soziale Schmiermittel.
sündenbockDas älteste und unentbehrlichste Haustier des Menschen ist der Sündenbock.
Dieses Tier besitzt einige erstaunliche Eigenschaften: Es ist praktisch fast überall und jederzeit verfügbar, ohne dass es anwesend sein müsste. Seine Gestalt ist von unbegrenzter Mannigfaltigkeit: gerade war es noch der Nachbar mit seinem knatternden Rasenmäher, da nimmt es schon verallgemeinert die Form einer stinkenden, umweltzerstörenden Autolawine an, beschleunigt jäh bis zum Überschallknall eines Militärjets. Die Fratze der Kommunisten erscheint kurz im Abgasstrahl. Die Menschen schütteln noch die Fäuste gegen den Himmel, da plumpst der Sündenbock ihnen als Kohlendioxyd speiender amerikanischer Politiker vor die Füße. Der aber löst sich sofort in Nebel auf: „Die CIA!“ raunt es dunkel. „Die Illuminati“, grunzt der populärwissenschaftlich gerüstete Papa und greift zum Bier. Auf dem Bildschirm erscheint ein mit professoralen Weihen geadelter Sachverständiger und schickt sich an, den Schuldigen des jeweiligen Elends dingfest zu machen, aber plötzlich verlischt das Bild.
„Vanessa, du kleines Mistvieh, leg sofort die Fernbedienung auf den Tisch“, kreischt die Mama, es folgt das Geräusch eines schweren pädagogischen Missgriffs und das Geplärr jener kleinen, schwachen Figur, in die der Sündenbock gerade inkarniert ist.
Vom Sündenbock lässt sich nur eines mit Sicherheit sagen: er ist schuld. Niemand hat meines Wissens – und das grenzt in der Ära des quantifizierenden Denkens an ein Wunder – genau quantifiziert, wie viel Zeit Menschen im Laufe ihres Lebens mit der Jagd nach dem Sündenbock verbringen. Es ist sehr viel. Denn nicht nur die wirkliche Jagd – etwa auf den Pfuscher am Arbeitsplatz oder in der Verkehrsbehörde – frisst ja Zeit, auch die Beschreibungen, Analysen, Klassifizierungen seiner politischen, wirtschaftlichen, moralischen Erscheinungsformen müssen dazu gerechnet werden, seine Auftritte auf Bühnen, in Film, Funk, Fernsehen und Computerspielen, in Büchern und Zeitschriften. Genaugenommen sind wir mit wenig anderem so ausdauernd beschäftigt wie mit ihm, dem Sündenbock, oder anders gesagt, damit, Feindbilder zu zeichnen und Schuld zuzuweisen.
Weiterlesen in Abschnitt 2

Diktatur und Schwarmdummheit

AlbertEinstein_BriefmarkeTeil 3 des Vorworts von „Der menschliche Kosmos“. Zurück zu Teil 2

Die Physik erweiterte ihr Weltbild seit Beginn des 20. Jahrhunderts um Relativitäts– und Quantentheorie. Sie revolutionierte das wissenschaftliche Denken, Forschung und Technik, auch die Philosophie, vor allem aber die Informationstechnologie. Mit dem Boom der digitalen Kommunikation, der globalen Netzwerke und deren Allgegenwart verschoben sich Konkurrenzen um die Macht zwischen deren materieller und informeller Dimension. Wirtschaft und Politik, natürlich auch die ihnen hörigen Medien, folgen gewohnheitsmäßig aber den Mustern mechanischer Dominanz. Sie zeigen das Universum als ununterbrochene zeitliche Abfolge von Vorgängen, durch Ursache und Wirkung verknüpft. Der Mensch ist herausgehobenen Beobachter, der seine Sicht mittels immer besserer Instrumente zu einem „objektiven“ Bild, zur „objektiven Wahrheit“ vervollkommnet. In deren Besitz wähnte sich der Marxismus-Leninismus und beanspruchte die Weltherrschaft mit dem Versprechen, das Wohl der Menschheit mittels Planwirtschaft durchzusetzen. Leicht abgewandelt ersetzen heutige kollektivistische Bewegungen den „Godmode“ objektiver Erkenntnis durch die „Weisheit der Vielen“, „Schwarmintelligenz“ oder – so kurz wie kindisch – durch das simple „Wir sind mehr“.

Dieses Vorgehen hat sich in der Wechselwirkung zwischen Sinnen, Umgebung und Gehirn durchaus bewährt. Es hat der Menschheit und ihrem Instrumentarium enorme Erfolge ermöglicht – es hat sie allerdings auch an den Rand der Selbstvernichtung geführt. Die Frage „Warum“ ermöglichte, Krankheitserreger und „Schädlinge“ auszurotten, Schuldige zu identifizieren, zu bestrafen in der Hoffnung, andere Missetäter abzuschrecken. Die Masse folgte dem Rezept fast jederzeit, ohne sich über die Theorie dahinter und mögliche systemische Nebenwirkungen Gedanken zu machen. So ließen Ausrottungsfeldzüge – etwa mit Antibiotika – immer gefährlichere Krankheitskeime heranwachsen, manche „Schädlingsbekämpfung“ vergiftete die Umwelt bis zur Unbewohnbarkeit. Kriminalität ließ sich durch grausamste Verfolgung nie beherrschen, stattdessen zerstörten Denunziation, Folter, Lagerhaft Vertrauensgrundlagen der Gesellschaft. Der Zugriff auf die „Ursachen“ löste immer nur Teile eines Problems, indem mechanisch an „Stellschrauben“ gedreht wurde, was neue Probleme erschuf, gern als „Herausforderung“ beschönigt. Die Frage „Warum“ führt zu Antworten von sehr begrenztem Wert.

Wie wäre es, stattdessen öfter zu fragen „WOZU“? Genau das versucht dieses Buch.

In den vergangenen Jahrzehnten hat das Denken neue Bereiche eröffnet, es sind Begriffe wie „systemisch“, „vernetzt“, „ganzheitlich“ oder „komplex“ aufgekommen, ohne dass sie das Alltagsverhalten wirklich verändert hätten; oft sind sie nur Worthülsen, hinter denen sich tief eingewöhnte Denk- und Umgangsformen verbergen. Denn nach wie vor wird für fast jedes Problem nach einer „Ursache“ gesucht und für jeden Schaden nach einem Schuldigen – und ebenso oft geht es um die Macht: die informelle und materielle.

Wie ließe sich das Herangehen an komplexe Systeme verbessern? Ein paar Einsichten können helfen:

  • Auf die „wirkliche Vergangenheit“ haben wir keinen Zugriff, denn es gibt keine ZeitmaschineDelorean5Zeitmaschine, die ihn uns verschaffen könnte. „Vergangenheit“ – also jedes Ereignis in zurückliegender Zeit – lässt sich nur in Hervorbringungen unseres Gehirns „behandeln“, als Konstrukt, als Modell. Das Modell kann umfänglich sein und viele Details enthalten, wenn viele Gehirne an seinem Zustandekommen beteiligt sind – es bleibt ein Modell. Die vermeintlichen „Ursachen“ sind also ebenfalls Konstrukte. Das aber bedeutet, dass jede „Vergangenheit“ – jede Modellbildung überhaupt – unlösbar mit den Zielen desjenigen verbunden ist, der sie modelliert, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Es gab und gibt keine von Zielen menschlichen Lebens abgekoppelte „Objektivität“ – weder im Denken noch im Handeln.
  • Nirgendwo in unserer Umgebung gibt es irgendein System – und das gilt vor allem für lebende Organismen –, das existieren könnte, ohne in Bewegung zu sein. Das gilt für die „innere“ Bewegung, mit der das System seine charakteristische Form aufrechterhält und für die „äußere“ Bewegung, in der das System mit seiner Umgebung wechselwirkt. Es ist diese Bewegung, die wir als „Zeit“ wahrnehmen.
  • „Innere“ und „äußere“ Bewegungen sind verkoppelt und konkurrieren miteinander. Jedes einzelne System hat das Ziel, sich in Form und Funktion zu erhalten, das heißt, die für seine innere Bewegung nötige Energie zu erlangen und äußere Störungen zu vermeiden. Eine der wesentlichen Strategien ist, dass sich viele Individuen – oder einzelne Zellen – zusammenschließen zu Schwärmen – bzw. neuen Organismen. Deren Form und Funktion ist nicht mehr durch einfache Ursache-Wirkungs-Schemata von der einzelnen Zelle – vom Individuum – abzuleiten.

Anschauliche Beispiele sind Schwärme von Fischen und Vögeln oder Pseudoplasmodien, Vielzeller, die sich schneckenhaft fortbewegen. Darin haben einzelne, zuvor amöbenhaft lebende Zellen einer bestimmten Art von Schleimpilzen die selbständige Existenz aufgegeben, wurden ununterscheidbare Teile eines „Metasystems“ mit qualitativ völlig anderen Erhaltungsstrategien und Bewegungsmustern als die Teilorganismen. Menschenmassen können „Schwarmqualität“ erreichen. Physisch ist das bisweilen in Zeitrafferaufnahmen sicht-, im Stadiongeräusch hörbar. Die Kommunikationskanäle, deren es dazu bedarf, sind ein Hauptthema, dieses Buches.

  • Es gibt kein System, das von Wechselwirkungen unabhäng existiert, und diese Wechselwirkungen lassen sich von den Erlangungs- und Vermeidungsstrategien aus – also den Zielen der wechselwirkenden Systeme – statt von deren „Vergangenheit“ („Ursachen“) aus betrachten.

Diese veränderte Art, Menschen und ihre Umwelt anzuschauen, erscheint zunächst mindestens irritierend, wenn nicht unlogisch. Das liegt aber einfach daran, dass fast jeder mit Begriffen wie „Vergangenheit“ und „Ursache“ verwachsen ist – genauso selbstverständlich, wie sein Gehirn „kopfstehende“ Bilder von der Netzhaut umdreht. Es ist ein winziger Teil einer ungeheuren, andauernden, unzertrennlichen und komplexen Zusammenarbeit zwischen Körper, Gehirn und Welt.

Fortsetzung (Teil 4 und Schluss des Vorworts)